Russisches Roulette kennt jeder und kein gesunder Mensch würde es spielen wollen. Trotzdem spielen wir jeden Tag eine seiner Varianten – russisches Lotto.
Pech & Glück…
Jeder Lottospieler malt sich eine realistische Chance auf den großen Gewinn aus, schließlich kann man spätestens alle paar Wochen in den einschlägigen Gossenfachzeitschriften zuverlässig eine neue immergleiche Geschichte von frischgebackenen glücklichen Lottomillionären lesen – da können doch die Millionen unmöglich immer an einem selbst vorbeigehen. Beim Lotto, aber auch allen anderen erwünschten Zufällen, steht also die gefühlte persönliche Gewinnchance im krassen Gegensatz zur tatsächlichen. Wieso kann es dann aber sein, dass regelmäßig irgendjemand gewinnt, obwohl man realistischerweise nie im Lotto gewinnen kann? Die Antwort liegt in der schieren Masse an Spielern. Ein einzelner Spieler hat im Lotto 6 aus 49 (ohne Superzahl) eine Gewinnchance (klein p) von rund 1 zu 14 Millionen, also praktisch nie:
p = 1 zu 6 aus 49 Möglichkeiten
= 1 : (49! / (6! * (49 – 6)!)) = 1 : 13983816
= 7,15 * 10-8
Die Chance, dass von all den vielen Mitspielern irgendeiner gewinnt (groß P), lässt sich über einen Zwischenschritt, das sogenannte Gegenereignis „keiner gewinnt“ (Pkeiner), bestimmen:
P = 1 – Pkeiner
Diese Gegenwahrscheinlichkeit Pkeiner lässt sich wiederum aus der Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht gewinne (pnicht) und der Anzahl der Mitspieler berechnen. Die Formel ist dieselbe wie beim Würfeln. Eine Sechs würfelt man mit einer Chance von 1/6, zwei Sechsen mit 1/6 * 1/6 = (1/6)2 = 1/36. x-beliebig viele Sechsen hintereinander bekommt also man mit einer Chance von (1/6)x. Somit erhält man:
Pkeiner = pnichtMitspieler
Meine eigene Verlustchance (pnicht) ist ebenfalls das Gegenereignis dazu, dass ich gewinne (p):
pnicht = 1 – p
Somit ist der Zusammenhang zwischen meiner Chance zu gewinnen (klein p) und der Chance, dass irgendjemand gewinnt (groß P), hergestellt und kann in einer Formel zusammengefasst werden:
P = 1 – (1 – p)Mitspieler
Bei 10 Millionen Mitspielern ergibt sich somit eine Chance von 51%, dass irgendjemand gewinnt, also im Schnitt bei jeder zweiten Ziehung gibt es mindestens einen mit 6 Richtigen. Kein Wunder, dass es dauernd Lottomillionäre gibt und ich trotzdem nie gewinne. Soweit so gewöhnlich und jeder Mensch, der mal in der Schule mit Wahrscheinlichkeitsrechnung „gequält“ wurde, hat genau diese Formel einmal ausrechnen müssen.
Transfer…
Nur wer hat je darüber nachgedacht, dass diese Formel nicht nur auf das „harmlose“ Glücksspiel Lotto zutrifft, sondern auch eine Menge über Pech, Katastrophen und die menschliche Zivilisation ganz allgemein aussagt?
Jeder mögliche Fehler, jedes mögliche Unglück tritt irgendwann ein, wenn man es nur oft genug riskiert. Dazu gibt etliche Möglichkeiten: Entweder wartet man hinreichend lange oder man setzt sich parallel demselben Risiko mehrfach aus. Und wenn man lange genug wartet und gleichzeitig sich mehrfach demselben Risiko aussetzt, dann werden selbst extrem unwahrscheinliche Unglücke plötzlich wahrscheinlich.
So hatte man nach dem Ausbruch des Eyjafjallajökull 2010 in ganz Europa den Flugverkehr eingestellt. Von einem Flugzeugabsturz wegen der Asche direkt betroffen zu sein war extrem unwahrscheinlich, selbst dass es eine bestimmte Fluggesellschaft traf war recht unwahrscheinlich, weswegen auch viele lauthals über Panikmache gezetert haben. Nur dass bei den vielen Fluggbewegungen pro Tag irgendein Flugzeug aufgrund der Asche abstürzen konnte, dieses Risiko war eben nicht mehr vernachlässigbar klein und kein besonnener Politiker nimmt ein vermeidbares erhöhtes Risiko eines Absturzes auf sich. Die Entscheidung war somit rational richtig.
…mit den Zahlen der Kernkraftlobby
Bei Kernkraftwerken hingegen waren vor Fukushima größtenteils dieselben Leute der Ansicht, dass Super-GAUs nur bei sprichwörtlich sowjetischer Schlamperei auftreten können, die westlichen und insbesondere die deutschen Kernkraftwerke die sichersten auf der Welt seien (abgesehen davon, dass nach nach Fukushima jedes Land, auch Russland, diesen Spitzenplatz für sich lautstark beansprucht), sodass nach Ansicht der Kernkraftwerksbefürworter (nicht Gegner!) nur etwa alle 33’000 (Wert der GRS für deutsche AKWs) bis 1 Million Jahre (Wert der IAEO für den im Bau befindlichen EPR) ein nicht mehr beherrschbarer Unfall sprich Super-GAU eintreten könne und somit praktisch ausgeschlossen sei.
Aber stimmt das? Die genannten Zahlen gelten pro Jahr pro Reaktor: Fast jedes Atomkraftwerk hat mehr als einen Reaktor und jedes in Betrieb befindliche Atomkraftwerk läuft viele Jahre – dank der nicht nur in Deutschland beschlossenen Verlängerung der AKW-Laufzeiten sogar noch viele Jahre länger. Derzeit sind 442 Reaktoren weltweit in Betrieb und die Kernkraft wird seit 1954 zur Stromerzeugung genutzt. Nimmt man nun all diese Zahlen und macht noch die zusätzliche vereinfachende (und im übrigen die Risiken der Kernkraftnutzung verharmlosende) Annahme, dass all die Reaktoren seit 1954 ununterbrochen in Betrieb wären, dann ergibt sich mit den oben genannten Zahlen die Wahrscheinlichkeit für einen Super-GAU irgendwo auf der Welt bis Ende 2010 wie folgt:
Pirgendwo = 1 – (1 – pReaktor)(Jahre * Reaktoren)
= 1 – (1 – pReaktor)24752
Für pReaktor = 1 : 33’000 Jahre (westliches Kernkraftwerk) ergibt sich:
Pirgendwo = 1 – (1 – 1:33000)24752 = 0,528 = 53,8%
Für pReaktor = 1 : 1’000’000 Jahre (im Bau befindlicher EPR) ergibt sich:
Pirgendwo = 1 – (1 – 1:1000000)24752 = 0,024 = 2,4%
Wenn also alle Reaktoren auf dem angenommenen Sicherheitsstand der westlichen Kernreaktoren wären, ist die Frage „Super-GAU innerhab von 50 Jahren ja oder nein“ so wahrscheinlich wie Kopf oder Zahl beim Münzwurf, also eindeutig ein unverantwortliches Risiko. Selbst wenn heute alle Reaktoren auf einen Schlag durch einen EPR ersetzt würden und keine zustätzlichen Atomkraftwerke gebaut würden, der Stromhunger der Welt also nach wie vor nicht durch Kernkraftwerke gestillt würde (2008 betrug ihr weltweiter Anteil an der Stromerzeugung 13%), wären 2,4% immer noch ein beunruhigend hohes Risiko. Selbst dann, wenn man den Weltstrombedarf durch den EPR decken würde, wären also weitere Super-GAUs im 21. Jahrhundert trotz enormer Sicherheitsanstrengungen vorprogrammiert.
Herausforderung des Schicksals
Nur bis dato hat es in diesen 56 Jahren statt einem „halben“ bereits zwei Super-GAUs und eine Vielzahl weiterer Kernschmelzunfälle bis hin zum Fast-Super-GAU in Three-Miles-Island gegeben, ganz zu schweigen von gravierenden Unfällen in Wiederaufbereitungsanlagen, Uranbergwerken… von militärischer Nutzung garnicht zu reden.
Wenn man also großzügig nur diese zwei Super-GAUs in 56 Jahren berücksichtigt und wieder die kernkraftwerksfreundliche Annahme trifft, alle Reaktoren wären 1954 auf einen Schlag in Betrieb gegangen, kann man damit eine äußerst optimistische Obergrenze des tatsächlichen Risikos des GAUs eines einzelnen Reaktors abschätzen:
pReaktor = Anzahl Super-GAUs / (Jahre * Anzahl Reaktoren)
= 2 / (56 * 442) = 8,08 * 10-5 = 1 : 12’000
Sprich im allergünstigsten Fall explodiert ein Kernreaktor alle 12’000 Jahre. Wenn selbst diese optimistische Risikoabschätzung bei weitem unter den Werten der GRS liegen, kann der technische Fortschritt selbst eines EPRs nie und nimmer bei vollkommen haltlosen (und trotzdem immer noch unvertretbaren) 1 zu 1 Million sein und die neulich vom Bundesumweltminister Norbert Röttgen geäußerten 1 zu 10 Millionen für bestehende deutsche Reaktoren liegen gänzlich im Reich der Phantasie.
Es ist somit eine unumstößliche Tatsache und keine Panikmache von Ökospinnern:
Wenn die Welt nicht schleunigst alle Atomkraftwerke abschaltet, werden wir definitiv mindestens einen weiteren Super-GAU erleben. Heiße Kandidaten sind die USA, Frankreich, Japan, Russland, Großbritannien, Indien, China, Deutschland…