von Adrian Lobe

Corona, deine Bilder


Die Corona-Pandemie schuf bisher wenige, aber drastische Bildikonen: Militärlaster, die Särge abtransportieren oder intubierte Menschen, die nach Luft ringen. Umso wichtiger ist ein reflektierter und verantwortungsvoller Umgang der Medien mit solchen Motiven in einer ansonsten bilderarmen Krise. Das gelingt nicht immer.

In der Nacht des 18. März 2020 fuhr ein Konvoi von Militärlastwagen im norditalienischen Bergamo die Särge von 70 Corona-Toten aus der Stadt. Die lokalen Leichenhallen waren überfüllt. Die gespenstischen Bilder mit der nächtlichen Fahrzeugkolonne gingen um die Welt – und lösten Entsetzen aus. Das Virus, das einige Wochen zuvor noch weit weg zu sein schien, war plötzlich da. Aus einer abstrakten wurde eine konkrete Gefahr. Die «Bilder aus Bergamo» haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt – und sind zur Ikonographie der Corona-Pandemie geworden.

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Bergamo reiht sich in eine historische Kontinuität ein. Jede Krise produziert ihre eigenen ikonographischen Bilder. Beim Berliner Mauerbau war es der DDR-Grenzsoldat, der über den Stacheldraht von Ost- nach West-Berlin springt («Sprung in die Freiheit»). Beim Vietnam-Krieg war es das «Napalm-Mädchen». Und bei 9/11 waren es die einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center. Zur Corona-Krise gibt es jedoch keine globale Ikonographie. Für die Pandemie fehlen uns nicht nur die Worte, sondern auch die Bilder.

Der Journalist Lenz Jacobsen schrieb in einem Artikel für «Zeit Online»: «Im Krankenhausbett wird weniger spektakulär gestorben als im Krieg. Es gibt Kriegsfotografen, aber keine Krankheitsfotografen. Man mag das zynisch finden, aber eine Erschiessung lässt sich leichter in einem Bild einfangen als langsames Dahinsiechen, ein einzelnes Ereignis ist fototauglicher als ein andauernder Verlauf.» Die meisten Covid-19-Opfer sterben nicht öffentlich, sondern privat, beobachtet Jacobsen. «Nicht auf dem Schlachtfeld, sondern hinter den Türen der Pflegeheime, Krankenhäuser, Wohnungen.» Im Gegensatz zu Kriegen oder Terroranschlägen, die eine Dramaturgie und Höhepunkte besitzen, gebe es bei einer Seuche keinen Anfang und kein Ende, so Jacobsen. Das mache es schwer, «schlüssige Erzählungen und Bilder» für die Pandemie zu finden. Sie widersetze sich der «konventionellen Dramaturgie».

Doch so erhellend diese Diagnose ist, so entlarvend ist sie für den Medienbetrieb:

Soll man das kollektive Sterben als Spektakel inszenieren? Wie bebildert man eine Pandemie, die im Gegensatz zu Krieg und Terror keine Bilder frei Haus liefert?

Wie schafft man eine Bildersprache, die nicht dramatisiert, aber auch nicht verharmlost?

«Die Leserin will nicht bereits beim Morgenkaffee mit Bildern aus der Intensivstation versorgt werden, schliesslich gibt es doch auch positive News, warum muss die Welt denn immer so schrecklich sein?», fragte Jann Jenatsch, stellvertretender Geschäftsführer der Bild- und Presseagentur Keystone-SDA, kürzlich in einem Interview. «Damit die Abonnentin nicht abspringt, wird also lieber ein nichtssagendes Symbolbild eingesetzt, zumindest ein Bild, das Hoffnung verspricht: eine spitze Spritze in weichem Licht, sanft und schmerzlos.» Trotz der subjektiven Sicht des Fotografen sei «das oberste Gebot die faktische Information», da sei die «Toleranz gegenüber (nicht ausgewiesenen) Inszenierungen ebenso klein, wie eine ästhetische Überhöhung». Auch Voyeurismus habe in der Dokumentation von Corona-Erkrankten keinen Platz. Dass es anfänglich kaum Bilder aus Intensivstationen gab, liegt auch daran, dass Fotografen aus Infektionsschutzgründen der Zugang verwehrt wird.

Der Lörracher Intensivpfleger und Fotojournalist Fabian Fiechter hat die Behandlung schwerkranker Covid-19-Patienten dokumentiert (u.a. im Basler Kantonsspital). Der FAZ sagte er: «Man braucht emotionale, authentische Bilder, damit die Bevölkerung sieht, wie real Covid-19 ist, dass wir alle davon betroffen sind, dass wir aber helfen können.»

Im vergangenen Sommer, als die Menschen einigermassen sorgenfrei Urlaub machten und die Bilder aus Bergamo allmählich verblassten, sah man immer häufiger drastische Bilder: Patienten, die an Schläuchen hängen oder unter Plexiglaskugeln nach Luft ringen. Pfleger in apokalyptisch anmutenden Schutzanzügen, die aus Erschöpfung zusammenbrechen. Angehörige, die um ihre Verstorbenen trauern. Die Frage lautet:

Braucht es diese Dramatik, um den Menschen den Ernst der Lage zu vermitteln? Wie weit darf die Bildproduktion gehen, um in einer Aufmerksamkeitsökonomie Beachtung zu finden?

In der Flüchtlingskrise gab es eine medienethische Debatte darüber, ob man das Bild des toten Alan Kurdi zeigen darf, jenes dreijährigen Jungen, der an die türkische Küste angespült und von einem Polizisten geborgen wurde. Während das bedrückende Bild auf Social Media viral ging, entschieden sich Redaktionen wie die «Süddeutsche Zeitung», es nicht zu zeigen.

«Dramatische Bilder haben die Macht, Diskussionen zu drehen, weshalb Populisten jeder Couleur sie zu missbrauchen versuchen», begründete der damalige Chefredakteur Stefan Plöchinger (heute Ottlitz) von «Süddeutsche.de», die redaktionelle Entscheidung. «Ist es tatsächlich so, dass Menschen dem Tod erst ins Auge sehen müssen, um das tödliche Potenzial politischer Entscheidungen zu verstehen?»

Die Entscheidung ist konsequent. Doch lässt sie sich verallgemeinern? Natürlich macht es in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unterschied, ob ein totes Kind an der Isar oder an der türkischen Ägäis aufgefunden wird. «Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen bekommen», schrieb Susan Sontag in ihrem Essay «Das Leiden anderer betrachten» (2003). Damit bekräftigten diese Bilder, so Sontag weiter, dass solcher Schrecken nur weit weg von uns vorkomme.

Wenn wir also in der aktuellen Corona-Krise kaum Bilder von Toten sehen, könnte das auch damit zusammenhängen, dass sich die Tragödien direkt vor unserer Haustür abspielen.

Und das will man dann doch lieber nicht so genau sehen.

Sinnbildlich für diese kollektive Blindheit ist der Fotojournalismus der Boulevard-Presse: Als im März 2020 in Manhattan der erste Covid-19-Fall gemeldet wurde, zeigte das konservative Boulevardblatt «New York Post» auf Twitter das Foto von asiatisch aussehenden Menschen mit Maske – und illustrierte damit Trumps rassistische Behauptung vom «chinesischen Virus».

Mit dieser Fiktion wurde dem (weissen) Leser suggeriert, dass das Virus noch immer weit weg sei und allenfalls in der asiatischen Minderheit grassiere. Das ist insofern bemerkenswert, als der zu einer schrillen und alarmistischen Bildersprache neigende Boulevard hier beschwichtigt und die Gefahr herunterspielt. Demgegenüber hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch schon die Rolle des Mahners übernommen: So sah man am 23. März im ZDF «heute journal» kritische Momente im Alltag von Intensivstationen wie beispielsweise das Umlagern schwer erkrankter Corona-Patienten.

Die Kunsthistorikerin Sarah Elizabeth Lewis hat in einem eindringlich formulierten Beitrag in der «New York Times» («Where Are the Photos of People Dying of Covid?») einen politischen Auftrag an die Produktion von Bildern formuliert: «Bilder, die als Emblem eines Opfers oder Konsequenz auftauchen, haben die Massen häufig zum Handeln bewegt. Aber ohne diese Bilder ist das Virus härter zu bekämpfen.» Der Gedanke dahinter:

Nur wenn es krasse Bilder von Massengräbern oder Ähnlichem gibt, kann die Politik harte Massnahmen beschliessen und dafür Akzeptanz bei der Bevölkerung finden.

Doch kann es die Aufgabe des Journalismus sein, Menschen zu warnen, sie gar zu mobilisieren? Ist es legitim, wenn öffentlich-rechtliche Medien – ähnlich wie Gesundheitsbehörden mit Schockbildern auf Zigarettenpackungen – die Leute mit drastischen Bildern zur Vorsicht mahnen? Nach dem Motto: «Gebt Acht, sonst landet ihr auf der Intensivstation!»

Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München, sieht das kritisch. Zum einen müsste man erörtern, «an welchem Punkt das Erzieherische ins Manipulative übergeht». Zum anderen gelte es zu diskutieren, ob es wirklich keine anderen Möglichkeiten gebe als das «emotionale Aktivieren durch Bilder», teilt sie auf Anfrage der MEDIENWOCHE mit.

Grundsätzlich findet Paganini, dass ein emotionales Aufladen einer Debatte «immer eine riskante Sache» sei: «Drastische Bilder versprechen auf den ersten Blick, einen schnellen Effekt beim Publikum zu erzielen, und das tun sie de facto ja auch. Allerdings wissen wir, dass gerade die Kompetenzen, die wir in einem demokratischen Diskurs brauchen – Reflexion, Wahrnehmen von Argumenten, nüchternes Abwägen, Wertschätzen von gegnerischen Positionen – in einer emotionalen Situation nicht gut abgerufen werden können.» Wenn dagegen Gefühle, und dann auch noch negative wie Angst, dominieren, würden in uns «Überlebensmechanismen nach dem Motto ‹Kampf oder Flucht› aktiviert, das heisst, die einen werden aggressiv, die anderen ziehen sich ängstlich zurück».

Dass sich nun viele Menschen rationalen Argumenten zu verschliessen scheinen, sei «kein Beleg dafür, dass sie solchen von Haus aus nicht zugänglich wären». Die beobachtete Verweigerung könne auch ein Resultat davon sein, «dass die Leute zu stark auf einer emotionalen und zu wenig auf einer rationalen Ebene angesprochen worden sind – oder auch, dass sie sich mit ihrer Meinung im Diskurs nicht ernst genommen fühlen».

Es ist also nicht unbedingt so, dass durch die Präsenz von drastischen Bildern Verschwörungsmythen entkräftet werden, wie in der Debatte zuweilen behauptet wird.

Im Gegenteil: Die Emotionalisierung von Bildern kann zu heftigen Abwehrreaktionen führen – gerade bei Menschen, die die Gefahr des Virus negieren.

Für Medien, insbesondere die Service-public-Medien, gerät die Bebilderung der Pandemie daher zur doppelten Herausforderung. Aus den wenigen Aufnahmen müssen sie diejenigen selektieren, die die unleugbare Dramatik und Dynamik des Infektionsgeschehens realistisch abbilden. Auf der anderen Seite müssen die Medien Sorge tragen, dass sie mit ihrer Information keine Kampagne betreiben, die gerade bei einem skeptischen Publikum als belehrend empfunden werden könnte.

Bild: istockphoto.com

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