Sobald moderne
Zeitgenossen anfangen, Standpunkte auszutauschen, die eine gewisse
Allgemeingültigkeit beanspruchen, sei es in Talkshows, auf Podiums-dikussionen
oder privater Ebene, wird es absurd. Beispiel:
A: "Ein
beeindruckender Film! Der Drehbuchautor trifft den Nagel auf den
Kopf."
B: "Wie? Gar
nicht! Das war doch absoluter Blödsinn."
A: "Hm, mag ja
sein, daß das, was Du gesehen hast bzw. Du für Dich daraus ziehen
konntest, nicht gilt; meiner Meinung nach ist das aber eine richtige
Darstellung."
Dieser
so auf den Buchstaben "A" reduzierte Mensch macht einen
Fehler, der in der Erkenntnistheorie unter dem Stichwort
"subjektive Wahrheit" verhandelt wird. Der Fehler besteht
darin, nicht wahrhaben zu wollen, daß die Gültigkeit eines
Gedankens, eines Urteils, ohne Ansehen der Person besteht oder eben
auch nicht besteht. Ein erstes Indiz dafür: Wäre "B"
sonst auf die Idee gekommen einen Streit anzufangen? Das Bedenkliche
an der Sache ist, daß dem ersten das Begehen seines Fehlers gar
nichts ausmacht; er will ihn sogar gerne machen! Er hält es allen
Ernstes für einen Ausdruck seiner Persönlichkeit. Über die damit
verbundenen Peinlichkeiten soll es im folgenden gehen.
Zum Inhalt des
Fehlers
Der
Fehler besteht schlicht darin, die Objektivität des Gedankens zu
leugnen. Jeder Gedanke – die Rede ist hier von Gedanken, die überhaupt
von allgemeinerem Interesse sind, von Gedanken allgemeinen Inhalts,
die in der Form des Urteils gedacht werden – ist objektiv. Das
ist kein Dogma eines widerlichen Besserwissers, sondern die einfache
Feststellung der Tatsache, daß die Verbindung eines Satzsubjektes
mit einem Prädikat durch ein im Indikativ stehendes Zeitwort –
sei es die Kopula "ist", sei es ein das Prädikat bereits
teilweise enthaltendes Verb – nicht mehr oder weniger behauptet,
als daß der Zusammenhang der genannten Inhalte allgemein
besteht. Beliebige Beispiele: "Das Element Uran ist
radioaktiv.", "Erich Wulff ist der Begründer der humanem
Psychiatrie." Unabhängig davon, wer sich von der Wahrheit
dieser Gedanken überzeugen läßt und unabhängig davon, ob die
Urteilenden in ihrem tiefsten Inneren selbst daran glauben: Diese
Gedanken sind, durch den Modus des Indikativs, objektiv ,
d.h. z.B. daß der besagte und inzwischen betagte Herr Wulff mit dem
Begründer der humanen Psychiatrie identisch sind, sie sind als
identische Inhalte gesetzt. Und mehr kommt in diesem Satz überhaupt
nicht vor: Der Mensch, der für diesen Satz verantwortlich ist,
kommt in ihm selbst weder mit seinem Geschmack noch mit seinem
Verstand vor; er kommt nämlich überhaupt nicht vor.
So
verhält es sich mit jedem Urteil. Das urteilende Subjekt kommt in
seinem Urteil nicht vor, auch wenn es sich noch so sehr darum bemühen
mag – es urteilt eben, mehr nicht. Auch wenn es über sich redet,
so ist es eben der Gegenstand über den es urteilt – auch
da hat sein Urteil die Form der Allgemeinheit, und es geht es selbst
nichts an, von wem es kommt. Umgekehrt hätten das die Deppen der
modernen Kommunikation gerne so und können nicht umhin, jedes
Urteil mit einer einleitenden Phrase, wie "ich finde, meine,
ich empfinde es so, vielleicht könnte man es auch so sehen,
..." zu versehen. Alle Anstrengungen dieser Art müssen
erfolglos bleiben und rettet sie nicht vor der dann stets folgenden
Objektivität: Nach diesen Einleitungsfloskeln folgt nämlich regelmäßig
ein "daß"-Satz, der – genau – ein Urteil enthält!
Und dieses Urteil, um das es ja einzig geht, enthält wieder nichts
vom Subjekt.
So
kommt es ironischerweise dazu, daß jeder, und sei er privat noch so
bescheiden, kaum daß er einmal über etwas spricht, Objektivität
beansprucht, ob er will oder nicht.
Die Objektivität
der Wahrheit und ihrer Begründung
Nun
ist damit, daß man sich ein Urteil ausdenkt und als Feststellung
verkündet, natürlich noch nicht verbürgt, daß es auch wahr ist.
Behaupten kann schließlich jeder etwas. Nachdenken ist also
angesagt. Im Nachdenken werden nicht nur Satzsubjekt und Prädikat,
sondern deren verschiedene Bestimmungen miteinander ins Verhältnis
gesetzt. In dieser Geistestätigkeit wird man sich darüber klar,
welche Verhältnisse hier im einzelnen bestehen. Die Begründung
eines Urteils erfolgt dann aufgrund des Wissens um die
Beschaffenheit dieser Verhältnisse. Bei alledem kommt wiederum, wie
man sieht, das denkende Subjekt weit und breit nicht vor, außer
eben insofern es denkt. Die Begründung ist – objektiv. Übrigens
auch, wenn sie falsch ist. Dann ist sie eben objektiv falsch.
Das Recht auf
eine persönliche Meinung - oder: das Recht auf Einbildung
Eigentümlicherweise
wollen die Anhänger der subjektiven Wahrheit den – zugegeben häufig
mühsamen – Weg des Nachdenkens nicht beschreiten. Dennoch
bezeichnen sie ihre so gefaßten Gedanken, als, wenn auch nur für
sie, so doch wahr und gültig - und zwar einzig und
allein aufgrund der Tatsache, daß sie sie denken und für
gut befinden. Das Ansinnen, solche Gedanken auf die Verstandesprobe
zu stellen, weisen sie zurück, denn ihre Überzeugung ist, daß sie
ein Recht haben, eigene Anschauungen nicht nur mal lustig in
den Raum zu stellen, um bei einer Widerlegung damit aufzuräumen,
sondern für sich privat als allgemeine zu behaupten .
Ein
merkwürdiges Recht. Denn erstens will ja niemand solchen Menschen
dieses Recht ernsthaft nehmen: einbilden darf sich schließlich
jeder was. Denk doch was Du willst, möchte man ihnen sagen, solange
Du andere damit nicht behelligst… Zweitens ist der Wille sich
dieses Rechts zu erfreuen, der Wille zu einem Widerspruch: Für gültig
halten wollen sie ihre Ansichten schon, und daran glauben, daß
es sich so verhält; aber die so erstrebte Gewißheit will
nicht wissen , ob es so ist. Diesen hammerharten
Widerspruch muß ein Parteigänger der subjektiven Wahrheit stets
aufs neue reproduzieren. Und es ist eine Anstrengung, immer wieder
seinen soeben geäußerten Gedanken, der für jedermann zur
Beurteilung freigegeben ist, mit dem Dunst des Privaten zu umhüllen,
um so zu tun als ob nichts gewesen wäre – "ich meinte ja nur
so...".
Daß
die Leut´ nicht müde werden ihre Gedanken gleichzeitig als private
und allgemeine zu behaupten rührt daher, daß sie ihre Gedanken liebgewonnen
haben. Aber wie geht das eigentlich? Schließlich sind sie weder
nett, noch höflich oder schön. Nein, man kann sie einzig
liebgewinnen, weil sie einem vertraut sind, eine vertraute
Sicht (!) der Dinge darstellen. Denn vertraut sein, kann man
freilich auch mit dem größten Unsinn . Wen es nicht mehr stört,
daß seine Gedankenwelt mit Schwachsinn durchwachsen sein könnte, will
mit seinem Verstand nichts mehr anfangen; um gehässig zu
werden: so jemand hat wahrscheinlich die Tatsache (an sich selbst)
nachvollzogen, daß in diesem schönen Lande nach dem Kriterium der
Vernunft, der Wahrheit hundertprozentig nichts läuft. Das nun aber
an sich selbst zu exekutieren ist doch nochmal ein eigener Schritt.
Man begreift dann den Verstand nicht mehr als das Mittel der eigenen
praktischen Freiheit sich erst einmal in der merkwürdigen Welt, in
der man lebt auszukennen, um die begriffenen Lebensbedingungen
entsprechend der Zuträglichkeit für einen selbst zu behandeln,
sondern als das Instrument einer Einsichtnahme in die Welt, die von
vornherein folgenlos bleiben soll. Anders: Man betrachtet den
Verstand nicht als Mittel, die Welt zu begreifen und zu verändern
, sondern nur noch um sie zu interpretieren . Dann kommt
es natürlich nicht mehr darauf an, ob man sich beim Denken täuscht
oder nicht, sondern darauf, daß die Einsichtnahme in die Welt zu
einem Selbstwert wird und als solche dem Subjekt etwas bringt.
Wenn das Subjekt schon nichts von seiner Einsicht hat, so will
es wenigstens eines: sie genießen . So verurteilt sich der
vormals freie Geist zur Existenz als Schöngeist.
Insofern
will der Schöngeist, der seine subjektive Wahrheit schätzt, diese
auch als Wahrheit über sich , das Subjekt, verstanden
wissen. Indem er zwar etwas gesagt, aber nichts Objektives
festgehalten haben will, läßt er den Gedanken nicht mehr nach der
Seite des Inhalts, sondern seines Urhebers interessant werden. Die
Ansichten über den Weltenlauf und seine Prinzipien, werden zum Ausdruck
der Persönlichkeit. Reichlich irrational ist das schon, denn
"Persönlichkeit" hat in diesem Zusammenhang gar keinen
anderen Inhalt als die Summe seiner Ansichten. Er hat sie sich aber
– und zwar im Prinzip völlig wahllos – selbst ausgesucht und
dennoch sollen diese die Quelle der Persönlichkeit ausmachen und in
derselben ihr Maß haben?!
Die
Ansichten werden zur Überzeugung und als ideale Erhöhung
zur Wahrhaftigkeit: Das Subjekt sieht seinen Wert darin, daß
es beim Urteilen sich selbst treu bleibt, und sonst niemandem. Und Authentizität
ist ein Wort mit Konjunktur.
Der Lohn des
Rechts auf Einbildung
Was
hat man also von seinem Recht auf subjektive Wahrheit? Erstens eine
eingebildete Freiheit: die Freiheit, nach Laune urteilen zu dürfen.
Und zweitens eine eingebildete Pflicht: die Bindung des Subjekts an
die Aufgabe, durchgängig es selbst zu bleiben. Mehr Gehalt hat die
subjektive Wahrheit nicht.
Übrigens:
es ist immer noch der Verstand den man sich so hält. Und es sind
immer noch Urteile, die er produziert. Immer noch ist es an sich
Wissen, was man da als Geschmacksfrage behandelt!!
P.S.
Gibt es denn nun eine objektive Wahrheit? Natürlich nicht, denn der
pure Gegensatz eines Fehlers ist erst recht einer. Die objektive
oder absolute Wahrheit ist das passende idiotische Gegenbild zur
subjektiven, nämlich die Vorstellung einer unabhängig vom
menschlichen Verstand festgelegten und bestehenden Wahrheit. Das wäre
dann höherer Blödsinn…
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