Die Musik Flatrate – das Schweizer Modell überschrieb Gerd Leonhard seinen offenen Brief vom 1. Juni 2012 an die Rechteinhaber, Verwertungsgesellschaften, Verbände von Musikschaffenden und Musikproduzenten und an den Bundesrat, in welchem er eine neue Lizenz für online verbreitete Musik vorschlägt. Postwendend erhielt der Futurist und Musiker von den Verwertungsgesellschaften, den Verbänden der Musikindustrie und dem Verein Musikschaffende Schweiz, die vorgeben, für die Direktbetroffenen zu sprechen, die Antwort, dieses neue Konzept sei eher eine Schnappsidee als ein Segen. Dabei würde Leonhards Vorschlag gerade den grossen Labels, den vermeintlichen Profiteuren einer Verschärfung des Urheberrechts, nützen, welche die seichteste Hintergrundmusik, auch Muzak genannt, auf Kosten echter Musik fördern wollen.
Hier soll es für einmal nicht um die ewig-gestrigen Argumente der „Enteignung“ gehen, wie sie von den Gegnern Leonhards wieder mal angeführt werden. Dieselbe Regelung für das Radio wird von denselben Organisationen kräftig ausgebeutet, ohne dass jemals von Enteignung die Rede ist. Das „Eigentum“ an veröffentlichter Musik kann nur beanspruchen, wer auch die Verantwortung dafür übernimmt, dass die Menschen von ihnen unerwünscht aufgedrängter Beschallung mit seiner Musik verschont bleiben. Stattdessen möchte ich Leonhards Vorschlag etwas ergänzen.
Leonhard schwebt eine Zukunft vor, wo Musik flüssig und allgegenwärtig verfügbar ist, wie das Wasser, das aus dem Wasserhahn strömt. Natürlich bezahlen Hausbesitzer, Mieter etc. für die Infrastruktur des Wassers pauschale Preise, aber der einzelne Bezug von Wasser erscheint dem Konsumenten gratis. Dafür schlägt er eine obligatorische Pauschallizenz vor, welche den Nutzern eingeräumt wird, damit sie musikalische Inhalte online anbieten dürfen. Die Musiker und die Musikindustrie räumten in den dreissiger Jahren dem Radio eine Pauschallizenz für das Abspielen beliebiger Schallplatten ein. Gemäss Leonhard sollen die Uploader im Internet gleich behandelt werden, wie das Radio schon seit fünfzig Jahren. Die Symbiose mit dem Radio hatte sich für die Musikindustrie ja durchaus gelohnt.
Die Schweiz ist weitherum das einzige Land, wo der Download von Musik – wie übrigens auch das Radiohören – nicht strafbar ist. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass die Plattenindustrie hierzulande die alleinerziehenden Mütter von 14-jährigen Töchtern nicht mit Abmahnungen und Gerichtsverfahren terrorisieren kann, dass unsere Pausenplätze nicht kriminalisiert werden, und dass den Labels und Musikern nicht das Recht eingeräumt wird, alle privaten Providerdaten und jeden PC, jedes Notebook und jedes Smartphone zu durchschnüffeln. Dafür bezahlen die Schweizer schon heute eine Art Musik Flatrate von 150’000’000 Franken pro Jahr, die von den Verwertungsgesellschaften in Form von Pauschalabgaben auf Leerdatenträgern, Geräten, Netzwerkgebühren für Firmen und Spezialgebühren für Blindenbibliotheken abverlangt werden. Die Musikindustrie, der Verein Musikschaffende Schweiz und eine Reihe von Parlamentariern möchte diesen Zustand gerne ändern, die fortschrittliche Schweizer Version abschaffen, wie im Rest der EU die flächendeckende strafrechtliche Bedrohung aller Bürger durch die Rechteinhaber einführen und damit die freie Meinungsäusserung abschaffen.
Leonhards Vorschlag will dagegen über die Straffreiheit des Downloads hinaus sogar eine potenzielle Straffreiheit des Uploads einführen. Wer Musik ins Internet lädt, soll in Zukunft die Erlaubnis dazu mit einer einfachen, pauschalen Abgabe bezahlen können. Wie iTunes es den Konsumenten (Downloadern) einfach machte, für Musik zu bezahlen, soll diese neue Flatrate es den Nutzern (Uploadern) einfach machen. Die Höhe der Flatrate wäre so anzusetzen, dass sie die Ausfälle der Musikindustrie deckt. Überraschenderweise kommt er auf rund 150’000’000 Franken pro Jahr, wie sie schon heute an die Verwertungsgesellschaften bezahlt werden und in deren exorbitanten Löhnen und den Taschen der wenigen ganz grossen Labels verschwinden, ohne dass die Musikschaffenden sich fair entschädigt vorkommen. Die Einführung einer solchen neuen Lizenz würde der Politik die Möglichkeit einräumen, mit dem Missständen bei den Verwertungsgesellschaften Schluss zu machen und sie von ihren öffentlich-rechtlichen Aufgaben zu befreien, damit sie sich ganz ihrer Hauptaufgabe, der kollektiven Verwertung der Werke ihrer Genossenschafter, widmen können.
Die alles entscheidende Frage ist aber, ob dieser Vorschlag zu einer fairen Entschädigung der Musikschaffenden führt. Das ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit einer fairen Entschädigung für die Rechteinhaber, da die meisten Musikschaffenden zu eher unfairen Vereinbarungen mit den übermächtigen Labels gezwungen wurden. Und hier entpuppt sich die vorgeschlagene Musik Flatrate als unzulänglich. Die Verteilung der Einnahmen soll nämlich proportional zu den Downloads (Streaming etc.) erfolgen. Damit wird die der grössten Menge mit der grössten Anzahl Wiederholungen vorgedudelte Hintergrundmusik auf Werbebannern und an öffentlichen Plätzen, die unfreiwillig konsumiert wird, am meisten belohnt. Die visionäre Musik Flatrate degeneriert so zur Muzak Flatrate.
Das Bild „Musik flüssig und allgegenwärtig wie Wasser“ beschreibt nämlich Muzak, die repetierbare Konservenform der Musik, wie wir sie aus Warenhäusern, Aufzügen, Bahnhöfen, Werbebannern etc. kennen. Eigentliche Musik ist hingegen ein in der Zeit einmaliges und unrepetierbares temporales Ereignis. Sie schafft und verstärkt Identität in der Disco, in der Oper, beim Volkstanz, im Sport, im Konzert, in der Kirche, in der Werbung, in der Politik. Wir kaufen uns Konserven, um an das identitätsstiftende Erlebnis erinnert zu werden. Ohne dieses Erlebnis oder als reines Hintergrundgedudel sinkt sie aber schnell auf das Niveau von Muzak ab.
Die digitale Revolution hat der Musik ungeahnte neue Freiräume eröffnet. Waren die Vierteltontrompeten und der 31/32-Takt der New Don Ellis Band in den Siebziger Jahren noch revolutionär, so können wir heute bisher unbekannte Welten von Geräuschen, Harmonien und Rhythmen betreten, die man sich vor dem Siegeszug der digitalen Musik nicht einmal vorstellen konnte. Wir können eine Symphonie mit singenden Walfischen oder einen Online-Chor mit Millionen von Sängern aufführen. Statt der lächerlichen zwölf radiogerechten Dreiminutentracks pro CD gibt es heute auch 3-Sekunden- oder 24-Stundenevents. Und all diese echte, einmalige Musik – ob Live oder online – findet heute mehr Beachtung denn je. Die Einnahmen aus Konzerten sind in den letzten Jahren mit Wachstumsraten über 10% förmlich explodiert. Man kann sich nur wundern, warum denn die Musiker ein Problem mit ihrer fairen Entschädigung haben sollen. Betrifft das möglicherweise nur diejenigen Musiker, die mediokre Musik anbieten, die keine Identität stiftet? Warum sollten wir diese mit staatlicher Hilfe entschädigen und dafür die Schweizer Bevölkerung dem deutschen Abmahnwahnsinn aussetzen?
Um die Muzak Flatrate in eine richtige Musik Flatrate zu verwandeln, sollten wir also den Verteilungsmechanismus im Vorschlag von Gerd Leonhard ändern. Die Konsumenten sollen frei wählen können, welcher Musik die Einnahmen aus der Flatrate zukommen soll. Nur so kann man die heute schon bestehende übermässige Bevorzugung der unerwünscht aufgedrängte Muzak zugunsten einer fairen Entschädigung der Urheber wirklicher Musik ausgleichen.