Zugegeben, mein erster Eindruck von „Die Flut – Warum musste Johanna sterben?“ war falsch. Der Podcast von SWR und WDR über die Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal löste bei mir zunächst Abwehrreflexe aus. Ich dachte nur: Uff, Jahrestagsjournalismus. Überpünktlich veröffentlicht, damit man im Medientrubel nicht übersehen wird. Und dann noch dieser Untertitel und das Logo mit der Zeichnung einer jungen Frau, passend dazu der erste Satz der Podcast-Beschreibung: „Juli 2021: Die 22-jährige Johanna Orth aus Bad Neuenahr-Ahrweiler ist auf dem besten Weg in eine erfüllte Zukunft.“ Unbewusst (und wie sich herausstellt: zu unrecht) sortierte ich den Podcast in die schmuddelige Ecke der Podcasts, die gerne von Opfern erzählen und dabei nichts als Voyeurismus bedienen.
Die Kolumne
Podcasts haben es verdient, so ernsthaft wie andere Medien besprochen, gelobt und kritisiert zu werden. Alle zwei Wochen machen das Annik Rubens und Sandro Schroeder für uns hier: in der Podcast-Kritik.
Sandro Schroeder ist durch Podcasts überhaupt erst schleichend zum Fan des Mediums Audio geworden. Er berichtet seit 2016 regelmäßig über Podcasts, schreibt den Podcast-Newsletter „Hören/Sagen“ und spricht im Podcast „Ohrensessel“ über – na klar – Podcasts. Nach seinem Journalistik-Studium arbeitete er als freier Journalist in Leipzig, unter anderem für das Onlineradio detektor.fm. Er absolvierte sein Volontariat beim Deutschlandradio, wo er anschließend drei Jahre lang in der Abteilung Multimedia arbeitete, zuständig für Podcasts und Audio-Drittplattformen. Heute arbeitet er in Berlin als freier Journalist.
So zynisch das auch klingen mag, ich hasse dieses Erzähl-Klischee: Normalität und Alltag rückblickend zum weichgezeichneten Kitsch verklären, um die Katastrophe danach besonders grausam wirken zu lassen. In diesem Fall: Eine Katastrophe, die 2021 mehr als hundert Menschen im Ahrtal das Leben kostete, tausende traumatisierte – reduziert und fokussiert auf das Schicksal einer, na klar, jungen Frau. Podcast-Boulevard, das war meine Befürchtung.
Doch dieser Podcast ist alles andere als das.
„Die Flut“ ist ein empathischer, leiser, aber wirkmächtiger Podcast. Ein Schlag in die Magengrube beim Hören. Eine Serie, die über sechs Folgen zunächst aufwühlt, dann traurig und schließlich wütend macht. Ein – wie ich finde, preisverdächtiges – Stück Lokaljournalismus, das einerseits mit viel Nähe Einzelschicksale erfahrbar macht. Andererseits nüchtern die Fakten nennt und Zusammenhänge analysiert. Und nicht zuletzt: Ein journalistisch vorbildlicher, weil transparenter und reflektierter Podcast.
Die Ohnmacht begreifbar machen
Die erste Folge von „Die Flut“ versucht, die letzten Stunden und Minuten in Johannas Leben zu rekonstruieren. In Panik ruft sie in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 bei ihren Eltern an, die gerade im Urlaub auf Mallorca angekommen sind. In Johannas Wohnung in Bad Neuenahr-Ahrweiler ist der Strom ausgefallen. Sie steht schon knietief im Wasser, Möbel schwimmen, Türen lassen sich nicht mehr öffnen. Dann bricht das Telefonat ab, die Orths werden nicht mehr von ihrer Tochter hören.
Die ersten drei Folgen prägt ein sehr emotionales Erzählen, immer nah an Johanna und ihren Angehörigen. Dramatische Szenen werden aus Erinnerungen, Archivtönen und Einspielern rekonstruiert. Den Podcast zu starten mit den Eltern, die den Tod ihrer Tochter nachvollziehen, erschien mir beim ersten Hören noch effekthascherisch. Doch beim zweiten Hören erkannte ich, worauf der Podcast hinaus möchte: Er will exemplarisch den Schock, die Ohnmacht, den Verlust, den so viele Menschen bei dieser Katastrophe erlitten haben, nachvollziehbar machen. Verstehen, was schief gelaufen ist und wie man das verhindern hätte können.
Der Podcast verkürzte den Abstand in meinem Kopf zum Ahrtal, emotional wie zeitlich, verknüpfte durch eindrückliche Bilder meine Kindheitserinnerungen an das Elbe-Hochwasser von 2002 mit der Flut im mir fremden Ahrtal. Die empathisch-emotionale Erzählweise ist in diesem Podcast nicht voyeuristisches Mittel für unterhaltende Zwecke, sondern dient als Vorbereitung für die analytische Suche nach Antworten bei Behörden und Politik in der zweiten Hälfte der Serie.
Reporter aus der Region
Durch den Podcast führt Reporter Marius Reichert. Sein Ton klingt zwar manchmal sehr vom Blatt gelesen, dafür wird Reichert dem notwendigen Ernst des Themas gerecht. Studio- und Außenaufnahmen ergeben beim Hören einen abwechslungsreichen Kontrast, den Reichert mit seiner glaubwürdigen, ungefilterten und unverstellten Art vor dem Mikrofon zusammenhält.
Der Podcast brilliert besonders dann, wenn der Reporter vor Ort ist: mit der Familie Orth beim Kaffeetrinken, beim Spaziergang durch den Ort und an Johannas Grab. Oder auf Ausfahrt mit dem Feuerwehrmann. „Die Flut“ vereint die Stärken einer Reportage mit menschlichen Momenten und eines Dossiers mit ausführlicher Analyse und Archiv-Material.
Diese Serie ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Potenzial im vernachlässigten Bereich regionaler und lokaler Podcasts steckt. Was in den ARD-Anstalten noch möglich wäre. Wenn sie endlich ihre regionalen Strukturen, ihren Auftrag und ihre digitalen Angebote als Dreiklang verstehen würde – und nicht als dreifachen Widerspruch.
Eine Bühne für Porträts und Stimmen aus dem Ahrtal
In „Die Flut“ kommen Menschen aus dem Ahrtal ausführlich zu Wort. Die Eltern und Freunde von Johanna. Der Feuerwehrmann, der in den reißenden Fluten entscheiden musste, wie viel Risiko er selbst eingehen kann, um Menschen zu retten. Die Polizistin, die die Leichen für die Identifikation durch die Angehörigen vorbereitete. Die damalige Bürgermeisterin von Altenahr, deren Warnungen nicht rechtzeitig gehört wurden.
Dem Podcast gelingt es, durch verschiedene Perspektiven und Ebenen zu springen und sie zusammenzufügen. Hier die Totale mit dem analytischen Blick auf das Systemversagen und Verkettung von Ereignissen. Dort die Detailaufnahme von der Suche der Eltern nach einem ideellen Andenken in der zerstörten Wohnung der Verstorbenen. Es entsteht ein sehr differenziertes Bild der Menschen, der Katastrophe und der Zeit danach. Das berührt und fesselt auch jenseits der betroffenen Regionen.
Das liegt auch daran, dass Marius Reichert immer wieder seine Doppelrolle als Journalist und Mensch aus der Region benennt. Ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu drängen. Eine Mischung aus beruflicher Pflicht und persönlicher Nähe, die hier voll aufgeht. Reichert ist kein Reporter, der zum Jahrestag ein bisschen Fallschirmjournalismus macht. Er ist verwurzelt in der Region, das macht seine Perspektive und den Podcast so besonders. Beispielsweise, wenn er in der letzten Episode erzählt:
„Viele hier sehen die Ahr seitdem mit anderen Augen. Der Fluss selbst hat sich nicht verändert. Er weiß nicht, was er getan hat. Fließt durch unsere Stadt, als wäre nichts gewesen. Aber die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist für Manche unerträglich geworden.“
Schwächen, die schnell vergessen sind
Ein kleiner Wermutstropfen: „Die Flut“ ist vollgepackt mit solchen eindrucksvollen Zitaten und vielen Stimmen, wirkt dabei aber leider oft radio-typisch sehr dicht und atemlos produziert. Es bleibt wenig Zeit, das Gehörte wirken zu lassen. Ästhetisch konzentriert sich der Podcast auf einige wenige Musikelemente, die als Kapitelmarken dienen und Erzählebenen trennen. Einerseits brauchen Thema und Töne keine emotionale Verstärkung. Andererseits hätte ich mir Ruhe in der Erzählung gewünscht, um das Gehörte verarbeiten zu können – mehr Musik wäre eine Lösung dafür gewesen.
Akustisch ein wahlweise kleines bis mittelgroßes Ärgernis sind die vielen handwerklich holprigen Schnitte. Die sind dank der guten Szenen und Zitate schnell vergessen. Eine Geschmacksfrage bleibt die nachträgliche Verschränkung von Gesagtem im O-Ton der Interviewten mit Tönen und Geräuschen: Brauchen wir das untermalende Vogelgezwitscher, wenn die Orths sich an die Idylle auf Mallorca vor der Katastrophe erinnern? Die rauschende Regen-Atmo, wenn wir über den Starkregen von 2021 sprechen?
Redaktionelle Entscheidungen verstehen
Hörenswert ist aber nicht nur, welche Menschen, Perspektiven und Aussagen das Podcast-Team versammelt. Sondern auch wie das im Podcast geschieht, beispielsweise wenn journalistische und ethische Fragen thematisiert werden: Wie viel Personalisierung braucht die Erzählung? Welchen Zweck hat sie und wann wird das Abbilden von Leid zum Spektakel, zum Selbstzweck? Wie detailliert müssen wir als fremdes Publikum in ein privates Leben hineinzoomen, um am Ende das Gesamtbild verstehen zu können? Wie gehen Journalist*innen sensibel mit Traumatisierten um?
„Die Flut“ findet eine ausgesprochen gute Lösung: all diese Abwägungen zu thematisieren und die getroffene Entscheidung jeweils kurz zu erklären. Beispielsweise nüchtern zu benennen, dass Johannas Eltern eine Motivation haben, die Öffentlichkeit zu suchen. Dass sie trauern, wütend sind und sich deswegen entschieden haben, mit ihrem Verlust in den Podcast zu gehen. Für die Menschen, die auch leiden, denen aber Kraft und Mittel für den Weg in die Öffentlichkeit fehlen.
Es wird auch thematisiert, dass sich Reporter und Familie Orth schon länger kennen. Dass der Reporter hadert, welche Fragen er ihnen zum Tod der Tochter stellen kann und welche Antworten ihn dann selber stark bewegen. Oder dass im „Die Flut“-Team zur Debatte stand, ob das Prozedere zur Identifikation des Leichnams in den Podcast gehört. Diese Mischung aus Dokumentation und Reflektion passt sehr gut zum abwägenden Charakter des Podcasts.
Die Suche nach Antworten
Die emotionale Erzählung rund um die Angehörigen von Johanna weicht in der zweiten Hälfte der Serie einem chronologischen Blick auf das Geschehen während der entscheidenden 72 Stunden. Wann warnten Wettermodelle und Meteorologen? Wann war in Kreisen und Behörden abzusehen, dass der Katastrophenfall eintritt? Warum wurde ausgerechnet in Bad Neuenahr-Ahrweiler erst so spät gewarnt?
Der Offenheit der Orths und seiner eigenen Transparenz stellt der Podcast dann eine Reihe von politisch Verantwortlichen gegenüber, die sich der öffentlichen Debatte entziehen. Der Podcast versucht ihre Rolle näher zu beleuchten und trifft auf Lücken. Allen voran beim damaligen Landrat von Ahrweiler, Jürgen Pföhler, der in dieser Nacht hätte entscheiden müssen, wann welche Warnungen, Evakuierungen und Schritte von Behörden und Einsatzkräften unternommen werden. Pföhler stand auch für diesen Podcast nicht zu einem Interview bereit. So wie am Ende auch niemand aus der Bundespolitik reden wollte: Malu Dreyer, Anne Spiegel, Armin Laschet sagten alle ab.
Pegelstände, Meldeketten, Erreichbarkeiten, Entscheidungen: Der Podcast macht in den sechs Folgen deutlich, wie schwer die Verantwortungskatastrophe im Ahrtal war. Indem er Johanna als ein einzelnes Opfer personalisiert, ohne sie zu überhöhen, können die Hörer*innen erahnen, wie folgenreich jede einzelne Entscheidung, die getroffen oder eben nicht getroffen wurde, für viele Menschen war. Wie groß das Leid bis heute ist.
Der Podcast zeigt Widersprüche und lässt sie wirken, ohne sich selbst zu sehr in eigener Bewertung und Entrüstung zu verlieren. Öffnet stattdessen Raum für die Unverständnis und Wut der Betroffenen gegenüber den Entscheidungsträger*innen. Am Ende kann die Serie selbstverständlich nicht alle Fragen klären, die sie anfangs aufgeworfen hat. Vieles werden Ermittlungsverfahren und Untersuchungsausschuss noch klären müssen. Einiges wird wahrscheinlich ewig ungeklärt bleiben.
„Die Flut – Warum musste Johanna sterben?“ ist ein hörenswertes Zeitdokument der Katastrophe im Ahrtal. Sowie ein eindringliches Beispiel für einen engagierten Journalismus, der sowohl einfühlsam als auch kritisch ist.
Vielen Dank für eure Podcast-Serie – ich werde auch diesen Podcast ausprobieren; es wäre nicht das erste Mal, dass ich dadurch eine Entdeckung machte.
Eins nur: Für meinen Geschmack sind die Kritiken, wie diese, häufig zu detailreich und lange – jedenfalls für den „Normalfall“: Dass Leser:in den besprochenen Podcast selbst noch nicht gehört haben und noch gar nicht „mitreden“ können.
Vielen Dank für eure Podcast-Serie – ich werde auch diesen Podcast ausprobieren; es wäre nicht das erste Mal, dass ich dadurch eine Entdeckung machte.
Eins nur: Für meinen Geschmack sind die Kritiken, wie diese, häufig zu detailreich und lange – jedenfalls für den „Normalfall“: Dass Leser:in den besprochenen Podcast selbst noch nicht gehört haben und noch gar nicht „mitreden“ können.