Eine Pro-Brexit-Stimme wird leiser

Nach 26 Jahren im Amt tritt der englische Journalist Paul Dacre als Chefredaktor des konservativen Boulevardblatts «Daily Mail» zurück. Die Zeitung wird wohl politisch in die Mitte rücken.

Rolf Hürzeler
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Zeitungskommentar nach dem britischen Ja zum EU-Austritt (Bild Imago)

Zeitungskommentar nach dem britischen Ja zum EU-Austritt (Bild Imago)

Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus: Das sei die «reaktionäre Agenda» von Paul Dacre, schreibt der Dozent und Medienexperte Roy Greenslade im «Guardian» zum Rücktritt des langjährigen Chefredaktors der «Daily Mail». Er kommt zum Schluss, dass dieser Schritt zu spät komme: «Denn der Schaden ist angerichtet» – er meint damit das verlorene Brexit-Referendum.

Zu spät oder nicht: Der Besitzer der Mediengruppe Daily Mail and General Trust, Lord Rothermere, ersetzt nun den Brexit-Befürworter Dacre durch den liberalen Geordie Greig, der jetzt schon Chefredaktor der «Mail on Sunday» ist, die im Gegensatz zur Tageszeitung einen Pro-EU-Kurs fährt.

Radikale verlieren Rückhalt

Über die Gründe für diese Rochade lässt sich rätseln: Dacre steht im Pensionsalter, wichtiger aber ist, dass sein radikaler Anti-EU-Kurs im bürgerlichen Establishment zusehends an Rückhalt verliert. Die Wirtschaft fürchtet die Folgen eines «harten» Brexit ohne freien Marktzugang in Europa. Kommt dazu, dass Rothermere ein europhiler Liberaler ist und manche Lektüre der «Mail» wohl nur schwer verdauen konnte.

Der 69-jährige Paul Dacre ist ein Paradiesvogel in der britischen Presseszene. Als Student war er ein Linksliberaler gewesen, später zog es ihn zusehends nach rechts: immerzu darauf bedacht, dass er beim Publikum als kratzbürstig ankam. Je einflussreicher er wurde, desto mehr hielt sich Dacre allerdings im Hintergrund. Persönliche Zitate aus seiner Zeit bei der «Mail» sind kaum zu finden, da er keine Interviews gibt und nicht in Fernsehsendungen auftritt. Er soll zwar gesagt haben: «Diese bevormundende, selbstgerechte politische Korrektheit geht mir derart auf den Geist, dass ich die Kraft finden könnte, dieses Land zu verlassen.» Unklar bleibt aber, wann und wo er dieses Bekenntnis abgegeben hat, das jedoch zu seiner Weltanschauung passt.

Die Lektüre der «Daily Mail» in diesem Sommer zeigt, dass die Zeitung vorderhand am Pro-Brexit-Kurs festhält. Aber das Blatt mit einer Auflage von 1,3 Millionen Exemplaren ist etwas milder gestimmt. So ist die Unterstützung von Aussenminister Boris Johnson für den Pro-Brexit-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg der «Mail»-Redaktion zwar fast eine ganze Seite wert. Aber der Ton ist gemässigter als früher, und auf einen gehässigen Kommentar wird ganz verzichtet. Zudem erscheint der Brexit weniger oft auf der Frontseite. Derzeit ist der Stellenabbau im Detailhandel anscheinend für die Leserschaft wichtiger. Am Tag darauf gibt die Redaktion dem US-Botschafter in London viel Platz für einen Essay über die Vorteile des Brexit aus Sicht der Trump-Administration: «Es gilt einfach, kühles Blut zu bewahren.»

Die zaghafte Milde kann auf den anstehenden Personalwechsel zurückzuführen sein oder auf die Einsicht, dass die harte Brexit-Fraktion um Johnson einen schwereren Stand hat als auch schon. Wohin das Ganze wahrscheinlich führt, zeigt die Sonntagsausgabe der «Mail» früher: Da wird einmal mehr vor den Arbeitsplatzverlusten gewarnt, die das Abseitsstehen vom EU-Markt zur Folge habe.

Das weitgehend unpolitische Pendlerblatt «Metro» in der gleichen Zeitungsgruppe tendiert ebenso zu einer versöhnlichen Haltung gegenüber Brüssel. In diesem Licht gesehen, kommt der Abgang von Paul Dacre zum richtigen Zeitpunkt. Wer allerdings triumphiert, mit ihm gehe ein reaktionärer alter Esel, der täuscht sich: Dacre wird allseits attestiert, ein journalistisch hervorragendes Blatt zu produzieren. Auch ist die radikale Kampagne der «Mail» für Gerechtigkeit im Fall um Stephen Lawrence unvergessen, einen Schwarzen, der aus rassistischen Motiven ums Leben kam, was die Polizei zunächst vertuschen wollte.

Schon immer auf der rechten Seite

Es wäre jedoch ein Bruch mit der Tradition der «Daily Mail», sollte die politische Ausrichtung der Zeitung unter Geordie Greig zu radikal ausfallen. Die Zeitung war immer rechts aussen positioniert. In den 1930er Jahren setzte sie auf das Appeasement, auf ein Arrangement mit den Nationalsozialisten. Der damalige Lord Rothermere war vom Friedenswillen der Nazis überzeugt, und der Fehler wurde erst kurz vor Kriegsausbruch korrigiert.