„Verschickungskinder“ als Archivnutzende. Anforderungen an und Auswirkungen auf das deutsche Archivwesen und seine Kundinnen und Kunden

von Dr. Stefan Schröder, LWL-Archivamt für Westfalen

Kurze Einführung in das Thema

Durch umfangreiche Medienberichterstattung der vergangenen Monate ist „Das Elend der Verschickungskinder“, so der Titel des 2021 erschienenen ersten kritischen Überblicks zum Thema, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.[1] Unter „Verschickung“ sind mehrwöchige Kuraufenthalte von Kindern in Kindererholungsheimen und Kinderkurkliniken zu verstehen, die im Zeitraum von den 1950er- bis 1990er-Jahren in Westdeutschland schätzungsweise 8 bis 12 Millionen Kinder, überwiegend vom Vorschulalter bis zum Alter von zehn Jahren, betraf.[2] Das Phänomen gab es auch in der DDR, hierzu liegen zur Zeit aber noch nicht genügend Erkenntnisse vor.[3] Die inzwischen zahlreich vorliegenden Berichte ehemaliger Verschickungskinder[4] bezeugen ein bislang nicht prozentual bezifferbares, aber großes Ausmaß an Gewalterfahrungen und Traumatisierungen während einer nicht unerheblichen Zahl dieser Kuraufenthalte. Die Betroffenen, die sich auf Bundes- und Landesebene vernetzen[5], fordern die Politik daher auf, die Voraussetzungen für eine umfassende historische Aufarbeitung zu schaffen. Gleichzeitig befördern sie durch Recherchen zu ihren eigenen Schicksalen und/oder zu einzelnen Heimen oder Heimorten auch das historische Wissen und sensibilisieren das öffentliche Bewusstsein.

In der kommunalen Archivberatung bin ich dem Thema dienstlich erstmals im November 2020 begegnet, als das Stadtarchiv Bad Salzuflen, das auch im Arbeitskreis der Kur- und Bädermuseen aktiv ist, von vermehrten Anfragen ehemaliger Kurkinder berichtete, die mit dringenden Bitten um Auskünfte nachgesucht hatten, oft aber in großer Unkenntnis der archivischen Überlieferungssituation in den entsprechenden Kommunen. Kurorte waren sehr häufig auch Standorte einschlägiger Kinderkurheime und -kliniken, die von kleinen privaten Einrichtungen mit nur wenigen Betten bis hin zu großen Heimen und Kliniken mit dreistelliger Bettenzahl reichen konnten. Aber auch viele andere Orte ohne den Status als staatlich anerkannte Heilbäder beherbergten solche Heime. Es handelt sich um ein überregionales Phänomen, das die ganze (alte) Bundesrepublik betrifft.

Aus der Aktualität dieses Themenfeldes resultierte letztlich unter anderem das Diskussionsforum „Umgang mit archivischen Quellen zu Opfergruppen des 20. Jahrhunderts“, das im Rahmen des 73. Westfälischen Archivtages am 15. März 2022 als digitale Veranstaltung stattfand.[6]

Eine persönliche Anmerkung vorweg: Ebenfalls 2020 wurde das Thema auch in meinem privaten Umfeld von einem ehemaligen, inzwischen erwachsenen Verschickungskind bei Internetrecherchen wiederentdeckt. Wir hatten 1994 zusammen einen Ausflug auf die Insel Borkum unternommen, wo es in den 1970er-Jahren einen Kuraufenthalt im Adolfinenheim, einer Einrichtung unter dem Dach der Diakonie Niedersachsen, verbracht und viel Negatives in Erinnerung behalten hatte. Noch 1994 war es nicht erwünscht, sich das Heim näher anzuschauen.[7] Dass das Thema der Verschickung kein weit entferntes ist, zeigt sich mir heute auch daran, dass ich schon als Kind in den Fotoalben meiner Eltern einige Fotos meines Vaters entdeckt habe, die ihn 1949 im Alter von neun Jahren bei einem Kuraufenthalt auf Norderney zeigen. Aber erst im vergangenen Jahr wurde mir bewusst, dass sich hier das gleiche Lebensereignis mehrerer Einzelner im Rahmen eines Massenphänomens spiegelt. Erst der Kontext, den ich heute kenne, lässt Fragen nach den strukturellen Hintergründen zu diesem Thema überhaupt zu. So schildert es auch Anja Röhl als Betroffene und Autorin[8], wobei es selbstverständlich einen Unterschied macht, ob ein Archivar und Historiker ein historisches Thema entdeckt, oder Betroffene erkennen, dass sie mit ihrem Einzelschicksal nicht alleine stehen, sondern – im Gegenteil – sich in Konturen abzeichnet, dass ein nicht unerheblicher Teil der westdeutschen Bevölkerung einen Kuraufenthalt im Kindesalter erlebt hat. Wie hoch der Anteil derjenigen ist, die dabei belastende Erfahrungen bis hin zu Traumatisierungen gemacht haben, muss derzeit noch offen bleiben, stellt aber eine wichtige Frage für die Forschung dar.

Einem solchen Massenphänomen begegne ich als Wissenschaftler damit zum zweiten Mal, einem Phänomen, das wohl für das 20. Jahrhundert typisch ist: dem „verwalteten Menschen“.[9] Denn nicht nur im Nationalsozialismus, über den Holocaust hinaus[10], auch in der Nachkriegszeit waren Menschen in großer Zahl in Lagern oder lagerähnlichen Einrichtungen untergebracht, was sich entsprechend in jeweils spezifischen Verwaltungsstrukturen niederschlug. Es ist für solche Strukturen typisch und nur in Einzelfällen möglich, aus den überlieferten schriftlichen Quellen biographische Details zu einzelnen Personen zu rekonstruieren, wie ich am Beispiel der Displaced Persons, der befreiten NS-Zwangsarbeiter und -Zwangsarbeiterinnen, gezeigt habe.[11] Zu vermuten ist, dass dies durchaus auch für das Thema der Kinderverschickung gilt, wenngleich bei den Kinderkurheimen die Beschreibung als Lager nur eingeschränkt, unter dem Blickwinkel als „totale Institution“[12], taugt. Von großer Bedeutung ist daher, dass die ehemaligen Verschickungskinder nun als Erwachsene in großer Zahl Zeugnis ablegen und (auto)biographische Forschung zu betreiben beginnen. Waren vor rund 20 Jahren die noch lebenden ehemaligen NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Osteuropa auf die Rechercheaktivitäten der deutschen Archive angewiesen, um mittels archivischer Nachweise über ihre Zwangsarbeit Entschädigungsansprüche an den deutschen Staat richten zu können, tritt den Archiven nun mit den „Verschickungskindern“ eine Gruppe entgegen, die mehr oder weniger selbstbewusst Auskünfte einfordert und damit einen aktiven Part übernimmt, der im Benutzungsalltag der meisten Archive noch sehr ungewohnt sein dürfte.

Die Initiativen von Betroffenen haben inzwischen in mehreren Bundesländern auf politischer Ebene zu entsprechender Aufmerksamkeit und auch zur Erstellung erster historischer Gutachten geführt. Für Nordrhein-Westfalen ist hier auf das im Januar 2022 veröffentlichte Gutachten von Marc von Miquel zu verweisen.[13]

Mit diesem Blogartikel möchte ich mich dem Thema aus archivischer Sicht nähern und damit zu weiterer fachlicher Diskussion anregen. Da die Betroffenen große Mühe haben, einschlägige Archivalien in deutschen Archiven zu finden, wobei dies vor allem die Ebene der einzelnen Verschickungsheime betrifft, sollten Archive sich ihrerseits diesen Aspekten widmen, um entsprechende Unterstützung bei Rechercheanfragen geben zu können. Gezielte Nutzung durch die Betroffenen setzt aber auch eine entsprechende Überlieferungsbildung seitens der Archive voraus, soweit sie dies leisten können bzw. dies möglich ist. Daher scheint es mir sinnvoll, meine Überlegungen folgendermaßen zu gliedern:

  1. Überlieferungsbildung
  2. Archivnutzung

Inhaltlich wird die Überlieferungsbildung mehr die Archive, die Archivnutzung Archive und Archivnutzende gleichermaßen ansprechen.

Wenn ich im Einzelnen Beispiele nenne, werde ich mich im Großen und Ganzen am Kern meiner Tätigkeit in der kommunalen Archivberatung in Teilen von Westfalen-Lippe orientieren bzw. den Fokus auf das Bundesland NRW richten. Andere Archivsparten und andere Bundesländer umfassend anzusprechen könnte ich in diesem Rahmen nicht leisten. Es wäre in Teilen auch verfehlt, denn es wird zum Beispiel in Kürze ein beim Landesarchiv Baden-Württemberg angesiedeltes Projekt geben, das Betroffene beraten soll und direkt an ein ähnliches Projekt zur Heimerziehung anschließt.[14] Es ist zu hoffen, dass in weiteren Bundesländern auf entsprechende Forderungen der Betroffenen eingegangen wird.

 

  1. Überlieferungsbildung

Es sind inzwischen weit über 1000 Verschickungsheime in der alten Bundesrepublik bis 1989 ermittelt worden, auch wenn die genauen Zahlen und die Ermittlungsmethoden nicht unumstritten sind.[15] Eine Auswertung nach Heimträgern ergab, dass etwa 21 % dem Verband privater Kinderheime angehörten und weitere rund 15 % von Privatpersonen geführt wurden. Knapp 7 % wurden von Kommunen getragen, knapp 8 % von der Arbeiterwohlfahrt, rund 3 % vom Deutschen Roten Kreuz, 11 % von katholischen Wohlfahrtseinrichtungen, rund 5 % von der Caritas, 3 % von evangelischen Wohlfahrtseinrichtungen, knapp 9 % von der Inneren Mission (heute: Diakonie); in den knapp 11 % als Sonstige erfassten Einrichtungen verbergen sich auch die Träger der Sozialversicherung und Werksfürsorge, bei 8 % fehlt eine Angabe zu den Trägern.[16]

Was lässt sich daraus für die archivische Überlieferungsbildung ableiten?

  1. Kommunale Archive, die Archive der genannten Konfessionen, die Archive der genannten Wohlfahrtsverbände und ihre Verwaltungen auf allen Gliederungsebenen sollten ermitteln, ob sie Träger eines oder mehrerer entsprechender Heime waren. Das lässt sich für sehr viele direkt aus der 1964 von Folberth veröffentlichten Liste[17] ableiten, wobei diese nicht vollständig ist und sowohl vor 1964 geschlossene als auch nach 1964 eröffnete Heime hinzutreten können.[18]
  2. Kommunale Archive, deren Sprengel ein oder mehrere Kinderkurheim(e) beherbergt hat, sollten versuchen zu ermitteln, welche Unterlagen es zu den Heimen vor Ort noch geben könnte. Dafür sind ehemalige Heimträger, ihre Verwaltungen, ggfls. ihre Archive zu ermitteln und zu kontaktieren. Eigene, sich schon im Archiv befindliche Recherchehilfsmittel (z.B. Gewerbekarteien) sollten nach Grundinformationen durchsucht werden, ggfls. auch aus der kommunalen Verwaltung übernommen werden. Auf Kreisebene bzw. bei kreisfreien Städten sind insbesondere der Jugendamts- und der Gesundheitsamtsbereich sowohl in den Archivbeständen als auch in den Zwischenarchiven und Altregistraturen in den Blick zu nehmen. Sollten sich einschlägige Unterlagen aus anderen als kommunalen Quellen finden, die nicht in ein Archiv des Trägers vermittelt werden können, sollte versucht werden, diese ggfls. als Depositum für das kommunale Archiv einzuwerben. Denn daran besteht ein erhöhtes öffentliches Interesse!
  3. Weiterhin können Foto- und Postkartensammlungen Abbildungen früherer Heime enthalten, die für Betroffenen bei Anfragen hilfreich sein könnten. Denn ihre Erinnerungen sind häufig lückenhaft, so dass Fotos helfen können, Erinnerungen zu reaktivieren. Auch hier sollte aktive Sammlungstätigkeit der Archive einsetzen.
  4. Der überraschende Befund, dass Schulpraktikumsberichte aus Lemgo zahlreiche Berichte über Praktika in Kinderkurheimen enthielten, zeigt, dass Kommunen, die selbst offenbar überhaupt keine Kinderkurheime beherbergten, dennoch archivische Überlieferung zu diesem Themenkomplex zu bieten haben können. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Archivarinnen und Archivare hier eine Schlüsselfunktion einnehmen. Denn sie bewerten Unterlagen verschiedenster Provenienzen und benötigen entsprechendes Wissen, um in ihrer Bewertungsentscheidung ein sicheres Urteil fällen zu können. Daher ziehe ich hier vor dem Kollegen Marcel Oeben den Hut und empfehle seinen Blogartikel „Praktikumsberichte als Quellen zu „Verschickungsheimen“ und Kinderheimen – ein Schulbestand im Stadtarchiv Lemgo“ vom 6. August 2021 hier im Archivamtblog.[19]

Fazit: Alle Archive sind gefragt, mit dem Wissen über die Kinderverschickungen der Nachkriegsjahrzehnte sowohl ihre bereits vorhandenen Bestände entsprechend zu sichten, als auch aktiv in der Überlieferungsbildung den o.g. Anregungen zu folgen, entsprechende Unterlagen zu übernehmen und bei anstehenden Bewertungsentscheidungen zurückhaltend vorzugehen. Das kommunale Archivwesen sehe ich hier – trotz aller Unterschiede in der personellen Ausstattung – als entscheidende Nahtstelle zwischen den Unterlagen verschiedenster Provenienzen und den Nutzungsinteressen der Betroffenen. Kommunale Archive sind wegen ihres Selbstverständnisses als Wahrer der lokalen Lebenswelt umfassender als die Archive anderer Sparten in der Lage, hier zu vermitteln. Sie müssen sich dies aber auch zu ihrem Anliegen machen.

 

  1. Nutzung

Forschung über Kinderverschickung seitens der Betroffenen in den letzten beiden Jahren hat den Ausschlag dafür gegeben, dass in der Archivwelt heute so intensiv darüber gesprochen wird. Ohne die Betroffenen wäre nämlich das Bewusstsein, es bei Bezügen zu diesem Thema mit relevanten Unterlagen für eine wachsende Nutzergruppe zu tun zu haben, wohl nicht entstanden. Daher ist klar, dass die Zusammenstellung von Recherchefunden in Archiven ein wichtiger Ansatzpunkt für Betroffene ist.[20] Problematisch daran ist, dass Funde in Archiven nicht von Funden in Verwaltungen und deren Altregistraturen getrennt werden, die Funde also nicht mit archivarischem Blick systematisiert werden. Aus Betroffenensicht ist natürlich jeder Aktenfund erst einmal positiv. Archivarinnen und Archivare wissen aber, dass es nicht nur rechtlich wegen der Zugänglichkeit und der Nutzung wichtig ist hier zu unterscheiden, sondern auch die Frage der Bewertung und die Einschätzung der Archivwürdigkeit von Verwaltungsunterlagen einen Unterschied macht. Zu unterscheiden wäre zwischen folgenden Fundmöglichkeiten:

  1. Aktenfunde in Verwaltungen: Sie haben vielleicht den Vorteil, dass Aktenbestände noch komplett vorhanden sind. Andererseits ist ihre Nutzung, gerade abseits der staatlichen oder kommunalen Verwaltungen, möglicherweise ungeregelt und datenschutzrechtlich höchst bedenklich. Sollten die jeweiligen Verwaltungen a) über ein fachlich besetztes Archiv verfügen, wäre die Nutzung über diesen Weg auch in rechtlicher Hinsicht für die Verwaltung einerseits und die Nutzenden andererseits sicherer; b) ohne Archiv ist die Nutzung solcher Akten für Betroffene eine Grauzone, die bei Forschung ohne Veröffentlichungsziel noch unproblematisch ist, im Veröffentlichungsfall aber genauerer Prüfung bedarf, welche Informationen möglicherweise geschützt sind. Darunter dürften mindestens Daten anderer Kinder und je nach Lebensalter auch die Daten der Betreuungspersonen fallen.
  2. Aktenfunde in Archiven: In der Regel übernehmen Archive, sofern sie von Fachpersonal betreut werden, Unterlagen aus Verwaltungen fast niemals komplett. Üblicherweise findet ein Auswahlprozess („Bewertung“) statt, über den nicht immer ausreichende Informationen dokumentiert sind bzw. veröffentlicht werden. Im Zweifelsfall sind die Archive danach aktiv zu fragen. Die Nutzung von Unterlagen aus Archiven findet dann auf Grundlage der in den jeweils gültigen Archivgesetzen und Archivsatzungen festgelegten Rahmenbedingungen statt. Dies bezieht auch den Datenschutz ein. In Archiven findet sich daher nicht mehr alles, was Verwaltungen einmal schriftlich festgehalten haben, Archive bieten aber den Vorteil, dass die Nutzung unter klaren Grundsätzen möglich ist und Archivwürdiges „für die Ewigkeit“ verwahrt wird. Diese Sicherheit kann man bei Aktenfunden in beteiligten Verwaltungen nicht dauerhaft haben.

Neben dieser Unterscheidung zwischen dem Fundort von thematisch relevanten Unterlagen in Verwaltungen oder Archiven ist es wichtig, die Hierarchie öffentlicher Verwaltungen/öffentlicher Archive bzw. weiterer relevanter Institutionen zu betrachten.

Aus archivischer Sicht ist immer eine systematische Herangehensweise zu empfehlen. Am Beispiel der Archive in Nordrhein-Westfalen bedeutet das eine Konsultation der Archive erst auf staatlicher, übergeordneter hierarchischer Ebene, und erst danach auf kommunaler, untergeordneter, regionaler und lokaler Ebene bzw. bei nichtöffentlichen Institutionen und ihren Archiven zu suchen. Das Land NRW ist zwar 1946 gegründet worden und sein Sozialministerium hat in den ersten Jahren danach in der Heil- und Erholungsfürsorge eine wichtige Rolle gespielt.[21] Offenbar ist 1953 mit der Errichtung der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe[22], deren Vorgängerinstitutionen, die Provinzialverbände Rheinland und Westfalen, in der Weimarer Republik Erfahrungen mit der Abwicklung von Fürsorgeleistungen verschiedenster Art erworben hatten, die Zuständigkeit von der staatlichen Seite (Sozialministerium NRW) den beiden kommunalen Landschaftsverbänden übertragen worden[23]. Dabei wurde beim Landschaftsverband Rheinland das Landesjugendamt zuständig[24], wie es zu erwarten war, beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe hingegen nicht das Jugendamt, sondern die Abteilung Erholungs- und Heilfürsorge.[25]

Die Verwaltungsgeschichte der beteiligten öffentlichen Stellen ist zwar eine üblicherweise als langweilig angesehene Materie, findet sich aber in Ansätzen auch online in den Vorworten zu Archiv(teil)beständen und sollte wenigstens zur Kenntnis genommen werden. Mit Aufgaben der Jugend- und Heilfürsorge unterhalb der Landschaftsverbände waren dann die Kreise und kreisfreien Städte betraut. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Zahl der Kreise in NRW vor der Gebietsreform Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre erheblich höher war als heute. Ein Beispiel dafür ist das Kreisarchiv Kleve, das die heutige Kreisverwaltung Kleve, aber auch die Vorgängerkreise Kleve, Rees und Geldern und deren archivwürdige Unterlagen betreut.[26] In den Beständen der Kreisverwaltung Geldern fanden sich Unterlagen zur Kinderverschickung in den Akten des Gesundheitsamtes. In vorbildlicher Weise hat das Kreisarchiv Kleve dazu Informationen für Betroffene zusammengestellt.[27] Hinweise anderer Kreisarchive deuten darauf hin, dass einschlägige Aktenfunde entweder aus dem Gesundheitsamt oder dem Jugendamt stammen.

Aus der Verwaltungszuordnung der kurspezifischen Aufgaben in den Verwaltungen der beiden Landschaftsverbände Rheinland (Jugendamt) und Westfalen-Lippe (Gesundheitsamt) ist offenbar auch nicht abzuleiten, dass entsprechende Unterlagen bei den Kreisen im Rheinland ebenfalls bei den Kreisjugendämtern zu finden sind. Das Beispiel des Kreisarchivs Kleve (Rheinland), wo sich einschlägige Hinweise in Gesundheitsamts-Unterlagen fanden, spricht dagegen. Ebenso dürften im Verbandsgebiet des Landschaftsverbandsgebiets Westfalen-Lippe diese Aufgaben auch nicht ausschließlich bei den Kreisgesundheitsämtern zu suchen sein. Es dürfte sinnvoll sein, bei Recherchen in Kreisarchiven nach den Aktenplänen und Aktenverzeichnissen der Kreisverwaltungen aus den 1950er bis 1980er Jahren zu fragen, um für diese beiden Möglichkeiten schnell Klarheit zu gewinnen und die einschlägigen Archivbestände zu ermitteln.

Die Verwaltungsebene unterhalb der Kreise sind die Städte und Gemeinden. Sie waren nicht direkt mit der Organisation der Kuraufenthalte befasst, jedenfalls nur dann, wenn Städte und Gemeinden selbst als Heimträger auftragen (s. den ersten Überblick in den Fußnoten). Inwieweit sich grobe Angaben über örtliche Kur- und Erholungsheime in kommunalen Unterlagen der Stadt- und Gemeindearchive finden können, ist noch nicht ausreichend ermittelt. Ein erster Ansatz ist die Sichtung von Gewerbekarteien, in denen sich Angaben über gemeldete Betriebe finden, zu denen auch Kur- und Erholungsheime gehört haben müssten. Was zumindest in NRW in kommunalen Archiven nicht zu finden sein dürfte, sind Melderegisterauszüge.[28]

 

Was finde ich wo bzw. was ist wo zu erwarten? (Eine erste Übersicht ohne Anspruch auf Vollständigkeit!)

Landesarchiv NRW: Sozialministerium NRW (v.a. Allgemeines zur „Kindererholungsfürsorge“, politische Entwicklungen, ggfls. bei besonderer Situation einzelne Heime)

Archive der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland: (Organisatorisches, im Rheinland ggfls. auch Heimaufsichtsakten)

Archive der Kreise und kreisfreien Städte (Wohnort zur Zeit der Verschickung: Organisatorisches, im Einzelfall persönliche Dokumente; Heimstandort im Einzugsbereich der Archive: Organisatorisches, ggfls. Beschwerden)

Archive der Städte und Gemeinden (als Heimortstandort: Grundinfos zu Heimen[29], im Einzelfall mehr; andere kommunale Archive (Beispiel Lemgo): Praktikumsberichte; Kommune als Träger eines Heims: umfangreiche Unterlagen möglich)

Archive der Heimträger (Grundsatzfragen: Archivstruktur der Heimträger vorhanden? Heimträger noch existent? Unterstützung zur Klärung beim kommunalen Archiv erbitten)

Verwaltungen der Heimträger (keine Archivalien, sondern (noch) nicht auf Archivwürdigkeit bewertete Verwaltungsakten (Altregistraturen) können noch vollständig vorhanden sein oder auch vollständig vernichtet worden sein. Klärung nötig, ob ggfls. Unterlagen an ein Archiv abgegeben worden sind).

[Ergänzung, 24.6.2022: Dieser Blogartikel ist für die Veröffentlichung in Heft 97 der Archivpflege in Westfalen-Lippe vorgesehen, das im Herbst 2022 erscheinen wird].

[1] Anja Röhl, Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021.

[2] Vgl. ebd., S. 8 und 32.

[3] Erste Hinweise auf der zentralen Plattform von Betroffenen, https://verschickungsheime.de/, unter https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[4] Zum Beispiel: Hilke Lorenz, Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden, Weinheim/Basel 2021; Anja Röhl, Heimweh. Verschickungskinder erzählen, Gießen 2021; unter https://verschickungsheime.de/zeugnis-ablegen/ waren beim letzten Aufruf am 22.6.2022 2088 Berichte von Betroffenen online.

[5] Zur Selbstorganisation vgl. https://verschickungsheime.de/die-bundeweite-initiative-verschickungskinder/ (letzter Aufruf 22.6.2022).

[6] Informationen zum Westfälischen Archivtag unter https://www.lwl-archivamt.de/de/aus-und-fortbildung/fortbildungsangebote/westfalischer-archivtag/. Ein erster Kurzbericht aus diesem Diskussionsforum unter https://archivamt.hypotheses.org/15789 (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[7] Inzwischen hat dieses Heim durch eine Dokumentation der Diakonie Niedersachsen erste, aus Sicht der Betroffenen aber nur unzureichende mediale Aufmerksamkeit erfahren, vgl. Diakonie Niedersachsen (Hg.), Geschichtswissenschaftliche Dokumentationen: Adolfinenheim Borkum 1946 bis 1996, Helenenkinderheim Bad Pyrmont 1945 bis 1992, Seehospiz Norderney, Marienheim Norderney, Flinthörnhaus Langeoog, Kinderheimat Bad Harzburg, 1945 bis ca. 1980, Hannover 2021. https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2021/08/Dokumentationen-Kinderkurheime_2021.pdf (letzter Aufruf 22.6.2022). Wieviel mehr an Erkenntnissen zu erwarten ist, lässt nun der Mitte April 2022 erschienene Aufsatz von Anja Röhl, Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeug*innenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum, in: Sozial.Geschichte Online 31 (2022), Vorveröffentlichung, S. 1–39 https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2022/04/rocc88hl_verschickungskinder_vorverocc88ffentlichung.pdf (letzter Aufruf 22.6.2022) erkennen.

[8] Vgl. Anja Röhl, Das Elend der Verschickungskinder, S. 7.

[9] So der Titel von H.G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974.

[10] Vgl. Götz Aly/Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung, überarb. Neuausg. Frankfurt/M. 2000.

[11] Vgl. Stefan Schröder, Disparate Quellenlage: Die Displaced Persons, in: Wilfried Reininghaus/Norbert Reimann (Hgg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939 – 1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 196-205; vgl. auch Wolfang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 18, S. 244.

[12] Vgl. Marc von Miquel, Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen. Auftraggeber: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2022, S. 40 mit Bezug auf das Konzept von Goffman: Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/Main 1973. Dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Totale_Institution (letzter Aufruf 22.6.2022).

[13] Marc von Miquel, Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen. Auftraggeber: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2022. Download unter https://www.mags.nrw/pressemitteilung/studie-verschickungskinder-nordrhein-westfalen-nach-1945 (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[14] Siehe https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/aufarbeitung-von-heimerziehung-und-zwangsunterbringungen/aufarbeitung-kinderverschickung/73264 (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[15] Vgl. von Miquel, Verschickungskinder, S. 5f., S. 32f.; Röhl, Das Elend der Verschickungskinder, S. 32ff. Derzeitiger Fixpunkt der Zählung ist die auf einer Fragebogenaktion beruhende, unvollständige Liste bei Sepp Folberth (Hg.), Kinderheime, Kinderheilstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2. erw. u. verb. Aufl. München 1964, S. 91-213. Die Liste lässt nicht immer eindeutig erkennen, ob auch stationäre Fürsorgeheime darunter sind bzw. ob diese freie Heimplätze zusätzlich mit Verschickungskindern zwecks Kuraufenthalten belegt haben.

[16] Vgl. https://verschickungsheime.de/traeger-von-verschickungsheimen/ (letzter Aufruf: 22.6.2022), Auswertung der Heimträger (n=1143); vgl. von Miquel, Verschickungskinder, S. 33.

[17] Vgl. Folberth, Kinderheime, Kinderheilstätten, S. 91-213.

[18] Kommunale Kinderkurheimträger 1964 aus und in NRW nach Folberth, Kinderheime, Kinderheilstätten:

In Nordrhein-Westfalen:

  • Aachen, Städtisches Säuglings- und Kinderheim, Träger: Stadt Aachen
  • Abbenroth [heute: Gemeinde Nümbrecht], Kinderheim Abbenroth, Träger: Oberbergischer Kreis
  • Anrath [heute: Stadt Willich], Walderholungsstätte Hochend, Träger: Stadt Krefeld
  • Beckum, Kinderheim St. Klara, Träger: Stadt Beckum
  • Bonn, Städtisches Kinderheim, Träger: Stadt Bonn
  • Bredenscheid [heute: Stadt Hattingen], Kinderheim Goldschmidtheim, Träger: Stadt Essen
  • Bürvenich [heute: Stadt Zülpich], Kreiskinderheim, Träger: Kreis Düren
  • Dinslaken-Hiesfeld, Städtisches Kinderheim, Träger: Stadt Dinslaken
  • Dorsten, Städtisches Kinderheim, Träger: Stadt Dorsten
  • Essen, Kindererholungsheim F. und W. Funke-Stiftung, Träger: Stadt Essen
  • Essen, Kinderheim Haus Hoheneck, Träger: Stadt Essen
  • Geldern-Baersdonk, Kreiskinderheim St. Theresia, Träger: Kreis Geldern [heute: Kreis Kleve]
  • Hagen, Kindergenesungsheim Deerth, Träger: Stadt Hagen
  • Herchen [heute: Gemeinde Windeck], Kindererholungsheim der Stadt Neuß, Träger: Stadt Neuss
  • Köln, Kinderheime (Waisenhaus) Köln-Sülz, Träger: Stadt Köln
  • Neersen [heute: Stadt Willich], Kindererholungsheim Schloß Neersen, Träger: Kreis Kempen-Krefeld [heute: Kreis Viersen]
  • Remscheid-Lennep, Städtisches Kleinkinderheim, Träger: Stadt Remscheid
  • Vlotho, Kinderkurheim Ebenöde, Träger: Kreis Herford
  • Waldbröl, Kreiskinderheim, Träger: Oberbergischer Kreis
  • Wuppertal-Elberfeld, Kinderheim Küllenheim, Träger: Stadt Wuppertal
  • Wuppertal-Elberfeld, Ida-Elisabeth-Heim, Träger: Stadt Wuppertal
  • Wuppertal-Ronsdorf, Kinderheim Ronsdorf, Träger: Stadt Wuppertal
  • Wuppertal-Vohwinkel,Kinderheim Vohwinkel, Träger: Stadt Wuppertal
  • Wuppertal-Vohwinkel, Kindererholungsheim Landhaus Linde, Träger: Stadt Wuppertal

Außerhalb von Nordrhein-Westfalen:

  • Borkum, Kinderheim der Stadt Oberhausen, Träger: Stadt Oberhausen (S. 161)
  • Wangerooge, Bielefelder Kindererholungsheim, Träger: Verein Kindererholungsheim Wangerooge e.V., Bielefeld, Rathaus (S. 171) [Die Adressangabe lässt kommunale Beteiligung vermuten]
  • Wittdün/Amrum, Kindererholungsheim, Träger: Kreis Düsseldorf-Mettmann (S. 208).

Dass diese Liste nicht vollständig ist, belegt: Regina Konstantinidis, Verschickt – Verdrängt – Vergessen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht des Verschickungskindes Regina Baumann, Norderstedt 2021:

  • Borkum, Haus Ruhreck, Träger: Stadt Essen.
  • Rengsdorf/Westerwald, Träger: Stadt Essen.
  • Niedersfeld (heute: Winterberg/Sauerland), Träger: Stadt Essen.

Weitere kommunale Heime lassen sich ermitteln in den Kurplänen für die Jahre 1962 (Archiv LWL, 843/145) und 1970 (Archiv LWL, 843/266), die die Abteilung Erholungs- und Heilfürsorge des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zusammengestellt hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die „Arbeitsgemeinschaft sozialer Heime auf Norderney“ (Archiv LWL, 620/3230), zu deren Mitgliedern 1953 folgende kommunale Träger aus NRW gehörten: Kreis Bielefeld, Kreis Iserlohn, Kreis Arnsberg, Kreis Warburg, Stadt Gladbeck (Geschäftsführung für das Vestische Kinderheim), Stadt Wuppertal, Stadt Wanne-Eickel (auch für die Stadt Wattenscheid), Kreis Detmold.

[19] Vgl. https://archivamt.hypotheses.org/14996 (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[20] Vgl. https://verschickungsheime.de/recherche/, speziell unter dem Menüpunkt „Recherche-Tipps“ (letzter Aufruf: 22.6.2022)

[21] Das legen Rechercheergebnisse im Archivportal NRW www.archive.nrw.de in den beiden einschlägigen Beständen NW 0041 (Arbeits- und Sozialministerium, Jugendwohlfahrt, 1916-1959) https://www.archive.nrw.de/archivsuche?link=BESTAND-Best_a131bc33-e46d-457d-8718-54f2f41b1b1a , und NW 0043 (Arbeits- und Sozialministerium, Volks- und Jugendwohlfahrt, 1939-1960) https://www.archive.nrw.de/archivsuche?link=BESTAND-Best_ad6e0b90-3bfc-4a97-b3a8-75a70adbbb80 nahe, die ab 1954 abzubrechen scheinen (letzte Aufrufe: 22.6.2022).

[22] Siehe Eintrag zum Jahr 1953 unter https://www2.lwl.org/de/LWL/portal/der-lwl-im-ueberblick/geschichte-des-lwl/ und https://www.lvr.de/de/nav_main/derlvr/geschichte/vor_1900/grndungderlandschaftsverbnde_2/grndungderlandschaftsverbnde_3.jsp (letzte Aufrufe: 22.6.2022)

[23] Dies belegt implizit die Akte im Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland (Duisburg), Bestand NW 0041 (Arbeits- und Sozialministerium) Jugendwohlfahrt, Nr. 137 (Abgegebene Vorgänge an die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen betr. Kindererholungsfürsorge 1953-1954), https://www.archive.nrw.de/archivsuche?link=VERZEICHUNGSEINHEIT-Vz_b6379e06-6b89-4a9c-9c5c-c080b1cce10a, insbesondere Bl. 31 (Schreiben des Ministeriums für Arbeit und Soziales an den Landschaftsverband Rheinland betr. Kindererholungsheime, 22.4.1954), (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[24] Vgl. von Miquel, Verschickungskinder, S. 49.

[25] Meinem Kollegen Hans-Jürgen Höötmann danke ich für wertvolle Hinweise. Der hier relevante Teilbestand ist online, Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (ALWL), Bestand 620 (LWL-Abteilung für Krankenhäuser und Gesundheitswesen, LWL-Psychiatrieverbund), Teilbestand Klassifikationsgruppe 11 (Erholungs- und Heilfürsorge): https://www.archive.nrw.de/archivsuche?link=KLASSIFIKATION-Klas_51876840-7139-4bf7-9266-5ad03cd32530 (letzter Aufruf: 22.6.2022). Da die Abteilung Erholungs- und Heilfürsorge des LWL in seinen klassischen Aufgabenbereichen üblicherweise keine Akten zu einzelnen Institutionen geführt hat, könnte das der Grund dafür sein, dass die beim Jugendamt des LWL üblichen Heimakten im Bestand fehlen, da sie in dieser Form offenbar nie angelegt wurden. Siehe auch: Hans-Jürgen Höötmann, Quellen zur Kinderverschickung im Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe (Archiv LWL), in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 95 (2021), S. 48-52, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:2-1581054 (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[26] https://www.archive.nrw.de/kreisarchiv-kleve (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[27] https://www.archive.nrw.de/kreisarchiv-kleve/informationen-ueber-kinderverschickungen (letzter Aufruf: 22.6.2022).

[28] Eine oberflächliche Sichtung der bis 2015 Länderangelegenheit gewesenen Meldegesetze NRW von 1960 (Gesetz- und Verordnungsblatt NRW 1960, S. 61ff., insbes. §§ 10-14) und 1982 (GV NRW 1982, S. 474ff., insbes. §§ 26-28) ergab, dass ein Melderegistereintrag in der Regel erst ab einer Aufenthaltsdauer von 2 Monaten erfolgen musste. Bis dahin waren üblicherweise Fremdenverzeichnisse in den Beherbergungsbetrieben zu führen und 4 Jahre aufzubewahren (so ab 1960) oder Meldescheine 2 Jahre aufzubewahren (so ab 1982). Solche Fremdenverzeichnisse bzw. Meldescheine wären aus heutiger Sicht eine lohnende Quelle, müssten aber beim jeweiligen Heimträger zu suchen sein, der zudem die Kassationsmöglichkeit nach Ablauf der Aufbewahrungspflicht hätte ignorieren müssen. Daher dürften solche Funde, wenn sie denn überhaupt gemacht werden, eine Ausnahme bleiben.

[29] Hier ist an die schon erwähnten Gewerbeunterlagen zu denken. In der Akte „Überwachung der Heime durch die Gesundheitsämter und andere Aufsichtsbehörden“ (Archiv LWL, 620/3177) findet sich ein Verzeichnis über die Erholungs- und Kureinrichtungen für Kinder- und Jugendliche im Landesteil Baden von 1974, erstellt vom Landeswohlfahrtsverband Baden. Dieses Verzeichnis unterteilt die Einrichtungen in Kinder- und Jugenderholungsheime, die nach § 78 Jugendwohlfahrtsgesetz der Heimaufsicht unterstehen und in Kinder- und Jugendkurheime, die nicht der Heimaufsicht unterstehen, in Baden aber nach § 30 der Gewerbeordnung konzessioniert sind. Die Gewerbeordnung in Baden kann durchaus von Gewerbeordnungen in NRW abweichen, hier zeigt sich aber der Grundsatz, dass nicht alle Heime der Heimaufsicht unterstanden, was auf NRW und andere Bundesländer übertragen werden kann, seit die Neufassung des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt („Jugendwohlfahrtsgesetz“) 1961 bekanntgegeben wurde: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl161s1205.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl161s1205.pdf%27%5D__1654867764584 (letzter Aufruf: 22.6.2022). Für Heime mit Konzession nach einer Gewerbeordnung dürfte die kommunale Überlieferung daher umso wichtiger sein. (Vermutlich sind hierunter die oft sehr kleinen privaten Heime zu suchen.)


Ein Gedanke zu „„Verschickungskinder“ als Archivnutzende. Anforderungen an und Auswirkungen auf das deutsche Archivwesen und seine Kundinnen und Kunden“

  1. Eine kleine Ergänzung zum Kontext der Aufarbeitung von Missständen in Einrichtungen für Kinder: auch ehemalige Heimkinder, die in Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe sowie in psychiatrischen Kliniken untergebracht waren – haben massive Missstände erfahren und ihr Engagement hat zur Einrichtung des Runden Tischs Heimerziehung geführt. Die Aufarbeitung der Verschickungskinder baut in vielerlei Hinsicht darauf auf; sehr viele Erfahrungen sind ähnlich. Es erscheint mir sehr sinnvoll, diese verschiedenen Erfahrungen rund um die Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie, die in der Nachkriegszeit bis in die 1980er hinein so häufig zu Leid und Unrecht führten, gemeinsam zu betrachten.

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