Nationale Identität bezeichnet
eine eigentümliche Erklärung des Bekenntnisses zu einem Vaterland.
Es handelt sich um die Behauptung, daß Menschen nicht (bloß) infolge
äußeren Zwangs und nicht etwa (bloß) aus politischen Berechnungen
ihres theoretischen und prakti-schen Vorteils unter einer bestimmten
nationalen Aufsicht leben und leben wollen – sondern deswegen, weil
sie zu einem jeweils besonderen Schlag von Menschen gehören, mit dem
sie gewisse Eigenschaften teilen. Unabhängig vom besonderen und
wechselhaften politischen Willen eines Bürgers soll es einen
natürlichen Volkscharakter geben, der nicht nur zum Anschluß
an seinesgleichen drängt, sondern gleich zur Unterordnung unter
dieselbe – eben die eigene, nationale – politische Gewalt.
„Nationale Identität“ ist also
eine moderne rassistische Formel für die Unabweisbarkeit des
Nationalismus; ein Dogma, das zwar keinen Beweis kennt, dafür aber
einige Belege. Sie sollen die ursprüngliche, „vor-staatliche“
Gemeinsamkeit illustrieren, welche eine Anzahl Menschen zum Volk
macht, selbst und gerade dann, wenn sie nicht das Volk eines (und
desselben) Staates sind.
Der
Beleg Nr.1: gemeinsame Sprache
zeigt allerdings gleich das
einfache Umdeutungsverfahren, nach dem diese Indizien gewählt sind:
Gemeinsamkeiten, die aufgrund eines durchgesetzten staatlichen
Interesses entstanden sind, werden als vorpolitische Eigenheiten
ausgegeben, welchen der Staat Rechnung zu tragen hätte. Eine
Nationalsprache ist schließlich nicht die natur-wüchsige Entfaltung
der ursprünglich gesprochenen Dialekte, sondern ein Kunstprodukt der
politischen Herrschaft; mal eine „Hochsprache“, als Einheitssprache
innerhalb des Herrschaftsgebietes durchgesetzt; mal eine
„Amtssprache“, als dienstliches und geschäftliches Verkehrs-mittel
eingeführt und ohne Rücksicht auf die zufälligen örtlichen Idiome
gewählt.
Fragt sich ferner, welche
„Identität“ damit gebildet sein soll. Es gibt kein einziges
gemeinsames Interesse, das aufgrund einer gemeinsamen Sprache
zwischen denen entstehen würde, die sie sprechen. Ob sie dieselben
oder verschiedene Anschauungen und Ziele haben, hat mit ihrer
Sprache nichts zu tun – die steht unterschiedslos jedem zur Kundgabe
seiner Gedanken zur Verfügung, der sie beherrscht. Daß umgekehrt von
der Gemeinsamkeit derselben Sprache alle Gegensätze und Unterschiede
bedeutungslos würden, ist ein grober Schwindel und bloß für den
plausibel, der verlangt, daß neben der „nationalen Identität“ alle
sonstigen Interessen zu schweigen haben.
Beleg Nr.2: gemeinsame Kultur
Hat einen ähnlichen Haken. Wenn
Kunstwerke als nationale Kulturgüter gelten, kann das weder an den
Kunstprodukten an sich liegen – Noten und Reime tragen schließlich
keine Nationalfarben; noch daran, daß sie allgemein gefallen –
Geschmacksurteile sind bekanntlich subjektiv und richten sich nicht
nach der Herkunft eines Kunstwerks. Daß Kunst, die ansonsten immer
Ausdruck des Individuellsten des Individuellen sein soll, dennoch
wie kollektives Eigentum angesehen wird, verdankt sich eben wiederum
einem staatlichen Interesse. Denn mit de Verein-nahmung geistiger
Produkte will die Staatsgewalt selbst am Geistigen partizipieren und
sich darin hochleben lassen. Deshalb sorgt sie auch dafür, daß das
Volk „seine“ Dichter & Denker zumindest dem Namen nach kennt. Es
wird darin unterrichtet, die Kunstgeschichte durch die nationale
Brille zu sehen und „große Werke“ als Gegenstand des Nationalstolzes
zu memorieren . auch und gerade wenn es künstleri-sche Neigungen von
sich aus nicht hat oder seine Unterhaltungs-bedürfnisse anderweitig
deckt.
Beleg Nr.3: gemeinsame
Geschichte
ist noch weniger ein Grund zur
Vaterlandsliebe. Wer sie als einigendes Band beschwört, meint ja
ohnehin nicht die vergangenen Manöver vorstaatlicher Jäger und
Sammler, sondern die politischen Errungen-schaften, die der
gegenwärtige Staat und seine Rechtsvorgänger vorweisen können – und
deren Durchsetzung in der Regel eine Geschichte kleiner und größerer
Metzeleien war, in denen die politi-schen Verfahren der heutigen
Untertanen Leben und Gesundheit gelassen haben. Die gegenwärtige
Bevölkerung wiederum soll diese Geschichte nicht etwa als für sie
schädlichen Fehler betrachten, sondern als die Stiftung einer
Schicksalsgemeinschaft. Für die kann man Stolz oder auch Scham
empfinden – jedenfalls ist sie aber als bedingungslos gemeinsame
Sache zu denken, die vollständig unab-hängig von jedem individuellen
Interesse nationale Rechte und Pflichten umfaßt.
Was damit jeweils gemeint ist,
legt schon die Politik selbst fest. Ob es innenpolitische
Verfügungen und Verhältnisse sind oder außenpolitische Ansprüche auf
die Ressourcen anderer Nationalstaaten: Sache des Volkes ist es, die
politischen Unternehmungen seiner Herrschaft als nationale Anliegen
zu begreifen und sich mit ihnen zu identifizieren. Dafür ist es
allemal erforderlich, den kleinen Gegensatz zwischen oben und unten,
Herrschaft und Untertan, Staat und Bürger vergessen zu machen.
Gelingt das dem Volk, dann kann sich sein Staat auf es als seinen
höheren Auftraggeber berufen. Der verlangte Gehorsam erscheint dann
nicht mehr als Unterwerfung unter seine Gewalt, sondern als Ausdruck
von Volkes Wille. Und je größer die nationalen Aufgaben, desto
hilfreicher ist dabei die Vorstellung eines Volkswillens, der als
zweite Natur im Bürger wohnt, ob er das ausdrücklich will oder nicht
– eben die „nationale Identität“, die seinen Staat ins Recht setzt.
Ein paar Gemeinsamkeiten zum Beleg dieser Ideologie finden sich
schließlich immer.
|