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Riesen-Chaos Juli 20, 2020, 20:23

Posted by Lila in Land und Leute.
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Was ist nur los hier? Vielleicht hat die ewiglange Hängepartie bis zur Regierungsbildung Netanyahu und seine Minster (aller Parteien) erschöpft? vielleicht haben sie alle geglaubt, die Corona-Krise ist vorbei, und sich anderen, „wichtigeren“ Dingen zugewandt? Es ist klar, daß die strikten Maßnahmen, die wir im Februar oder März hingenommen haben, weil sie Krise frisch war und alle hofften, sie ginge schnell vorbei, jetzt nicht mehr fassen können. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die versprochenen Gelder sind nur bei wenigen angekommen, und dementsprechend ist die Bereitschaft der Bevölkerung, sich wieder in einen strikten Lockdown einschließen zu lassen, sehr gering. Viele tragen Mundschutz (zumindest in meiner kleinen Welt ist die Zahl der Mundschutz-Verweigerer minimal), aber alle haben Angst, daß Geschäfte, Restaurants und Einrichtungen aller Art wieder geschlossen werden – auch pädagogische. Denn daß wir dann nicht entschädigt werden, sondern weiter hohe Abgaben zahlen müssen, während kein Geld mehr reinkommt, das haben wir jetzt begriffen.

Es ist bestimmt nicht einfach, die richtige Strategie zu fahren – aber die Regierung macht im Moment einfach alles falsch, fast wie aus Bock. Die Minister beharken sich, und absurde Vorschläge werden von Netanyahu vorgebracht, als würden sie alle Probleme lösen: alle Bürger kriegen eine einmalige Zahlung von 750 Shekel – das sind keine 200 Euro. Das Gießkannen-Prinzip, noch dazu sinnlos – das Geld soll schnell ausgegeben werden und „die Wirtschaft ankurbeln“. Inzwischen, nachdem die Kritik an der Idee einhellig war, wird die Idee ein bißchen modifiziert – wer viel verdient, soll das Geld nicht bekommen, wer sehr wenig verdient, noch ein bißchen mehr. Viel sinnvoller wäre es, an der Einkommens- oder Mehrwertsteuer zu schrauben, Strom- oder Wasserpreise zu senken o.ä., zumindest für ein paar Monate. Das würde auch viel Geld kosten, aber es wäre nicht nur ein einmaliges Bonbon.

Mir fällt dabei das Gedicht von Anna Louisa Karsch ein, die ein Geldgeschenk Friedrichs des Großen zurücksandte:

„Zwei Taler gibt kein großer König,
den sie erhöhen nicht mein Glück;
Nein, sie erniedern mich ein wenig,
Drum send‘ ich sie zurück.“

Als Beispiel für das typische Hin und Her – die Restaurants. Letzten Freitag hieß es: die Restaurants werden wieder geschlossen (obwohl keine Beweise vorliegen, daß sich dort viele Menschen angesteckt haben). Die Gastronomiebranche war entsetzt und empört – sie hatten gerade erst wieder aufgemacht, hatten schon Waren fürs Wochenende bestellt und waren überhaupt nicht auf eine so schnelle Schließung vorbereitet. Es gab spontane Demonstrationen und große Solidarität mit den Mitarbeitern. Da ruderte die Regierung schnell zurück – bis Dienstagnachmittag (also morgen) dürften die Restaurants offen bleiben, dann schließen, hieß es. Heute hat sich das wieder geändert – sie dürfen nur noch draußen bewirten. Oder drinnen. Ich weiß es nicht mehr. Die Entscheidung ist noch offen.  Aber Restaurantbesitzer sollen mit diesen sich ständig ändernden Informationen ein Geschäft führen, Angestellte entlassen oder wieder einstellen, Waren bestellen oder wegwerfen – alle hängen mit dem Ohr am Radio, um zu wissen, was erlaubt und was verboten ist. Das ist komplett verantwortungslos.

Auch die Sommer-Aktivitäten für Kinder (Sommerschulen, Sommercamps etc) stehen ständig in der Diskussion, vom anstehenden neuen Schuljahr ab 1. September ganz zu schweigen. Für die Eltern ist das eine Frage von Sein oder Nichtsein – wegen Corona fallen bekanntlich Oma und Opa aus, und wenn die Kinder in den langen Sommerferien nicht irgendwo betreut werden, können die Eltern nicht arbeiten. (Israelis haben deutlich weniger freie Tage als Deutsche, und die Sommerferien sind gefürchtet, weil sie von Ende Juni bis zum 1.9. dauern).

Für uns bedeutet das, daß die Kindergärtnerin uns jeden Morgen die neusten Anweisungen durchgibt. Noch ist klar, wir machen weiter, und ich glaube, das Letzte, woran Netanyahu sich jetzt wagen würde, wären die Sommer-Angebote für Kinder. Er weiß, daß die ohnehin schon mental und finanziell überlasteten Familien es nicht schaffen würden, wenn ein Elternteil ausfiele – von den Alleinerziehenden ganz zu schweigen.

Heute abend packten in Tel Aviv in einer Halle bekannte Künstler Pakete mit Lebensmitteln für die unbekannten Mitarbeiter der Entertainment-Industrie. Aviv Geffen erzählte, daß er täglich Anrufe von notleidenden Menschen erhält, deren Einkünfte weggebrochen sind, seitdem es keine Konzerte, Theater und andere kulturellen Angebote mehr gibt. Und staatliche Hilfe gibt es für Freelancer nicht, oder nur so gering, daß man davon nicht wirklich leben kann.

Wofür ist Geld da? Nicht nur eine abstrus aufgeblähte Regierung mit 36 Ministern samt Vize-Ministern – Netanyahu fordert alle möglichen Begünstigungen auch für die Zeit, in der Benny Gantz PM werden soll (na wenn wir das je erleben). Die Bewegung der Schwarzen Flaggen demonstiert gegen ihn, das Volk ist wütend, und unter Druck macht Netanyahu keine gute Figur.  Viele kompetente Leute hat er vergrault, viele wichtige Posten rein politisch mit Jasagern oder Opportunisten besetzt, und sein Privatkrieg gegen das Justizsystem hilft nicht. Bombastische Ankündigungen wie die „Annektion“ am 1.7. sind destruktiv und peinlich, denn am Ende wird nichts daraus (wie aus so vielen anderen Ankündigungen Netanyahus – wo ist der neue Ort auf Trumps Namen, wo die vielen neuen Siedlungen, die er angekündigt, aber nie gebaut hat? wo das Geld, das angeblich jeder kriegen sollte, der in unbezahlten Urlaub geschickt wurde?).

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich reißen sich bald alle zusammen. Tova Lazaroff und Haviv Rettig Gur verlinke ich mal, wenn jemand aus berufenerem Munde als meinem verstehen möchte, wie Israel in dieses Chaos geraten ist. Ja, ich verstehe, daß es schwierig ist, diese Krise über Monate hinweg zu managen, während die anderen Herausforderungen ja nicht verschwinden. Aber muß es eine Kette von ad-hoc-Entscheidungen sein, die widerrufen werden, bevor sie noch bis zum letzten Radiohörer durchgedrungen sind?

Erleichtert Juli 12, 2020, 23:06

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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Heute war ein Kindergarten-Tag ohne Kinder. Alle Kinderhäuser hatten die Anweisung, einen Putz-und-Desinfizier-Tag einzulegen. Ich weiß nicht, wie dieser Tag in anderen Kinderhäusern begangen wurde, bei uns war es eine Art Putzorgie, von der man normalerweise nur träumen kann. Wir haben den Kindergarten auseinandergenommen, gewienert und wieder zusammengesetzt. Eine 2-Liter-Flasche Chlorreiniger haben wir verputzt. Meine Methode, Legosteine und andere Spielsachen sauberzumachen (in ein großes Becken mit Reinigungsmittel legen, 2 Stunden in Ruhe lassen, dann abspülen und in der Sonne mit viel Schütteln trocknen lassen), kam zur glorreichen Anwendung, aber auch die Methode meiner Kollegin (Tuch in Spülmaschine legen, Spielzeug drauf, kurzer Spülgang) ist nicht schlecht, und sämtliche Dinosaurier, Spielfiguren etc sind durch unsere Hände gegangen.

Ich habe mich erboten, die Wäsche für den Kindergarten zu übernehmen, weil die Kolleginnen mit der bisherigen Wäscherei nicht zufrieden waren, und habe jetzt neun Säcke Textilien im Flur, die ich morgen in Angriff nehmen werde – Verkleidungen, Tücher, Stofftiere, aber auch Putzlappen und Handtücher.

Wir haben die ganze Zeit Musik gehört, eine Kollegin hat ein üppiges Frühstück vorbereitet, aber bis auf die Frühstückspause haben wir durchgearbeitet. Jetzt ist die Puppenecke umgebaut, die Wände sind abgewaschen, und mein besonderes Steckenpferd: sämtliche Tische, Stühle und Hocker habe ich umgedreht und auch von unten geputzt. Überflüssige Sachen haben wir entsorgt, und alle Arbeiten, für die man sonst nie Zeit hat, haben wir uns geteilt. So hat das Spaß gemacht.

Wir haben uns sämtliche Sorgen von der Seele geputzt, und ich war die letzte, die am Ende den Schlüssel umgedreht hat.

Vorhin kam dann die Entwarnung: bisher sind alle Tests negativ, und bis auf ein Kinderhaus, wo Angehörige der Kinder noch auf ein Ergebnis warten, kann das gesamte System am Dienstag wieder geöffnet werden. Da der Montag sowieso mein freier Tag ist, verliere ich also kaum Arbeitsstunden.  Mal gucken, wie wir die Kinder nach dieser Krise und Aufregung auffangen und schnell zur gewohnten Routine übergehen. Wir haben uns dazu heute schon Gedanken gemacht. Das besondere Sommerprogramm wollen wir nicht sofort wieder aufnehmen, sondern erstmal ein paar ganz ruhige Tage vergehen lassen. Und dann machen wir viel Kunst.

Hoffentlich ist bald nicht nur in meinem Umkreis, sondern im ganzen Land der Spuk vorbei. Leider steigen die Zahlen weiter an. Busfahren ist zum Albtraum geworden – nur noch 20 Fahrgäste pro Bus, man kann also Stunden damit verbringen, Busse vorbeifahren zu sehen, die einen nicht mitnehmen. Klimaanlagen dürfen nicht mehr benutzt werden, die Busse fahren mit offenen Fenstern, im israelischen Hochsommer kein Vergnügen. Maskenpflicht ist selbstverständlich. Inzwischen sieht man wirklich kaum noch Leute ohne Mundschutz. Sogar im Kibbuz, wo bis vor kurzem nur wenige Menschen mit Mundschutz rumliefen, sind inzwischen alle umgeschwenkt.

Sollte die Regierung tatsächlich kleine Freiberufler wie mich für Einkommens-Einbußen entschädigen, wäre das zu schön, um wahr zu sein. Bisher habe ich nichts bekommen, und das Ausfüllen der Anträge war wie ein Hürdenlauf: nur Gründe, warum ich keinerlei Anrecht habe. Und das, obwohl ich seit 32 Jahren fast ununterbrochen arbeite und bituach leumi bezahle (die Nationalversicherung, die u.a. Arbeitslose unterstützen soll). Im Februar bin ich in unbezahlten Urlaub geschickt worden und hatte bis Mai null Einkünfte. Aber wie mein Mann sagt: der Staat Israel ist gut im Nehmen, weitaus weniger gut im Geben. Wie gut, daß ich wieder arbeite. Sowohl die Arbeit mit den Kindern als auch die schlichte physische Arbeit wie heute tun mir gut. Und morgen unterrichte ich sogar wieder.

Ungern Juli 10, 2020, 18:40

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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sieht man einen geschlossenen Kindergarten, sagt das alte Lied.

 

Gestern hatten wir noch einen besonderen Tag – den Pyjama-Tag. Ich bin zwar nicht im Nachthemd aufgekreuzt, aber ich hatte Erdmann, den Maulwurf dabei, außerdem das Buch vom kleinen Häwelmann. Ich war nicht sicher, ob die alte Geschichte bei Kindern ankommt, die nachmittags Fortnite spielen, aber sie nahmen großen Anteil und mochten besonders das Ende. Die Kinder sind Vorlesen gewöhnt, aber freies Erzählen ist nochmal was anderes.

Der Kindergarten war verdunkelt,  auf dem Boden lagen Picknick-Matten und Kissen, statt Frühstück gab es Abendessen, und obwohl zwei Kolleginnen fehlten, haben wir den Kindern einen schönen Tag gemacht.

Aber in der Nacht wurde bekannt, daß es im Kibbuz und seiner Umgebung noch mehr Menschen gibt, die sich mit dem Virus angesteckt haben, und jetzt ist alles zu. Auch der Kindergarten. Die düstere Prophezeiung einer Mutter ist also eingetroffen, leider, aber ich hoffe natürlich, daß es schnell vorbeigeht und wir wieder zurück an die Arbeit können. Ich bin wieder in unbezahltem Urlaub, und da ich knapp unter den zwei Monaten liege, die man braucht, um Arbeitslosenunterstützung zu bekommen, geht mein Einkommen wieder in den Keller. Mal gucken, ob ich einen anderen Job an Land ziehen kann, ein paar Übersetzungen oder so. Ich unterrichte nach wie vor einmal die Woche. Aber das füllt mich nicht wirklich aus. Vielleicht kann ich mir ja einen Ruck geben und trotz Hitze ein bißchen im Garten arbeiten….

Ich denke mit großer Sehnsucht an die Kinder, die netten Eltern und Kolleginnen, den ausgefüllten Tag und den Kinderlärm. Die Kinder hatten sich gerade wieder unbeschwert gefühlt, die Gruppen waren schon fast wieder vereinigt, und dann diese schnelle Entwicklung. Hoffentlich werden die Betroffenen (keine Ahnung, wer sie sind) bald wieder gesund, und hoffentlich nehmen die Kinder es nicht zu schwer, daß ihr Kindergarten nun geschlossen ist.

Näher und näher Juli 8, 2020, 20:51

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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zu Dir, o Corona…. Inzwischen gibt es auch im Ort Corona-Fälle, im Umfeld eines meiner Kinder und auch im Kibbuz, in dem sich der Kindergarten befindet, wo ich arbeite (im Gegensatz zu diesem SPon-Artikel – danke an den tüchtigen Freund, der mich mit dem Link versorgte).

Da in einem Kibbuz alle eng vernetzt sind, weil sie zusammen arbeiten oder Kinder in derselben Klasse oder im selben Kinderhaus haben, weil sie zusammen Kultur machen, Nachbarn sind oder in einem Ausschuß sitzen oder eine die Zahnärztin des anderen ist… deswegen ist die Besorgnis groß. Familien mit gefährdeten Angehörigen behalten die Kinder zuhause. Die getrennten Gruppen sind zur Verwirrung der Kinder wieder eingeführt, nachdem wir sie neulich erst fast aufgehoben hatten. Wir arbeiten nur mit Mundschutz, machen vieles mit Handschuhen, desinfizieren ständig alles und meine Hände sind schuppig wie greise Alligatoren vom vielen Alko-Gel. Nach wie vor wird jedes Stückchen Apfel getrennt serviert, kein Kind berührt das Essen der anderen, und wir tragen beim Servieren Handschuhe.

Einer der Väter sagte vorgestern: „der ganze Kibbuz ist geschlossen, nur der Kindergarten ist offen!“ Ob er das anerkennend oder grimmig meinte, konnten wir nicht erkennen – Mundschutz allerseits.

Es sind ja Sommerferien, und vor einer Woche war die große Jahres-Abschluß-Feier, wie berichtet. Die Großen, die ab September in die erste Klasse (kita aleph) gehen sollen, sind noch im Kindergarten, denn wir bieten über die Sommermonate eine kaitana, also ein Sommerprogramm. Wir hatten schon den Seifenblasen-Tag, den Schmink-Tag, heute war Sport-Tag (ein Parcours im Kindergarten mit sechs Stationen, wir waren am Ende ALLE alle), morgen ist Pyjama-Tag. Die Kinder haben mich gefragt, ob ich im Schlafanzug komme, und ich hoffe nur, ich kann mir noch was leihen!

Den Pyjama-Tag habe ich übernommen, und es gibt Schattentheater, zwei Gutenachtgeschichten, eine Erklärung, wie man den großen Wagen findet, Kim-Spiele mit geschlossenen Augen und Wiegenlieder aus verschiedenen Ländern. Oh, und statt Frühstück Abendessen. Wer noch Ideen hat, kann sie gern bei mir loswerden 🙂 Aber bitte noch vor Mitternacht, ich gehe nämlich gleich selbst schlafen.

Zweimal die Woche mache ich Kunst, und das Programm sieht wirklich vergnüglich aus. Die Kinder kennen mich inzwischen alle, und meine Sammlung an Kunstwerken, die mir persönlich gewidmet wurden, wächst. Selbst die eher schüchternen Kinder und die, die jeden Personalwechsel sehr schwer nehmen, akzeptieren mich langsam. Ich mache da auch keinen Druck, ich warte immer, bis die Kinder zu mir kommen und mich z.B. zum Spielen einladen. Ich kann gut verstehen, daß sich nicht alle sofort auf eine neue Mitarbeiterin stürzen. Die leitende Kindergärtnerin ist die Haupt-Beziehungsperson, und sie arbeitet schon zehn Jahre dort. Auch zwei Mitarbeiterinnen sind schon viele Jahre dabei. Aber ich bin nun mal neu (wenn auch alt :-D).

Es ist nun, wo ich die Kinder schon besser kenne, interessant und auch etwas traurig zu sehen, wie sehr die Kinder den Streß der Erwachsenen mitkriegen. Obwohl wir uns bemühen, ehrliche, sachliche Informationen zu neuen Regeln etc zu geben, Fragen ebenso ehrlich zu beantworten und ansonsten mit guter Laune die Routine weiterführen, fällt den Kindern natürlich auf, daß die Situation die Erwachsenen bedrückt. Am Tisch wird diskutiert, wer in Isolation (bidud) ist und wer nicht, und „vor Corona“ bzw „nach Corona“ sind feste Zeitangaben. Im Spiel werden schon mal Isolations-Zimmer gebaut.

Was mögen sich die Kinder dabei denken, wenn es um Isolation oder Virus geht? Woran werden sie sich später erinnern? Werden sie alle für ihr Leben unter Bazillenfurcht leiden, Obst und Gemüse mit Klorix waschen und die Türklinken dreimal am Tag mit Desytol besprühen?

Wir bemühen uns sehr, als Team ganz ruhig zu bleiben, obwohl jede von uns natürlich auch private Sorgen hat. Die Kindergruppe ist deutlich kleiner, was die Arbeit oft erleichtert, aber dafür sind die Kinder und Eltern nervöser, die neuen Anweisungen prasseln schneller auf uns ein, und mit Desinfizieren könnten wir uns pausenlos dranhalten. Eine Mutter meinte heute düster, „jetzt werden ganz viele Kibbuzniks getestet, und ihr werdet sehen, was dann los ist“, aber meine Kolleginnen und ich sind uns einig, daß weder Gerüchte noch morbider Pessimismus in Hörweite der Kinder gehören.

Als eines der Kinder heute fragte: „und was, wenn der X Corona hat?“, sagten meine Kollegin am Tisch und ich gleichzeitig: „dann wünschen wir ihm schnelle Genesung“.

Die Zeiten sind merkwürdig. Zu Anfang gingen alle Veränderungen sehr schnell, jetzt scheint die Prä-Corona-Zeit sehr fern. Wie fern erst für Kinder, die ja gar nicht so viel Prä-Corona-Lebenszeit ansammeln konnten.

Ich bin so froh, daß ich diesen sehr besonderen und freundlichen Ort gefunden habe, zu dieser schwierigen Zeit, wo ich meine schwer erworbene Altersweisheit in bescheidener Form loswerden kann.

Corona, Corona, wer will es noch hören? Juli 2, 2020, 21:24

Posted by Lila in Persönliches.
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Mir tun alle Frauen leid, die mit dem edlen, goethisch klingenden Vornamen Corona geschlagen sind – falls es noch welche gibt – denn niemand kann das Wort mehr hören. Nachdem wir Anfang, Mitte Mai gedacht hatten, daß wir vielleicht das Schlimmste hinter uns haben, steigen die Zahlen jetzt irrsinniger an als im März oder April. Aber die Wirtschaft läuft wieder fast normal, d.h., wer Arbeit hat, der arbeitet.

Mir persönlich rückt dieses Virus immer näher auf den Pelz. Ich kenne mehr und mehr Leute, die mit Kranken in Berührung waren und sich nun in Isolation begeben müssen. Zweien davon bin ich sogar relativ nahegekommen in der letzten Zeit, also „nahe“ in Zeiten sozialer Distanz. Tun kann man nicht viel, außer den Hygiene-Ratschlägen Folge leisten, was ich natürlich genau wie alle Menschen meiner Umgebung tue.

Ein Wiedersehen mit meinen Schwiegereltern oder gar meiner Mutter scheint unendlich fern zu liegen. (Post aus dem Ausland habe ich seit vielen Monaten nur noch äußerst spärlich erhalten – meine Geburtstagsgeschenke sind vermutlich verlorengegangen, sonst wären sie doch schon hier, oder?) An Mundschutz bei Hitzewelle haben wir uns fast schon gewöhnt. Gegen das viele Putzen mit Desinfektionsmittel kann man kaum ancremen. Der innere Sorgen-Wasserstand steigt, doch er ist auch abstrakter geworden – aus Bildern und Geschichten sind Zahlen, Tendenzen und Theorien geworden.

Als ich heute in Nahariya an der Ampel stand und um mich herum fast nur noch Leute mit Mundschutz sah, merkte ich, wie sehr ich mich schon dran gewöhnt habe.  Die Gewöhnung befremdet mich mehr als der Anblick selbst. Täglich bekomme ich per Whatsapp vom Ortsvorsteher einerseits, der Vorgesetzten andererseits die neusten Anweisungen und Informationen zugeschickt. So schnell werden wir diese Geschichte wohl nicht los.

Tip von einem Freund Juni 30, 2020, 21:32

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-revival-des-kibbuz-zusammen-leben.3720.de.html?dram:article_id=477068

 

 

Freude, Freude, Freude Juni 30, 2020, 21:31

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Uncategorized.
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Im Moment geht es mir so gut wie seit langem nicht mehr. (Abgesehen davon, daß ich meine Familie und Freunde in Deutschland und Israel vermisse, aber davon reden wir heute mal besser nicht.) Ich habe in allen Bereichen meines Lebens Freude. Langsam kommen wieder Aufträge, ich unterrichte den Sommer über weiter per Zoom und habe auch schon einen Vortrag so richtig vor Publikum gehalten, oder waren es zwei? Unterrichten macht einfach Spaß. Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich tatsächlich dafür bezahlt werde, Leuten was zu erzählen, über die Dinge, die mich brennend interessieren. Verrücktes Konzept!

Im Kindergarten habe ich ebenfalls riesige Freude. Ich fange jeden Morgen als Erste an und oft bin ich noch mit den ersten eintreffenden Kindern allein. Wie sehr mir der Umgang mit Kindern gefehlt hat, wußte ich selbst nicht – ich genieße den Lärm und die vielen Fragen und die Begeisterung der Kinder. Es ist so ein wichtiges Alter.

Heute war eine große Feier – das Schuljahr ist zu Ende, jetzt fangen die Sommerferien an. Die reguläre Kindergärtnerin ist ab morgen in Urlaub, sie wird von einer jüngeren Kollegin ersetzt, und zu dritt planen wir ein Programm für kreative Sommerferien. Das Team hat nämlich entdeckt, daß ich ausgebildete Kunstlehrerin bin (und eines meiner Diplome ist sogar für Kunst in der Früherziehung) und richtige Lehrpläne schreiben kann – mit dem Umsetzen geht es erst in den nächsten Tagen los. Ich war zwar bis jetzt höchst zufrieden mit einer Rolle im Hintergrund, aber eine etwas professionellere Aufgabe ist auch schön. Und ich habe riesige Lust dazu, wieder Kunst mit Kindern zu machen.

Ich habe meinen Zwiespalt zwischen Pädagogik und Kunst ja nie wirklich auflösen können und kann es immer noch nicht. Darum paßt es mir so gut, die Woche zu unterteilen.

Die Abschlußfeier heute war schön, aber auch merkwürdig, weil die Eltern ausgeschlossen waren. Die Kindergärtnerin hat trotzdem eine komplette Feier durchgezogen, es war wahnsinnig viel Arbeit, und eine der Kolleginnen hat alles gefilmt. Die Eltern konnten per Zoom zugucken, wie ihre Kinder tanzen und singen. Sie hatten einen sehr schönen Videoclip aufgenommen, in dem alle Elternpaare vorkamen und in Gebärdensprache ein schönes Lied begleiteten. Das war für die Kinder ein Höhepunkt. Zu diesem Lied:

 

 

Die beiden letzten Lieder und Tänze waren dann draußen vor dem Kindergarten – die Eltern standen mit Mundschutz hinter einem Flatterband. Einer der Väter hatte eine Drohne dressiert, die alles von oben filmte, und die Kinder waren begeistert.

 

Die Atmosphäre in einem Kibbuz ist selbst unter Corona-Bedingungen so freundlich, so offen, ich kann es nicht beschreiben. Die Eltern arbeiten teils im Kibbuz, teils draußen, viele sind auch selbst keine Kibbuzniks, sondern haben sich ein Haus im Neubaugebiet des Kibbuz gebaut. Aber die Entscheidung, die Kinder in einem Kibbuz großzuziehen, sagt schon aus, daß das Familienleben der höchste Wert ist. Und die Kindergärtnerinnen sagen beiden, sie haben an keinem anderen Arbeitsplatz so viel Respekt von Eltern und Kindern erfahren wie in einem Kibbuz-Kindergarten. Sie sind aber auch, jede auf ihre Art, sehr gute, engagierte Pädagoginnen, denen nichts entgeht. Die Eltern verlassen sich auf den Kindergarten, und nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, können sie das auch.

Irgendwas ist immer noch dran an so einem Kibbuz-Leben, auch wenn die Außenwelt natürlich eindringt, was ja auch in vieler Hinsicht gut ist.

 

Ich habe wenig Zeit für die Nachrichten, kriege wohl mit, daß die Corona-Wellen weiter rollen, nicht nur bei uns, und daß Netanyahu sich aus Trumps nie richtig vorgestelltem Plan die Rosinen rauspicken will, die sauren Äpfel hingegen liegenlassen will. Ich habe keine Zeit oder Lust, tiefer in die Materie einzudringen – mein Eindruck ist, daß Trumps Plan nicht grundlegend verschieden ist von den unzähligen früheren, die alle auf Gebietstausch  und -ausgleich hinauslaufen, außerdem die Gründung eines Staats Palästina. Waren frühere Pläne oft zugunsten der Palästinenser gewichtet, hat Trumps Vorschlag wohl eine Schlagseite in Richtung Israel. Daß Netanyahu daraus noch schnell unilaterale Schritte machen will, zeigt vielleicht, daß auch er nicht an einen Wahlsieg Trumps im November glaubt – dann wäre nämlich Zeit geblieben, den Plan erstmal vernünftig durchzuarbeiten. Aber jetzt soll alles husch-husch über die Bühne gehen. Ich halte das für einen Fehler, auch wenn es sicherheitspolitische Gründe dafür gibt. Unter einem Präsident Biden geht es dann wieder in die andere Richtung, und nichts ist gewonnen, dafür aber viel verloren.

Inzwischen habe ich von Bibi die Nase so voll, daß ich nicht mal Lust habe, mehr zu diesem Thema zu sagen oder zu lesen. Ich hoffe, es kommt noch was dazwischen.

So geschehen Juni 7, 2020, 19:10

Posted by Lila in Land und Leute.
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Heute nach der Arbeit, ich sitze am Busbahnhof in Nahariya, einem tristen Ort, auf einer Bank. In einiger Entfernung von mir eine junge Frau mit Mundschutz. Sie sieht aus wie ein orientalisches Schneewittchen. Sie murmelt ärgerlich vor sich hin und beschließt wohl, daß ich der richtige Mensch bin, ihren Frust rauszulassen.

Schneewittchen: Ist das zu glauben, eine ganze Stunde! Eine ganze FUCKING Stunde warte ich hier auf den Bus! Unmöglich! Kannst du dir das vorstellen?

Ich: Vermutlich fährst du sonst mit dem Auto? Habe ich mir gedacht. Leute, die immer Bus fahren, wie ich, finden eine Stunde Wartezeit nicht schlimm. Erst ab anderthalb Stunden nervt es. Aber du hättest besser in einem Cafe gewartet als hier.

Schneewittchen: So? Na, gut daß ich ein Auto habe. Bist du Kibbuznikit? Du klingst, als wärst du aus einem Kibbuz.

Ich (erfreut, daß ich endlich mal nicht wie ne Ausländerin klinge): Ja, bin ich, auch wenn wir nicht mehr im Kibbuz leben.

Schneewittchen: Und guck mal, wie wir jetzt dasitzen, mit diesen bescheuerten Masken. Als würde das was nützen.

Ich: Ja, und es sieht so aus, als würde die zweite Welle tatsächlich kommen.

Schneewittchen: Die 2. Welle, das sag ich dir, die wird schlimmer als die erste. Wir werden uns noch nach der ersten sehnen. Es gibt viel mehr Infizierte, als die Medien berichten. Es wird viele Tote geben.

Ich: Oh, das will ich doch nicht hoffen.

Schneewittchen: Und warte mal, bis die 3. Welle kommt. Dann wird es ganz schlimm. Dann kriegen wir es alle, und dann wird man es uns auch ansehen.

Ich: Wie werden wir dann aussehen?

Schneewittchen: Wie Mumien. Wie Zombies. Das Virus wird uns von innen auffressen.

Ich (taktvollerweise übergehend, daß Mumien und Zombies nicht gleich aussehen): Wirklich?

Schneewittchen: Ja, und dann hilft nur noch Chlor.

Ich: Zum Desinfizieren?

Schneewittchen: Als Behandlung. Das machen die jetzt schon. Jeder, der Corona hat, kriegt Chlor gespritzt. Unverdünnt.

Ich: [sprachlos]

Schneewittchen: Ah, da ist ja der Bus. Tschüs, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!

Ich: Tschüs, und nein, ich vergeß es bestimmt nicht…

 

Ich habe nicht dazugesagt: … allein schon, weil ich das alles in meinem Blog aufschreiben werde, auch wenn es mir keiner glaubt.

 

Die zweite Welle Juni 2, 2020, 20:16

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Persönliches.
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steigt und rollt. In Schulen und teilweise auch Kindergärten gibt es zunehmend neue Corona-Fälle. Viele Kinder sind in Quarantäne, betroffene Schulen geschlossen, und keiner weiß, wie es nun weitergeht. In unserem Kindergarten fangen wir an, schrittweise wieder gemeinsame Aktivitäten einzuführen, an denen beide Gruppen teilnehmen, aber mit minimalem Kontakt. So haben wir unseren ersten Ausflug durch den Kibbuz gemacht, aber die Gruppen gingen getrennt. Es war trotzdem schön, natürlich haben wir Familienmitglieder der Kinder getroffen, das ist im Kibbuz eben so.  Keiner weiß genau, wie es weitergeht, wir bekommen jeden Tag neue Anweisungen und wir achten sehr auf Hygiene, Distanz und Mundschutz. Meine ganze Putzteufelei werde ich im Kindergarten los. Wo eine Kinderhand hingefaßt hat oder hätte hinfassen können, wischen und desinfizieren wir. Es wäre ein Albtraum, wenn es bei uns eine Ansteckung gäbe.

Wir servieren das Essen jedem Kind einzeln, mit Handschuhen, auf desinfizierten Tischen mit Papier-Unterlagen auf Einmal-Geschirr, was wir alle für Quatsch halten (die Spülmaschine spült schließlich sehr heiß, d.h., unser Geschirr müßte virenfrei sein), aber einhalten müssen. Die Eltern dürfen noch immer nicht in den Kindergarten rein, und das ist eigentlich gut, denn so ist der Kindergarten eine Art Arche Noah, und die Abschiede und Wiedersehensfeiern spielen sich auf der Eingangsterrasse ab. Die meisten Abschiede morgens sind vollkommen problemlos, und die Kinder spielen, malen und erzählen vergnügt den ganzen Tag über. Die Sorgen der Erwachsenen scheinen sie nicht zu berühren, trotzdem bin ich sicher, daß sie sich immer daran erinnern werden, an diese ganzen neuen Rituale.

Ich habe weiterhin Spaß daran, ihnen einfach zuzuhören. Heute ging es an „meinem“ Tisch darum, wie komisch behaart Erwachsene sind. Die Kinder tauschten ihr Befremden darüber aus und sprachen dabei über Erwachsene wie über eine fremde, etwas bedauernswerte Spezies.

Gestern fiel für eine Stunde der Strom aus, es war über Mittag recht dunkel im Kindergarten und die Atmosphäre ganz anders, ganz still. Alle wurden ziemlich müde, wir auch, aber es war so friedlich. Das helle künstliche Licht putscht doch ein bißchen auf. Wir haben uns daran erinnert, wie es früher war, als in Kindergärten noch Mittagsschlaf gehalten wurde. Wie die Kinder in ihren Betten rumkasperten, während wir todmüde versuchten, sie zur Ruhe zu bringen. Ich weiß noch, welche Kinderschallplatten liefen. Wenn sie dann eingeschlafen waren, mußten wir sie fast schon wieder wecken, damit sie um vier abholfertig waren. Nein, der Mittagsschlaf fehlt den Kindern nicht, aber eine ruhigere Stunde nach dem Mittagessen ist uns allen lieb. Und dann kamen Freudenrufe, als Licht und Klimaanlage wieder ansprangen.

Gleichzeitig mit den Sorgen über ein Corona-Comeback läuft immer noch das Projekt „Normalität, kehr doch wieder“, und ich werde wieder zu Vorträgen eingeladen, die im Februar und März ausfielen. Tagsüber lasse ich mir also Bananen-Suppen aus Sand und Blättern servieren und desinfiziere kleine Stühle, abends bereite ich Vorträge vor, unterrichte außerdem weiter online, was auch vorbereitet werden muß. und habe keine Ahnung, wie es im Herbst weitergehen soll. Es wird mir jedenfalls seltsam vorkommen, in zwei Wochen wieder vor einem echten Publikum zu stehen – soll ich einen Mundschutz benutzen? das Mikrofon vorher und nachher desinfizieren? wird das überhaupt stattfinden?

Ich hatte gedacht, diese Zeit der Merkwürdigkeiten wäre vielleicht fast vorbei. Aber es könnte noch eine Weile dauern.

 

Nun doch Mai 31, 2020, 19:23

Posted by Lila in Land und Leute.
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Leider höre ich doch wieder Nachrichten – eine zweite Corona-Welle kündigt sich an, und zwar in pädagogischen Einrichtungen, also geht es mich an und ich möchte wissen, wie die Anweisungen entstehen, die wir jeden Tag umsetzen. Bisher betrifft es überwiegend Jerusalem, Tel Aviv und den Süden – aber man weiß nicht, ob nicht auch im Norden Schüler und Lehrer sich anstecken

Und leider steigt mir sofort der Blutdruck bei den politischen Nachrichten. Die gigantisch aufgeblasene Regierung mit ihren Fantasie-Ministerien hat beschlossen, das Budget besonders des Sozialministeriums zu kürzen, damit sie Geld für diese komplett überflüssigen neuen Ministerien hat. Sprich: Arbeitslose, sozial schwache Familien und Rentner bezahlen für diese komplett lächerlichen neuen Minister. Ich spüre den Zorn in Wellen. Itzik Shmuli und Miri Regev sprachen sich zwar wortreich dagegen aus – stimmten dann aber doch dafür.

Ich muß das wieder ausmachen, ich kann einfach nicht glauben, daß aus diesen endlosen Verhandlungen eine solche Albtraum-Regierung entstanden ist. Überall, nicht nur in Nahariya, gehen die kleinen Geschäfte pleite, doch kein Geld ist übrig für ihre Rettung – das muß die Ministersessel für Orly Levy und Yariv Levin zahlen. Guckt Euch die Liste selbst an. Besonders ärgerlich „Minister ohne Portfolio“ und die vielen Vize-Minister. All diese Leute verdienen für den Rest ihres Lebens gut und kriegen dicke Pensionen. An jedem Ministerium hängen Mitarbeiter, Reisebudget etc. Es kostet Millionen von Shekeln.

Nein, ich komme nicht darüber hinweg. Benny Gantz ist eine Nulpe. Wie können er und seine Leute das mitmachen? War das wirklich der einzige Weg, eine Regierung zu bilden?

Was ich dazu sage? Mai 30, 2020, 8:54

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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Wie, was, irgendwas mit Bibi? Regierung? Trump? Weiß ich nichts von. Ich habe, als die Regierungsbildung feststand, einerseits tief durchgeatmet, denn endlich haben wir eine funktionierende Regierung, und ohne ging schon nichts mehr. Dann habe ich noch einmal tief durchgeatmet, als ich gesehen habe, wie viele Operetten-Ministerien errichtet werden, um politische Trostpflaster zu verteilen, das alles auf Kosten der ohnehin schon überlasteten Steuerzahler, und zwar auf Jahrzehnte. Eine gigantische Regierung mit 36 Ministern! und das in Zeiten, wo kleine Geschäfte und auch größere Unternehmen pleite gehen und viele Arbeitnehmer arbeitslos sind.

Nach diesen Atemzügen habe ich das Gesicht abgewandt und endlich auf Quarta gehört. „Mama, keine Nachrichten mehr, du ärgerst dich bloß, und machen kannst du sowieso nichts“. Also bin ich mal wieder im Nachrichten-Moratorium, hüte mich vor Webseiten, Radio und Fernsehen, und ach, das tut eigentlich sehr gut.

So gut, daß ich letzte Nacht einen kleinen Albtraum habe, nämlich daß ich bei deutschen Freunden bin und höre, wie die in der Küche über Israel herziehen. „Wenn Israel mal einen kranken Palästinenser zu fassen kriegt, hängen sie ihn zur Warnung aus dem Krankenhausfenster, sie würden nie einen behandeln…“ und solche Sachen. Irgendwann bin ich wie eine Hornisse in diese Küche geschwirrt und wollte meine „Lügen! Lügen! alles Lügen!“ sagen. Dann fiel mir auf, daß es nur ein Traum war, und es war mir im Traum sehr peinlich, daß ich auf einen Traum reingefallen bin, und habe mich entschuldigt. Aber noch beim Aufwachen war ich etwas grimmig. Ich weiß nicht, was so ein Traum nach dem Traumbuch bedeuten würde, vermutlich irgendwas noch Peinlicheres.

Also werde ich mich demnächst mal nur meinem im Moment sehr ausgefüllten Privatleben widmen. Zwei Wochen Arbeit im Kindergarten habe ich schon hinter mir, die Abläufe sind mir klar, die Regeln auch, und ich kenne inzwischen alle Mitarbeiterinnen. Wir sind ein großes Team, jeden Tag ist die Zusammensetzung anders, was auch daran liegt, daß jede einen anderen Tag als freien Tag wählt (da wir freitags auch arbeiten – der Kindergarten hat die 6-Tage-Woche, alle Mitarbeiterinnen aber nur eine 5-Tage-Woche).  Mein freier Tag ist nicht frei, da ich online unterrichte und schon die Stunde für nächste Woche vorbereite, außerdem unser vernachlässigtes Heim ein bißchen beputze und entstaube. Oh, und die Katzen entschädige, für viele einsam verbrachte Stunden. Eine Vielzahl von Kuhlen in Kissen und Decken zeigt, daß sie sich von Plätzchen zu Plätzchen schlafen.

Am Sonntag werden die beiden Kindergruppen vereinigt, und der Kindergarten, der bisher in zwei Teile geteilt war, wieder so aufgeteilt wie früher. Für mich also alles neu. Insgesamt spürt man in ganz Israel, daß die Leute das Gefühl haben, Corona liegt hinter uns, und so schlimm war es doch eigentlich gar nicht. Ob es nun die Maßnahmen waren, die dazu geführt haben, daß die berühmte Kurve tatsächlich relativ flach blieb, oder ob sowieso nichts passiert wäre, weiß man nicht. Ob nun die gefürchtete zweite Welle kommt, weiß ich nicht – trotz Nachrichten-Boykotts werde ich wohl mitbekommen, wenn tatsächlich die Zahlen wieder hochgehen und die Einschränkungen wiederkommen.

Ich lese auf dem Weg zum und von der Arbeit auf dem lieben Kindlechen viele feine Dinge, das sind meine Erholungszeiten, obwohl in den Bussen immer noch die vordersten Sitze gesperrt sind und alle Mundschutz tragen müssen. Wir hatten eine üble Hitzewelle, da war der Mundschutz wirklich eine Qual und ich hätte in Alco-Gel baden mögen, um mich abzukühlen. Aber jetzt ist es wieder ganz angenehm, nachts sogar etwas kühl, wie herrlich. Natürlich ist das Grün am Wegesrand längst gelb und grau, das Austrocknen der Erde hat angefangen, und obwohl offiziell noch Frühling ist, fühlt es sich an wie Sommer.

Ab morgen werden hoffentlich auch wieder Ausflüge gemacht, dann kann ich mit den Kindern den Kibbuz erkunden, von dem ich bisher nicht viel kenne. Die Kinder sind wunderbar, und wenn ich ihnen zuhöre, spüre ich so richtig, wie ich Kinder in meinem Leben vermißt habe. Ich hoffe, mein Rücken hält durch – aber auch die jungen Kolleginnen sagen, sie haben Rückenschmerzen.

Die Kolleginnen sind übrigens größtenteils nicht vom Kibbuz selbst, nur eine ist eingeheiratet. Nur die Sonderpädagogin, die zweimal die Woche kommt, ist so richtig Kibbuznikit von Geburt an, und sie kommt aus einem Kibbuz, den ich gut kenne, aus derselben Kibbuzbewegung. Ich habe also die „und was ist mit Ron und Arielle, sind die noch in den USA?“-Gespräche nur mit ihr, ihre Eltern kennen meine Schwiegereltern und ihre Großeltern haben mit Y.s Großeltern in der Fabrik gearbeitet, als die gerade gegründet wurde.

Wenn es nur eine Person ist, mit der man so viele Verbindungen aufspüren kann, ist das nett und interessant – aber als ich noch in unserem alten Kibbuz gelebt habe, war es manchmal schon etwas überwältigend, daß jeder Mensch Y. und seine Familie drei Generationen weiter kannte. Manche alten Chaverim waren mit Y.s Oma in Deutschland zur Schule gegangen, da waren dann die Urgroßeltern schon befreundet. Interessant, ja, und auch oft komisch. Ich erinnere mich noch, als Primus ganz klein war und mal furchtbar schrie in seinem agalool-Kinderwagen*. „Ganz der Opa“, meinte eine ältere Frau etwas spitz, als sie vorbeikam. Ja, mein Schwiegervater war auch ein Schreikind, Y. dagegen gar nicht. Das habe ich aus sehr vielen sicheren Quellen erfahren.

In dem Kibbuz, wo ich jetzt arbeite, sind keine Kinder „von draußen“, also alle Eltern (die mir wie große Kinder vorkommen…. viele sind in Primus´ Altersgruppe) sind Kibbuzniks und kennen sich wohl auch sehr gut. Die Eltern dürfen nicht in den Kindergarten, wegen Corona, sie warten also draußen auf ihre Kinder, stehen dort in Gruppen mit größeren Kindern auf Fahrrädern und Kinderwagen. Das ist diese 16-Uhr-im-Kibbuz-Atmosphäre, die ich immer genossen  habe. Der Höhepunkt des Tages – die Familien sind wieder zusammen. Vielleicht müssen manche Eltern später noch eine Runde arbeiten, aber alle bemühen sich, zu diesem Zeitpunkt am Kinderhaus zu sein. Kibbuz-Leben hat zwei Mittelpunkte: die Arbeit und die Kinder. Ich bin froh, daß ich diesen Arbeitsplatz gefunden habe.

 

 

*  Zu diesen Kinderwagen: ich kenne die Gründer von Baby Space seit vielen Jahren, sie sind aus Kibbuz Bet HaShitta. In allen Kibbuzim wurden und werden solche Kinderwagen hergestellt, die eine Mischung aus Ställchen (lool) und Wagen (agala) sind. Kleine Kinder liegen drin, große Kinder stehen, und man kann problemlos mehrere Kinder transportieren. In Kibbuzim macht das Babyhaus seine Ausflüge mit solchen Wagen. Die Kinder haben Aussicht in alle Richtungen. In der Stadt nicht praktisch, aber für ländliche oder eben Kibbuz-Familien ideal.

Ich hatte für Primus und Secundus normale agalool-Wagen aus dem Fundus des Kibbuz. Zur Geburt von Tertia schenkten uns die Freunde aus Bet HaShitta einen selbstgebauten – damals hatten sie die Firma noch nicht gegründet, bauten aber schon selbst solche Wagen. Es war ein knallroter, absolut genialer Wagen, der sich leicht steuern ließ. Wir haben ihn geliebt. Quarta hat ihn auch noch benutzt, danach meine Schwägerin mit ihren dreien. Ich bin sicher, wenn ich vor dem alten Babyhaus nachgucke, steht mein alter Wagen immer noch da und wird genutzt.

Irgendwann haben die Freunde aus Bet HaShitta aus ihrem Können eine Firma gemacht und ich kann sie von ganzem Herzen empfehlen.

 

Eine gute Woche Mai 27, 2020, 5:23

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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und ich kenne die Abläufe im Kindergarten schon ganz gut. Vieles ist anders, als ich es kannte, und auch besser. Im alten Kindergarten haben wir eigentlich nicht mit den Kindern gespielt, da wurde nicht mal der Begriff „spielen“ verwendet, sondern grundsätzlich nur „arbeiten“ – die Kinder arbeiten im Sandkasten, am Wassertisch, im Haushalt (meshek beit – so heißen Puppen-, Küchen- und Verkleidungs-Ecke zusammen mit den großen Bauklötzen, mit denen die Kinder sich ihre Spielwelt zusammenstellen, jedesmal anders). Aber im neuen Kindergarten gibt es eine viele Regale voll mit Brett- und Gesellschaftsspielen, viel mehr als im alten, mit denen die Kinder gern spielen. Sie laden dafür ein, wen sie wollen, eben auch uns, und ich habe schon jede Menge neuer Spiele gelernt. Da wir ein großes Team sind, können wir das auch zeitlich schaffen. Dabei lernt man die Kinder auch richtig gut kennen.

Während ich Frühstück mache und abräume, beobachte ich die Kinder beim Spiel, und das bestärkt meine Überzeugung, wie wichtig soziale Kontakte für Kinder sind. Die in meiner Kindheit verbreitete Auffassung, daß Kinder zarte Pflänzchen sind, die ständig unter Mutters Gluckenflügel gehören, hat wohl vollkommen ausgeblendet, wie Kinder genießen, mit anderen Kindern zusammenzusein. Es gibt lockere Gruppen von Kindern, die täglich zusammen spielen, und echte Freundschaften, auch in Junge-Mädchen-Kombination.

Die Eltern dürfen den Kindergarten noch immer nicht betreten, und wir nehmen die Kinder morgens am Eingang im Empfang. Die Abschiede fallen, wie ich seit Jahrzehnten weiß, den Eltern deutlich schwerer als den Kindern. Tränen habe ich nur einmal dabei gesehen, und das war kurz nach der Wiedereröffnung nach 2 Monaten Corona-Pause. Der normale Abschied ist liebevoll und kurz, das Kind hängt die Tasche auf und läuft zu den Freunden, um Pinguin-Falle zu spielen oder Falafel-König oder sich in eine Welt aus Bauklötzen, Dinosauriern und Lego zu integrieren.

Einmal sah ich eines der süßesten kleinen Mädchen im Krach mit der Mutter. Ich weiß nicht, was da vorher war, aber die Tochter war deutlich sauer auf die Mutter und kam ein bißchen mürrisch rein. Sie ließ das aber sofort hinter sich, als sie die Freunde sah, besonders den besten Freund, der schon auf sie wartete. Sie spielte den ganzen Tag schön, stellte ein ganzes Bilderbuch her und sah vergnügt aus. Dann hieß es, „deine Mutter ist da“, und ich half ihr beim Einsammeln von Tasche und Wasserflasche und begleitete sie nach draußen. Die Spannungen waren sofort wieder da, das konnte ich sehen. (Heute habe ich beiden wieder beim Abschied zugsehen, und er war ganz harmonisch – also kein grundlegendes Problem).

Ich habe ja schon erzählt, wie gern ich sehe, daß die Kinder eigentlich den ganzen Tag lang spielen. Ich habe kein einziges Mal gehört, daß jemand über Langeweile geklagt hätte. Wer keine Lust mehr auf Gruppenspiel hat, der geht in die Lese-Ecke (wo nie mehr als drei Kinder sein dürfen), oder macht ein Puzzle.

Wegen der Corona-Vorschriften dürfen die Kinder manches nicht machen, was sonst normal wäre – sie gucken also nur zu, wenn zur Vorbereitung des Shavuot-Festes Käse hergestellt wird (in anderen Jahren machen sie den selbst, jetzt darf es nur die Kindergärtnerin und sie trägt dabei Handschuhe), aber auch dabei haben sie Spaß. Aber am Freitag haben sie alle ihr Shabat-Brot gebacken, dabei haben einige statt des normalen Hefezopfs Figuren geformt, sie können mit ihrem Teig machen, was sie wollen.

Die täglichen Ausflüge zu Fuß sind auch noch nicht erlaubt, was ich sehr bedaure, denn ich würde gern mehr vom Kibbuz sehen. Hoffentlich geht das ab nächste Woche wieder. Aber die Kinder kommen auch ohne Ausflug aus, keines fragt danach. Und auch ohne den Mittagsschlaf, der im alten Kindergarten gepflegt wurde, kommen sie gut aus. Es ist zwischen 14.00 und 16.00 ein bißchen stiller, aber sie spielen ganz munter weiter.

Die Gruppen sind noch immer geteilt, aber am Sonntag wird der Kindergarten hoffentlich wieder vereinigt. Dann können wir auch wieder das Essen in Schüsseln auf den Tisch stellen, so daß sich jeder nehmen kann, statt wie jetzt jedem Kinder mit Handschuhen getrennt zu servieren. Wir wieseln bestimmt zehn Minuten zwischen den sechs Tischen hin und her, „möchte jemand an diesem Tisch Möhren?“, und die Kinder haben nicht den ganzen Überblick, was es eigentlich alles gibt, auch wenn wir es vorher sagen.

Mundschutz tragen wir im Kontakt mit den Eltern, dann dürfen wir ihn abnehmen. Eine Mitarbeiterin arbeitet auch in anderen Einrichtungen, und sie trägt ihren Mundschutz den ganzen Tag. Wir desinfizieren Tische, Stühle, Türklinken, Lichtschalter etc ständig, und ich fröne meinem persönlichen Hobby, dem Abwischen der Wände und Türen in Kinderhand-Höhe. Ob es was nützt, weiß keiner, aber es riecht nett und die Mutter der Porzellankiste geht auf keine Kuhhaut.

Sollte es das gewesen sein mit Corona? Ich weiß es nicht, denn Nachrichten sehe und höre ich nicht mehr. Ich hoffe es aber.

Alte Ente paddelt sich warm Mai 20, 2020, 21:30

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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Es ist schon viele Jahre her, seit ich das letzte Mal in einem Kibbuz-Kindergarten oder Kinderhaus gearbeitet habe (und überhaupt noch nie in Nicht-Kibbuz-Kindergärten) – viele Jahre, die ich größtenteils unterrichtenderweise verbracht habe, und zwar mit Publikum, das sich allein die Nase putzen konnte.

Ich habe auch zu meiner großen Freude die Möglichkeit, weiter zu unterrichten. Meine Woche wird zwar gut voll sein, aber meine Kinder sind ebenfalls imstande, sich allein die Nase zu putzen – für die Katzen ist es allerdings eine Umstellung, so viel allein zu sein, aber sie schlafen eben noch ein bißchen mehr. Gut, daß ich nicht aufs Unterrichten verzichten muß, das würde mir doch sauer.

Drei Tage Arbeit sind natürlich noch keine Grundlage für eine umfassende Beurteilung, und was die Kolleginnen über mich denken, weiß ich auch noch nicht. Die Probezeit beträgt drei Monate, und es ist möglich, daß ich dann sage: das war sehr, sehr nett, aber auf Dauer ist das zu viel für eine alte Mama Ente. Aber das Schöne ist – ich habe in diesen drei Tagen gesehen, daß ich es noch kann.

Die Arbeit ist körperlich verdammt anstrengend, das wußte ich. Wie bereits erwähnt, glaubt man im Kibbuz nicht, daß es entwürdigende Arbeit überhaupt gibt, weil JEDE Arbeit Würde hat, und darum wird geputzt und erzogen und gespielt und geputzt. Die Kindergärterin putzt weniger, ist mehr mit den Kindern, aber auch sie greift zum Besen oder Lappen. Und der Rest des Teams, mal fünf, mal sechs Frauen, kümmert sich um die Sauberkeit in einem sehr großen Haus, um Essen und Garten und Spielplatz. Die Kinder haben ihren festen Tagesablauf (jetzt allerdings durch Corona sehr kompliziert geworden), und wir haben unseren. Ich hatte Angst, daß ich das nicht mehr durchhalte, Eimer voll Wasser mittels Gummilippe durch den Kindergarten zu jagen, aber ich habe noch immer Spaß daran, wie früher.

Der Rücken tut mir allerdings teuflisch weh, denn natürlich bücken wir uns ständig, Die Tische, die wir schrubben, sind niedrig, die Stühlchen, auf denen wir sitzen, sind Kinderstühlchen (im ganzen Kindergarten gibt es nur einen „normalen“ Stuhl, und der steht in der Abstellkammer, falls ihn bei einer Geburtstagsfeier mal ein Großelternteil braucht). Selbst unser Team-Klo ist Miniatur. Niedrig sitzen ist eigentlich kein Problem, aber die Rückenlehne drückt sich genau dort in meinen Rücken, wo mir eine alte Narbe wehtut. Ja, das Jammern mußte sein, aber ich wußte es – im Kibbuz-Kindergarten hat alles Kinder-Format.

Das waren also die Schwierigkeiten, doch nun die große, riesige innere Freude. Ich habe immer Kinder geliebt, seit ich meine Puppen versorgt habe, und ich hatte immer Spaß daran, ihnen zuzuhören. Aber ich glaube, das große Staunen, die innere ja-fast-Andacht darüber, wie interessant Kinder sein können, das alles schenkt einem erst ein gewisses Alter.

Ich muß dazu sagen, daß diese Kinder extrem gut erzogen sind. Sie können ihre Wünsche und Probleme so klar formulieren, daß ich großen Respekt für die Eltern und das pädagogische Team empfinde. Es gibt kaum Streit zwischen den Kindern. Wenn sie Probleme miteinander haben, wenden sie sich an die Erwachsenen. „Ich möchte gerne mit Liel und Amit in der Puppenecke spielen, aber sie lassen mich nicht mitmachen“. Die Mitarbeiterinnen verschwenden keine Zeit auf „wer hat angefangen“ und „ja schämt ihr euch nicht“, sondern suchen ruhig eine Lösung, die alle zufriedenstellt. Weil die Kinder das wissen, wenden sie sich auch gern an die Mitarbeiterinnen. Ansonsten spielen sie autonom.

Wegen Corona (Mensch, wie wir das Wort alle satt haben!) dürfen sie nicht auf Ausflüge gehen, sind in zwei Gruppen aufgeteilt (die Roten und die Blauen), ist der Kindergarten unterteilt, auch der Spielplatz draußen, die Toiletten ebenfalls, jedes Kind darf nur einen Stuhl benutzen, und alles ist Namen oder roten bzw blauen Punkten gekennzeichnet. Trotz dieser Komplikationen, die gute Freunde trennt und vielen Kindern schwerfällt, sehe ich, wie die Kinder von morgen um 7.15 bis nachmittags um 15.40 von Spiel zu Spiel rollen. Morgens sitzen sie an den Tischen, spielen Brettspiele oder mit diversen Spielsachen, die jeweils thematisch in Kästen sortiert sind. Die Brettspiele und Puzzles holen sie selbst, die Kästen mit Lego etc bringen wir ihnen.

Die Kinder laden auch uns manchmal ein, mitzuspielen. Ich habe schon mehrere neue Spiele gelernt, worunter „König des Falafel“ mein liebstes ist.

Frühstück dürfen wir ihnen (noch) nicht zubereiten, dabei ist das klassische Kindergarten-Frühstück ein Gedicht für sich – viel Gemüse, Salat, Hüttenkäse, Oliven. Ich werde nie vergessen, als ich dieses Frühstück zum ersten Mal sah. Noch müssen die Kinder ihr Frühstück von zuhause mitbringen. Süße Aufstriche etc sind dabei tabu. Alles ist gesund, und der Salat, den ich jeden Morgen schnibbele, ist nur für das Team.

Nach dem Frühstück machen wir natürlich sauber, und die Kinder dürfen nun in den verschiedenen „Ecken“ spielen. Arzt-Ecke, Puppen-Ecke, die wunderbaren großen, hohlen Bauklötze, aus denen sie ganze Welten bauen, die Verkleidungs-Ecke, Bücher-Ecke, Natur-Ecke, das Puppenhaus, die Dinosaurier, die Küchen-Ecke…. Die Kinder verteilen sich in Gruppen, fangen an zu bauen, zu spielen, sich zu verkleiden.

Nach 20 Minuten hört man nur noh eifriges Summen. „Und wenn dann der König käme, dann würden wir hier das Schloß bauen…“ „Mach du den Schoko, ich mach den Kuchen“ Ich kann nur bewundern, wie komplett die Kinder in ihr Spiel versinken.

Ein Junge zieht sich Papprollen, die von irgendeiner Fabrik stammen, über die Ober- und Unterarme, stopft sich weitere Rollen hinten ins T-Shirt und stakst wie ein Roboter durch den Kindergarten. Ein Junge sitzt allein vor dem Puppenhaus, in dem Puppen und Pferde zusammenleben. Zwei kleine Mädchen füttern die Babypüppchen. Eine ganze Gruppe spielt Königshaus. Eine andere ahmt wohl irgendeinen Film nach und fuchtelt mit den Armen wie im Kampf mit unsichtbaren Schwertern. „Die Macht ist jetzt bei euch, aber wir nehmen sie uns wieder“, und trotzdem wird kein Streit daraus.

Während ich die Stühlchen scheuere und die Spülmaschine belade, höre ich einfach nur zu und habe Spaß.

Wenn die Spielzeit dann vorbei ist, sagt die Kindergärtnerin, daß nun aufgeräumt werden muß. Und das macht sie so (ich liebe diese Tricks von Kindergärtnerinnen). Sie fängt an zu singen: Ich habe eine wichtige Nachricht…. und die Kinder antworten: …. und wir hören zu. Falls es noch nicht alle gehört haben, singt sie es noch einmal, und dann hören alle zu. Und dann sagt sie: wir wollen gleich essen, und jetzt muß aufgeräumt werden. Alles an seinen Ort!

Und dann kann man sehen, wie die Kinder ohne weiteres Antreiben die Sachen, mit denen sie gespielt haben, zurück an ihren Platz bringen. So oft ich das gesehen habe, so sehr staune ich immer noch. Natürlich funktioniert das zuhause mit den eigenen Kindern nicht so gut. Aber im Kindergarten geht das ruckzuck.

Zweimal am Tag gibt es das Treffen (mifgash), zu Deutsch wohl Stuhlkreis. Die Kindergärtnerin muß das jetzt alles doppelt machen – wenn die Roten im Treffen sind, spielen die Blauen draußen (darüber muß ich mal gesondert schreiben) und umgekehrt. Sie entläßt die Kindern zum Wassertrinken und Händewaschen in kleinen Gruppen, wie ein Spiel. „Jetzt geht ein Mädchen mit einem Katzen-T-Shirt und ein Junge mit Spiderman-Sandalen“. So gibt es kein Gedränge an den Waschbecken und dem Tisch mit den Wassrflaschen (ebenfalls dank Corona persönliche super-raffinierte Flaschen, die wir ständig nachfüllen).

Ein kleiner Junge liebt besonders die Natur-Ecke. Mit einer Lupe betrachtet er die Vogelfedern, die sie auf Ausflügen im Winter gesammelt haben, und vergleicht sie mit einem Vogelbuch. Dann zeigt er mir seine Lieblingsfeder. Derselbe Junge gibt beim Mittagessen seine Theorie vom Urknall bekannt. „Es war mal ein Urknall, und der hätte die Erde fast kaputtgemacht“.

Das Mittagessen wird von einer Catering-Firma geliefert, wir müssen es mit Handschuhen auf Einmal-Geschirr austeilen und dürfen den Kindern nicht mal mehr Obst schneiden. Eine Mitarbeiterin sammelt jedes Fitzelchen übriggebliebenes Essen ein für die Straßenkatzen ihres Wohnorts.

Zu anderen Zeiten werden Tische mit Gouache-Farben, Collage-Material, Ölkreiden, Knete und anderen Materialien aufgemacht. Die Kinder bekommen das Material, was sie damit machen, bestimmen sie selbst. Wer nicht will, läßt es.

Das war ja gleich etwas, das mir damals im Kindergarten auffiel – daß es nicht hieß, „heute malen wir Marienkäfer, dafür zeigen wir euch mal, wie das geht“ oder „heute basteln wir einen schönen Untersetzer für einen Blumentopf“, sondern – „hier ist die Farbe, legt los“. Und die Ergebnisse sind natürlich einfach wunderbar.

Ein kleines Mädchen ist sehr kreativ und außerdem auch sehr beliebt. Sie beschloß schon vorgestern, daß sie eine Party gibt, um das Ende von Corona zu feiern. Dafür bastelte sie aus Papier einfache Taschen, die sie schön bemalte. Der ganze Kindergarten kriegte solche Taschen. „Da kommen die Süßigkeiten rein auf unserer Party“. Dann gab es Armreifen und schließlich Kopfschmuck. Die Gruppe um dieses Mädchen herum heftete sämtliche Heftklammern leer und arbeitet schon seit drei Tagen an der Vorbereitung für diese Party.

Am Rande dieser Gruppe saß ein stiller kleiner Junge, jünger als die führenden Kinder. Er sah sich an, wie man mit den kleinen Heftern arbeitet, und legte dann selbst los. Er bastelte sich einen Reifen für den Kopf, auf den er vorn ein rundes Schild heftete, und malte alles gelb an. Dann baute er sich Armschoner wie die von Wonderwoman, ebenfalls in gelb. Er plagte sich ziemlich damit, sich diese Schoner selbst anzulegen, aber wir warteten ab, ob er um Hilfe bittet. Für den zweiten Armschoner brauchte er etwas Hilfe, aber dann war er fertig ausgerüstet.

Und ging nun ganz für sich durch den Kindergarten mit einem verträumten Gesicht. Zwischendurch hob und kreuzte er die Arme. Ob er spielte, daß er ein Superheld ist oder zaubern kann oder sich unsichtbar machen kann, weiß ich nicht. Auch nicht, ob es jemand außer mir auffiel. Aber ich kann gar nicht sagen, wie mich das berührte, dieser kleine Junge, der so still strahlend mit seiner selbstgebastelten Ausrüstung durch den Kindergarten ging.

Für mich ist klar, daß das viel wichtiger ist als die früher in deutschen Kindergärten angestrebten Bastelfertigkeiten – Schablonen sauber ausschneiden, Wattewolken-Mobiles nach Vorbild nachbauen und so weiter. Ja, ich habe solche Bücher noch zuhause, hoffe aber innig, daß es das nicht mehr gibt. Die Erinnerung an meine Kindergärtnerin Ende der 60er Jahre, die mit dem Radiergummi herumging und unsere Zeichnungen verbesserte, ja die mir meinen schönen Igel ausradierte, die sitzt noch tief.

Bestimmt werde ich noch sehen, daß sich Kinder weniger als so wunderbar benehmen, und tatsächlich hatte ich heute Gelegenheit, Widerstand zu sehen. Die Roten, die ich weniger gut kenne, spielten in den „Ecken“, und zwei Jungen tobten ziemlich herum, wobei sie große, wirklich gefährlich aussehende Mikado-Stäbe herumfuchtelten. Morgens hatte eine Kollegin ihnen die schon weggenommen. Ich fragte trotzdem nach (will mir ja nichts anmaßen), ob es okay ist, wenn ich sie ihnen nun auch wegnehme, die Kollegin sagte, ja klar, und ich schritt zur Tat.

Die Kinder, die mich wirklich nicht gut kennen, wollten mir natürlich die Mikadostäbe nicht ausliefern (ich hatte sie vorher dreimal verwarnt, sie fuchtelten jedesmal weiter und guckten, ob ich es auch sehen kann). Ich blieb aber unnachgiebig, und schließlich hatte ich die Stäbe in der Hand. Da sah mich einer der Jungen zornig und empört an. „Was du machst, das ist ganz gemein. Man darf Kindern nichts stehlen!“ Ich stimmte ihm sofort zu, nein, man darf Kindern nichts stehlen, und es ist gut, daß er das weiß. Ich zeigte ihm dann, wo die Mikadostäbe sind, und daß er morgen früh mit ihnen spielen kann – aber nicht als Waffe, sondern eben als Mikado. Ich sagte ihm auch noch einmal meinen Namen und daß ich weiß, er kennt mich noch nicht.

Eine halbe Stunde später kam der Junge zu mir und fragte, ob er aufs Klo kann (ja, die Klos sind natürlich auch nach blau und rot unterteilt, und um Treffen von Roten und Blauen zu vermeiden, müssen wir die Klobesuche absprechen). Daran sah ich, daß er meine Autorität anerkannt hat, widerwillig, und es wird wohl eine Weile dauern, bis er mir verzeiht. Mir hat aber gefallen, daß er sich so gewehrt hat, und zwar verbal. Er weiß ja wirklich noch nicht, ob sie ihm nicht eine böse Frau geschickt haben, die den Kindern Sachen wegnimmt.

Auch draußen war eine kleine Probe. Eine Gruppe Jungens entdeckte einen Mistkäfer und fing an, ein bißchen Hysterie zu mimen. „Iiiiih, ein Mistkäfer im Sandkasten, was machen wir jetzt?“ Ich sagte, „laßt den armen Käfer mal, der möchte lieber auf die Wiese“, nahm den Käfer in die Hand und trug ihn zur Wiese. Ungern, aber es war gut, daß ich es getan habe, denn die Jungens spielten sofort schön weiter.

Zum Spiel im Sand kriegen sie auch Wasser, sowohl in Behältern als auch als leichte Dusche von oben, wo sich unter den Schlauch stellen kann, wer will (ich habe mich gestern auch besprühen lassen). Die Kinder tragen grundsätzlich Arbeitsklamotten, die dreckig werden dürfen, ja sollen. Das gefällt mir.

Der Spielplatz draußen ist besonders – diese Spielplätze sind, wie die hohlen großen Bauklötze, eine Spezialität der Kibbuzbewegung. „Chatzer grutaot“ ist eigentlich unübersetzbar – chatzer ist draußen, Hof oder Platz, und grutaot ist Sperrmüll. Aber es ist natürlich kein Müll, sondern ausrangierte Sachen von Erwachsenen, die dort unter einem Dach stehen, und aus denen die Kinder sich kleine Welten bauen können.

Hier sind viele Bilder davon. Natürlich ist jede chatzer grutaot individuell. Die Erwachsenen stiften alte Herde, Betten, Boote, Maschinenteile, Pfannen, alles mögliche, Bei Google Translate kann man sich auch diesen Artikel übersetzen lassen, wenn einen die Geschichte dieser Idee interessiert. Deutsche Besucher, denen ich natürlich immer diese jedem Kinderhaus angeschlossenen Spielplätze gezeigt haben, sagen meistens: „ja ist denn das nicht zu gefährlich?“, aber natürlich sind immer zwei Erwachsene dabei, und die Kindergärtnerin geht regelmäßig durch und überprüft, daß nichts Spitzes oder Quetschendes in der chatzer steht.

Die Kinder lieben das Spiel mit diesen echten, ausrangierten Gegenständen. Sie arrangieren sich „Gebäude“ (bniyot), und im Gegensatz zu den gebauten Welten im Kindergarten, die noch am selben Tag abgebaut werden, dürfen die draußen stehenbleiben. Manchmal spielen die Kinder über Wochen in der Welt, die sie immer weiter perfektionieren. Wir greifen nicht ein, sondern achten nur auf alle Kinder und daß alles friedlich zugeht.

So vergeht der Tag. Zwischendurch werden dreimal die Klos incl Wände und Türen gründlichst geputzt. Die Tische werden ständig abgewischt, die Küche ist ständig aktiv (offene Küche im selben großen Raum). Die Kinder können sich ruhig dreckig machen, das Haus muß tadellos sauber sein. Es gibt keinen Fernseher und keinen Computer im Kindergarten, und im Gegensatz zum Kinderhaus von früher schlafen die Kinder dort auch nicht. Sie arbeiten nach dem Mittagessen still. Mindestens eine der Kolleginnen liest den Kindern was vor.

Die einzigen, die ein Handy in die Hand nehmen, sind natürlich die Erwachsenen. Die Kinder können darauf verzichten. Bestimmt haben sie allen Kram zuhause, aber die Bullerbü-Fähigkeit von Menschenkindern, einfach mit einer Puppe, einem Kissen, einem Dinosaurier und ein paar Legosteinen einen Tag glücklich hinzubringen, ist nach wie vor noch da.

Mir fiel im Laufe dieser Tage wieder auf, wie sehr die Idee der Kibbuz-Erziehung meinen Überzeugungen entspricht. Ich kenne die PH, an der all diese Ideen über Jahre hinweg in einem Versuchs-Kindergarten entwickelt wurden, aus nächster Nähe – ich habe dort selbst studiert und unterrichtet. Tatsächlich war mir schon ganz entfallen, daß einer der akademischen Abschlüsse, die ich früher mal gesammelt habe, Künstlerische Früherziehung lautet. Was aber nicht bedeutet, daß ich so einen Kindergarten leiten könnte. Ich bin mit meiner Rolle im Hintergrund mehr als zufrieden.

In einer Zeit, in der ein Yoav Galant das Erziehungsministerium zugeschustert kriegt, weil Bibi ihm einen Hering zuwerfen muß, damit Galant weiter Bälle auf der Nase balanciert – obwohl Galant für das Amt so qualifiziert ist wie ich für das Verteidigungsministerium – in einer Zeit, in der die Erwachsenenwelt mit ihren Ansprüchen die Welt der Kinder überwuchert, kontrolliert und normiert – da ist es wichtig, Inseln wie Kibbuzim am Leben zu erhalten.

Mir fielen auch junge Familien ein, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, die ihre Kinder auch über alles lieben und nur das Beste für sie wollen, aber ihr Geld in rosa-lila-Elsa-Plastik-Welten investieren, in denen alles vorgegeben ist. Eine Mutter kam sofort mit Feuchttüchern angerannt, als ich mit ihrer Tochter malte (sie hatte nur Filzstifte), um dem Kind die Finger abzuwischen. Sehr nette und gebildete Leute, aber ich glaube, die Töchter haben noch nie einfach dagesessen und mit Hosenknöpfen gespielt. Gegessen wurde in einer Familie vor dem Fernseher, in dem ein Kinderkanal dudelte, der den Eltern verspricht, die Kinder intelligent zu machen. Daß die Töchter so intelligent waren, hatten sie bestimmt nicht dem Fernsehkanal zu verdanken.

Zum Abschluß was Nettes. „Duhu, bist du eigentlich eine Oma?“ „Nein, ich bin noch keine Oma“ „Schade, aber“ (und hier wurde der Ton tröstend) „du siehst schon aus wie eine Oma!“ Das war ein Kompliment und so habe ich es auch aufgenommen.

Ich hoffe, mein Rücken hält durch und meine jungen Kolleginnen ertragen mich. Selbst wenn ich irgendwann im Herbst wieder in mein altes Leben zurückkehre – diesen Sommer im Kindergarten genieße ich trotz Hitzewelle, Fliegenplage, Problemen mit Corona-Einschränkungen und anderen Widrigkeiten ganz und gar.

 

Wieder auftauchen Mai 15, 2020, 10:27

Posted by Lila in Persönliches.
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Seltsame Monate waren das. In Israel waren die Einschränkungen deutlich restriktiver als in Deutschland, das fing schon Ende Februar an, Schließung der Grenzen und Quarantänepflicht für Einreisende (nicht immer konsequent gehandhabt) waren der Anfang. Zwischendurch durften wir über Wochen nicht weiter als 100 m vom Haus weg sein, nur mit Sondergenehmigung konnten Y. und Quarta zur Arbeit. Ich war die ganze Zeit Hausmütterchen, was ich ja eigentlich gern mache. Tatsächlich war zwischendurch das Haus mal ein paar Stunden lang auf dem Eichpunkt der Perfektion.

Abends gab es meistens, was wir die Bibi-Show nannten – also Erklärungen vom Premierminister, Gesundheitsminister und Experten, die uns die Lage erklärten, neue Anweisungen gaben, uns sehr für unser Verhalten lobten und dann sich selbst noch mehr für ihr eigenes Handeln. Die Routine des Ausnahmezustands.

Für uns war es erträglich, weil wir keine kleinen Kinder haben, die wir belehren, bespaßen und bei Laune halten müßten. Ja, ich vermisse meine Großen, die ich eeewig nicht gesehen habe, meine Mutter und Geschwister, die mich zu meinem Geburtstag im April besuchen sollten, und meine Schwiegereltern. Telefon und Zoom und Whatsapp helfen, aber sehen möchte man sich eben doch. Wenn man aber weiß, daß es überall auf der Welt Leuten ähnlich geht, schickt man sich drein und denkt, wenn es notwendig ist, dann sind wir lieber übervorsichtig statt leichtsinnig.

Ich konnte einige lang vor mir hergeschobene Projekte im Haus abhaken, andere habe ich natürlich weitergeschoben. Es ist erstaunlich, aber man kann sich tatsächlich einen ganzen Tag lang in Haus und Garten beschäftigen, und trotzdem ist immer noch was zu tun. Ja, man kann sich die Zeit selbst einteilen, aber man ist auch viel allein, und irgendwann fängt man an, das Spülbecken mit Zahnpasta zu polieren und hinter jedem Wasserfleck herzujagen wie der Teufel hinter der armen Seele.

Was schön war: wir sind alle drei jeden Morgen um fünf aufgestanden, Y. und Quarta, um sich für die Arbeit fertigzumachen, ich, um ihnen ein schönes Verwöhn-Frühstück zu machen. Obwohl es eigentlich für uns alle zu früh ist, haben wir jeden Morgen zusammengesessen, und abends zum Abendessen noch einmal, und es ist wirklich viele Jahre her, daß wir diese Art Familien-Idyll hatten. Und ich habe es sehr genossen. Ich bin ja eigentlich kein sehr sozialer Mensch und kann gut alleine klarkommen, aber selbst für mich, mit zwei Hausgenossen, drei Katzen und Tausenden Büchern auf dem Kindle (und den Wasserflecken!) fand die Isolation schwierig. Wer das ganz allein bewältigen mußte, hat es bestimmt noch schwerer empfunden. Ganz zu schweigen von Kranken und ihren Angehörigen.

Irgendwann konnte ich dann anfangen, online zu unterrichten, aber meine Arbeitswoche war auf das absolute Minimum geschrumpft – eine Stunde pro Woche per Zoom. Und das, wo ich keinerlei Anspruch auf irgendeine Entschädigung oder Unterstützung habe (ja, wir haben es versucht, aber ich erfülle die Kriterien nicht).

Vor einer Woche war ich zum ersten Mal wieder in Nahariya. Die Mundschutz-Pflicht stört mich nicht – sollten wir alle anfangen, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen, mehr auf Sauberkeit und Hygiene zu achten und einander vor allen Arten fieser Viren zu schützen, dann nehme ich das komische Gefühl gern in Kauf. (Da läßt man sich für teures Geld die Zähnchen schön richten und keiner sieht sie! und mein Lieblings-Lippenstift kann auch eingemottet werden). Verstörender fand ich, wie viele kleine Geschäfte zugemacht haben. Das Hochwasser im Januar hat Existenzen vernichtet, und wie kleine, selbständige Geschäfte jetzt überleben sollen, weiß ich nicht.

Mein erster Weg führte mich natürlich in den Woll-Laden meines Vertrauens, mit dessen Besitzer und Mitarbeiterin ich mich die ganzen Jahre über geradezu angefreundet habe. Ich bin eigentlich immer, wenn ich auf den Bus warten mußte, zu diesem Laden gegangen und habe mehr Garn gekauft und mich über Stiche und Muster und Garnqualitäten ausgetauscht, und der Besitzer hat mir erzählt, wie schwierig es ist, in Nahariya einen kleinen Laden zu führen. Zwischendurch wollte er mal zumachen, dann ging es doch wieder. Doch als ich letzte Woche hinkam, da packte er gerade die letzten Regale zusammen. Der Laden ist zu. Ich war entsetzt. Wo soll ich jetzt hingehen? wo gute Wolle herbekommen? und was passiert mit den vielen Geschäftsleuten, denen es so geht wie dem Woll-Mann?

Vorgestern stieg der persönliche Streßlevel weiter in die Höhe, als ich einen Warnbrief von der Rentenkasse bekam – keine Einzahlungen von meinen Arbeitgebern mehr, und den Rest konnte mein Hirn nicht mehr übersetzen. Ich sah mich als altersschwaches Weiblein in Nahariya an einer Straßenecke sitzen, mit offenem Hut und einem Poster von Cezanne, das ich mit zittriger Stimme analysiere. Singen oder Akkordeon spielen kann ich ja nicht. Wie schön so ein soziales Netz ist, merkt man erst, wenn man es nicht hat.

Da habe ich schnell durch ein paar Job-Börsen-Webseiten geblättert und etwas gesehen, was mir ins Auge stoch – ein Kibbuz nicht weit von hier sucht MitarbeiterInnen für den Erziehungssektor. Das habe ich ja viele Jahre lang gemacht,  als ich neu in den Kibbuz kam und während meine Kinder klein waren. Und ich habe es sehr gern gemacht. Ich bleibe ja immer am Kindergarten hier im Ort stehen, wenn ich zum Postfach gehe, und höre den Kindern zu, und freue mich. Also habe ich spontan die Telefonnummer angegeben, bekam freundliche Antwort, schickte meinen Lebenslauf und sämtliche Zeugnisse hin (worunter auch ein Bachelor in Kunst-und-Frühpädagogik ist, den hatte ich ganz vergessen), wurde für den nächsten Tag zum Gespräch eingeladen und genommen. Montag fange ich an. Meinen Online-Unterricht kann ich weitermachen, und sollte im Oktober der Unterricht wieder regulär weitergehen, kann ich meine Woche neu arrangieren.

Es war so schön, wieder in einem Kibbuz rumzulaufen, wieder in einem Kinderhaus zu stehen und die ganz besondere Atmosphäre zu spüren. Die Erziehungsphilosophie der Kibbuzbewegung ist auch meine. Und zum Kibbuz-Gedanken gehört auch, daß man sich nicht daran stört, ganz unten wieder anzufangen. Ich hoffe, ich kann das noch. Wenn es klappt, kann ich die Kategorie Kibbuz hier im Blog wiederbeleben, das wäre doch toll! Und wenn nicht, dann habe ich wenigstens den Sommer überbrückt.

 

 

Wie geht es uns jetzt? April 1, 2020, 13:08

Posted by Lila in Persönliches.
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Uns allen? Langsam haben wir alle kapiert, daß diese Corona-Geschichte wohl nicht so schnell vorübergeht, wie wir gern hätten. Und selbst wenn die erste Welle, möge sie flach sein, durchgerollt ist, müssen wir schon die nächste verhindern, die, glaubt man Experten, wohl kommen wird.

Wie wenig die westliche Welt, trotz aller Beteuerungen, wirklich gewapnnet war, zeigt das Mundschutz-Debakel. Erst versichern, wir brauchen so ein Ding nicht – dann, nach Wochen, kleinlaut zugeben, doch, wir hätten sie wohl gebraucht, nur leider waren sie nicht da. Wenn man dann darüber nachdenkt, was sonst noch ans Licht kommen wird, könnte man geradezu trübsinnig werden. Natürlich kann kein Staat solche Dinge, die wohl auch nicht endlos haltbar sind, nicht für den Fall eines Falles in Mengen bunkern, die für die gesamte Bevölkerung reichen. Aber daß die Produktion solcher Artikel nicht für den Notfall heimisch eingeplant sind, und daß zu Anfang nicht die Wahrheit gesagt wurde, ist ein kleines Fragezeichen.

Jetzt weiß ich nicht, ob die vielen Anleitungen im Internt wirklich nützlich sind und wir in die klassische Rolle der Mullbinden-wickelnden, Scharpie-zupfenden und Pulswärmer-strickenden Zivilistinnen im Krieg zurückverwiesen sind (wobei sich nähende, strickende Männer selbstverständlich mitgemeint fühlen sollen), oder ob das der nächste SelbstberuhigungsHoax ist, über den wir später lachen werden (abgeklebte Fenster und nasser Aufnehmer unter der Tür, ich meine euch, ja).

Die Zahlen steigen, die Medien konzentrieren sich auf bestimmte Themen, die sie zu Tode reiten (hier bei uns die regelmäßige Empörung über die Ultra-Orthodoxen, die die Epidemie so lange ignoriert haben, bis wichtige Rabbiner aus Brooklyn erkrankten, und von denen immer noch ein Teil medizinische Teams mit Steinen bewirft und sich trotzig zu Dutzenden oder Hunderten versammeln).

Für mich als Laiin ist es praktisch unmöglich zu entscheiden, welche Expertin nun Recht hat und welche Prognose eintreffen könnte. Manche sehen uns ab sofort in einem endlosen Kampf gegen ständig mutierende Corona-Viren, andere sagen, nach Pessach wird langsam Normalität einkehren, ich höre allen zu und fasse mich in Geduld, was kann ich sonst tun?

Daß sich der politische Knoten hier in Israel gelöst hat, ist erstmal gut. Eine vierte Wahl wäre katastrophal gewesen. Ob der Corona-Ausbruch nun reine Ausrede für Gantz war oder er wirklich den Druck fühlte, politische Auseinandersetzungen beiseite zu tun, weiß keiner. Aber die vielen Zusammschlüsse verschiedener Listen und Parteien, die sich bei den letzten und vorletzten Wahlen gebildet hatten, um mehr Einfluß auszüben, sind nun alle wieder zerplatzt, und zwar noch weiter zersplittert als vorher. Auch innerhalb der Bestandteile von Blau-Weiß haben sich Weggefährten getrennt, die Arbeitspartei ist in sich selbst gespalten (so klein wie sie geworden ist, so spaltungsfroh bleibt sie), alle sind miteinander verkracht, und die frühere treue Weggefährtin Gantz´, Orna Barbivai (die als hohe Offizierin viele Jahre unter ihm gedient hat und von ihm gefördert wurde) hielt eine bittere Rede der Enttäuschung und Desillusionierung, die Gantz versteinerten Gesichts anhörte.

Vielleicht hat er Israel durch sein Selbstopfer auf dem Altar des Bibitums gerettet, seine politische Karriere wird kaum zu retten sein, zu kraß war der Wortbruch den Gefährten gegenüber. Ob er sich daraus noch retten kann? Ich kenne fast nur Leute, die ihn gewählt haben bzw eine Partei, die für ihn gestimmt hätte, und nur Leute, die sagen: nie wieder Benny Gantz.

Aber wir kriegen eine Regierung, leider bleibt der inkompetente Litzman Gesundheitsminister, aber in Likud und Blau-Weiß gibt es ganz gute Leute, die hoffentlich gute Arbeit leisten werden. Zum Himmel schreit allerdings, daß aus koalitionstechnischen Gründen das Kabinett weiter anschwillt. Über 30 Minister! ein Skandal, wenn so viele Israelis arbeitslos sind und am Existenzminimum entlangschrammen werden, wenn die Wirtschaft sich nicht schnell erholt. Von 4% Arbeitslosigkeit im Februar sind wir jetzt auf fast 25%. Alle Notprogramme der Regierung können uns auf die Dauer nicht retten. Jeder Shekel, den die Regierung einsparen kann, wird benötigt.

Mein Mann hat Arbeit, das ist gut, aber das Loch, das meine Arbeitslosigkeit reißt, merken wir deutlich. Ich hoffe, daß ich irgendwann weiterarbeiten kann, glaube aber nicht, daß das schnell gehen wird. Verglichen mit anderen geht es uns sehr gut. Die Familien mit kleinen Kindern oder Menschen mit Behinderungen aller Arten, deren Arbeitsplätze, Schulen oder Therapieeinrichtungen geschlossen sind – die isolierten, alleinlebenden Alten, die Holocaustüberlebenden ohne Angehörige, nach denen niemand fragt, die kleinen Selbständigen, die nicht wissen, wie sie die Miete für den Friseursalon zahlen sollen, der keine Einnahmen mehr bringt – mir fallen ohne Ende Menschen ein, denen es deutlich schlechter geht als uns, von Infizierten, Kranken und deren Freunden und Angehörigen mal ganz abgesehen.

Und wer kann ausdrücken, wie viel Respekt man spürt für die Menschen, die direkt mit den Kranken arbeiten? Ich selbst hätte gern einen pflegerischen Beruf ergriffen und die Entscheidung, Geisteswissenschaften oder ein Zweig der Pflege, den ich bis heute wunderbar finde, war so knapp wie keine andere Entscheidung in meinem Leben, und mich hat die weitverbreitete Mißachtung dieses Berufs immer schon geärgert und wütend gemacht. Jetzt scheinen einige andere auch begriffen zu haben, daß diese ganzen „unproduktiven“ Berufe, in denen Menschen gepflegt, am Leben erhalten, unterrichtet, betreut, ins Leben und zur Gesundheit zurückgeführt werden, dieselbe Anerkennung verdient haben wie Ärzte, die bisher allen Respekt für dieses Genre auf sich versammelten.

Vermutlich tun wir alle, die im Moment keine Arbeit haben, ähnliche Dinge, sortieren die Hülsenfrüchte im Küchenschrank nach Farbe, Form und Größe, gehen dann zu den Socken über, und fragen uns, was wir im Mai sortieren sollen.

Doch zum Thema Mundschutz, um das wohl in Deutschland mal wieder eine Grundsatzdiskussion entbrannt ist – wir haben über Gurtpflicht, Mülltrennung und die Abschaffung der Anrede Fräulein auch mal diskutiert. Eines habe ich in Israel gelernt, und das ist klare Prioritätensetzung. Ein Menschenleben retten, und wenn es EIN einziges ist, hat oberste Priorität. Wenn wir durch Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, ob selbstgemacht oder gekauft, uns selbst und vor allem andere schützen können, dann sollten wir das selbstverständlich tun, ohne eine Diskussion über Freiheit daran zu knüpfen, die ihre Argumente aus ganz anderen Diskussionen bezieht. Heutzutage tragen alle Zahnärzte solche Masken, in meiner Jugend war das noch nicht so, doch meiner Meinung nach haben dabei Patienten und Zahnärzte keinerlei Freiheiten eingebüßt. Es ist eine Frage der Rücksichtsnahme. Weiß ich, ob der Mensch neben mir eine Vorerkrankung hat?

Ich habe das glaube ich schon gesagt, egal, aber ich sage es noch mal. Auch ich war sorglos, habe Grippe, an der jedes Jahr Menschen sterben, Kinder und Alte, nicht ernst genug genommen. Zwar habe ich über die egoistischen Impfgegner, die ihre Kinder nicht impfen lassen und darauf bauen, daß alle anderen geimpft sind, immer ordentlich geschimpft, aber ich selbst habe  mich nie gegen die Grippe impfen lassen. Dabei habe ich viel Kontakt zu Menschen über 70, auch weit über 70. Es hätte mir selbstverständlich sein sollen, mich zum Schutze dieser Menschen, aber auch der Kinder meiner Umgebung, gegen Grippe impfen zu lassen.

Wir waren sorglos, wir waren egoistisch, und ich hoffe sehr, daß nicht nur ich in mich gehe, daß wir alle rücksichtsvoller werden. Daß wir aktiv die Bemühungen derer unterstützen werden, die für ihre „systemrelevante“ (Unwort des Jahres!) Arbeit mehr Geld und Anerkennung erkämpfen werden. Daß wir uns öfter und gründlicher die Hände waschen, Mundschutz benutzen, ohne uns deswegen zu genieren, bei Erkältung ganz besonders!, und vielleicht die vielen Reisen reduzieren. Daß wir regional und saisonal kaufen werden, um die einheimischen Landwirte zu unterstützen, daß wir kleine Geschäfte besuchen werden, statt die Riesen zu unterstützen, die es viel weniger brauchen. Daß uns das Gefühl erhalten bleibt: wir sind eine Spezies, und bei allen Unterschieden gibt es Gefahren, die uns alle zugleich betreffen. Wenn wir nicht füreinander einstehen, schaden wir uns selbst. Auch wenn der Bumerang uns erst Jahrzehnte später treffen mag.

Irgendwelche positiven Folgen muß dieser Albtraum doch haben.

Ich bin eine miserable Prophetin März 27, 2020, 3:13

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Ich hätte eher geglaubt, daß Benny Gantz mit der arabischen Joint List koaliert oder daß jemand im Likud einen Aufstand macht (obwohl das in den letzten Monaten unwahrscheinlich wurde, weil Bibi alle Konkurrenten matt gesetzt hat), als daß er bei Netanyahu unterkriecht. Die letzten Wochen waren extrem unübersichtlich – nachdem wieder mal keine Partei einen echten Sieg feiern konnte (manche es aber trotzdem taten, wohl in dem Wunsch, eine so-gut-wie-Niederlage zu kaschieren), schaffte Gantz sich eine Mehrheit, und zwar durch die Unterstützung der Joint List. Diese Liste ist problematisch, nicht weil es Araber sind (die es in anderen Parteien auch gibt), sondern weil sie aus vier Mini-Parteien besteht, von denen mindestens zwei extreme anti-israelische Ansichten vertreten und keine Absicht haben, irgendwelche echte Verantwortung zu übernehmen.

Aus Knesset-technischen Gründen war Gantz´ Taktik, Bibi aus dem Sessel zu heben, davon abhängig, den geschäftsführenden (also nicht neu gewählten) Sprecher der Knesset auszutauschen und durch ein Blau-Weiß-Mitglied zu ersetzen. Der Sprecher wehrte sich dagegen und trat schließlich nach einem unwürdigen Spektakel ab. Benny Gantz hat diese Rolle jetzt übernommen, nur für kurze Zeit, bis die neue Koalition steht. Dadurch, daß Gantz jetzt auf einmal bereit ist, mit Netanyahu zusammenzuarbeiten (was er sich vor einem Jahr schon hätte überlegen können), hat dieser eine breite Koalition von rechten und ultra-orthodoxen Parteien. Gantz´ Parteienbündnis Blau-Weiß ist damit zerbrochen. Gantz und Ashkenazi gehen mit Bibi, Bogie und Yair Lapid gehen in die Opposition (sie haben beide bereits als Minister unter Bibi gedient und wissen wohl, warum ihnen die Opposition lieber ist).

Eigentlich sollte ich zufrieden sein, denn in der Albtraumsituation mit Corona-Virus, landesweitem Hausarrest und echten Ängsten braucht das Land eine Regierung, die breit aufgestellt ist, nicht bei jeder Abstimmung um ihre Mehrheit bangen muß, und die sich um die unabsehbaren sozialen, wirtschaftlichen und menschlichen Folgen dieser Pandemie kümmert. Es war auch klar, daß Gantz schon mehrmals beinahe klein beigegeben hätte, und daß nur äußerster Druck von Lapid ihn auf der Anti-Bibi-Linie hielt. Sie haben wohl vor dem Zusammenschluß, den ich grundsätzlich begrüßenswert fand, doch nicht bis zu Ende durchdiskutiert, wie weit sie bereit sind, auf Macht zu verzichten, um Bibi nicht zu stützen. Oder Gantz hat Lapid getäuscht. Oder er hat sich in sich selbst getäuscht. Auf jeden Fall enttäuschend.

Hätte Gantz seine Potemkinsche Mehrheit dazu benutzt, Bibi echte Zugeständnisse abzuringen, hätte man noch sagen können, das Wahlergebnis wird doch noch irgendwie anerkannt. Aber Gantz hat versucht, mit allen Tricks, die zwar rechtlich, aber unschön sind, Bibi zu ersetzen, um dann unvermittelt und überraschend doch bei Bibi unterzukriechen. Er kann bis morgen früh beteuern, daß er es wegen des Virus getan hat und dies eine Notstandsregierung ist, aber er hat potentielle Verbündete brüskiert – von Lieberman, der ihn unterstützt hat, bis zur Joint List. Es hat noch niemandem gutgetan, auf Liebermans schwarze Liste zu kommen, wie Bibi bezeugen kann.

Jetzt können Gantz und Ashkenazi mit den Überresten ihrer bis heute Abend starken Partei als Juniorpartner von Bibi mit Posten versorgt werden. Die Kräfteverhältnisse, die Blau-Weiß herausgefordert und in Frage gestellt haben, sind wiederhergestellt. Und wird Bibi tatsächlich den Sessel für Gantz räumen? wie wird Gantz dastehen, wenn Bibis Prozeß anfängt, nachdem er anderthalb Jahre lang beteuert hat, mit einem PM unter Anklage niemals zusammenzuarbeiten?

Wer Gantz gewählt hat, hat das nicht etwa getan, weil Blau-Weiß eine inhaltliche Alternative zu Bibi geboten hätte. In vielen Punkten sind die beiden Parteien fast deckungsgleich. Wer Gantz gewählt hat, hat das getan, um ein weiteres Mal Bibi zu verhindern. In allen drei Wahlen war die Alternative entweder „rak Bibi“ (nur Bibi) oder eben „rak lo Bibi“ (alles nur nicht Bibi). Gantz hat nicht ein einziges Mal gesagt: „unter bestimmten Umständen könnte es natürlich auch nötig sein, mit Bibi zu koalieren, um das Land regierbar zu machen“ oder so. Nein, er hat immer gesagt: alles nur nicht Bibi.

Er hat also, wie Lapid ganz richtig gesagt hat, die Stimmen der rak-lo-Bibi-Wähler genommen und sie Bibi zugeschlagen. Die Wähler werden ihm das vermutlich nicht verzeihen. Lapid selbst hat auch an Glanz verloren, er hat Zugeständnisse an Gantz gemacht, obwohl er schon länger in der Politik Erfahrung hat und eigentlich gern selbst PM-Kandidat geworden wäre. Falls Gantz nicht elend untergeht, ist durchaus möglich, daß die beiden mal gegeneinander antreten werden.

Für uns Mitte-links-Israelis ist wieder eine Hoffnung den Bach runter, Bibi ersetzt zu sehen. Nicht als würde ich Bibis Verdienste nicht anerkennen – ich bin weit davon entfernt, und so eitel auch seine Corona-Auftritte im Fernsehen sind, so vernünftig ist insgesamt die Reaktion der Regierung auf die Bedrohung, auch wenn das von Bibi brutal kurzgehaltene Gesundheitssystem jetzt, wie in anderen Ländern auch, unter der Last zusammenbrechen könnte. Die Maxime, daß sich Medizin rentieren muß, läßt sich nur aufrechterhalten, wenn möglichst viele Leute möglichst gesund sind. Aber Maßnahmen wie Schließung der Grenzen, Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürger etc waren gut erklärt und wurden auch zum bestmöglichen Zeitpunkt umgesetzt, zumindest aus heutiger Sicht betrachtet (später werden wir das vielleicht anders sehen). Bibi hat Israel aus vielen Konflikten rausgehalten, dem Iran gegenüber nicht schlecht gepokert, hat außenpolitisch viele Erfolge gefeiert. Ja, er hat Israels Flagge so fest an Trumps Mast genagelt, daß wir es noch bereuen werden (falls wir es nicht schon bereuen), er hat sich auch mit problematischen Herrschern eingelassen, und er hat Israel gefährlich abhängig von China gemacht – zB der Hafen in Haifa, direkt neben dem Hafen der Marine, erbaut und geleitet von Chinesen. Also ein gemischtes Resumee, besonders innenpolitisch eher negativ.

Ich sage immer: Bibi ist sehr gut in den Angelegenheiten, die ihn interessieren. Er ist ein sehr guter Wahlkämpfer und Redner, der sich im Scheinwerferlicht sonnt. Er ist gut in außenpolitischen Manövern und spektakulären Aktionen, mit denen Israel sein Überleben sichern muß. Dinge, die ihn nicht interessieren, wie Landwirtschaft, Gesundheit, Erziehung, Kultur, Tourismus etc werden vernachlässigt. Als Ressorts werden sie Politikern zugeworfen wie Fleischbrocken ins Krokodilgehege, egal, wer es aufschnappt. Auf Kritik reagiert er allergisch und emotional – man sieht ihn überhaupt nur emotional, wenn es um ihn selbst geht. Aber er ist ohne Zweifel der überragende israelische Politiker seiner Generation. Ich anerkenne das alles.

Wie wasserdicht die Anklagen gegen ihn sind, wird sich noch herausstellen, darum sage ich dazu nichts – bis seine Schuld bewiesen ist, hat auch er das Recht auf die Unschuldsvermutung. Viele der Vorwürfe gegen ihn, die nicht justiziabel sind, sind aber so peinlich, daß es für mich schon fast mehr keinen Unterschied macht, was beim Prozeß rauskommen wird – die fordernde Haltung den Millionärsfreunden gegenüber, die Sara eine Kette schenken, nur um zu hören, daß zu dem Set aber noch Armband und Ohrringe gehören. Bibi ist reich genug, um seiner Frau selbst Schmuck zu schenken. Bei solchen Geschichten erröte ich beim Lesen. Mit diesen Kleinlichkeiten im Hinterkopf kann ich Bibi nicht als großen Politiker sehen, denn dazu würde auch menschliche Größe gehören. Gantz weiß das alles.

Wir kennen Bibi mit seinen Vor- und Nachteilen, aber Gantz kennen wir nicht. Er war nicht schlecht als Ramatkal, alles wissen wir sowieso nicht, aber was er wirklich denkt und glaubt, wissen wir nicht. Das israelische Wahlvolk hat ihm dreimal enormes Vertrauen geschenkt. Er hat die Stimmen eingesammelt, die zu Herzogs Zeiten bei der Arbeiterpartei eingingen (wie die sich selbst systematisch ruiniert hat, steht auf einem anderen Blatt). Er hat das Mandat bekommen, Bibi abzulösen. Aber nicht, Bibis Ranzen zu tragen. Er wird dafür zahlen, ich weiß nicht, ob ihm das ganz klar ist.

Ich zweifle auch an seiner Intelligenz, denn selbst ein harmloser Mensch wie ich ist imstande, bei Bibi ein Muster festzustellen. Er lächelt am breitesten, wenn er dabei ist, jemanden zu demontieren. Alle Politiker, die sich von Bibi haben umarmen lassen, waren danach irgendwann beschädigt, entmachtet, blamiert, ausmanövriert oder einfach weg. Konkurrenten in seiner eigenen Partei hat er mit herzlichen Worten kaltgestellt, Bedrohungen aus anderen Parteien in seine Regierung genommen und dort scheitern lassen. Außer Bibi gibt es nur noch einen Mann in der israelischen Politik, der ähnlich giftig auf seine Bundesgenossen wirkt – Bibis Spiegelbild, Ehud Barak. Wer sich von Barak umarmen ließ, konnte gleich entscheiden, welchen VHS-Kurs er nach dem baldigen Ende der politischen Karriere belegen sollte.

Ich glaube nicht, daß Gantz überleben wird, wo Zipi Livni untergegangen ist. Auch Lapids Karriere hat einen Bibi-förmigen Knick. Nicht als ob Bibi nicht auch Schäden genommen hätte – er hat keinen überragenden Sieg mehr erringen können, aus vielen Gründen, aber u.a. auch, weil sich frühere Weggenossen von ihm abwandten und Stimmen mitnahmen.

Es ist ein Elend. Eine große Koalition zweier gleichberechtigter Partner hätte man noch irgendwie hinnehmen können. Aber ein Gantz, der unter einer ganzen Reihe von Koalitionsparteien auch mal Bibis Tasche halten darf, ist wirklich eine absolute Ohrfeige für seine Wähler. Ich war nie ein großer Lapid-Fan, obwohl ich die Regierung, an der damals beteiligt war, mochte – er hat exzellente Leute mitgebracht, und einen besseren Bildungsminister als Shai Piron hatten wir seitdem nicht mehr. Aber Lapid weiß, wie es sich anfühlt, von Bibi ausgetrickst zu werden – der hat ihm damals das Finanziministerium aufs Auge gedrückt. Das Angebot konnte Laipd nach einem „wo ist das Geld, Bibi?“-Wahlkampf nicht ausschlagen, aber er machte keine gute Figur – als Außenminister hätte er wohl deutlich mehr Punkte sammeln können, aber daran hatte Bibi kein Interesse. Doch Lapids Rede heute war gut, und ich mußte ihm leider Punkt um Punkt zustimmen.

Jetzt ist also Gantz dran. Entweder er wird Verteidigungsminister, wofür er qualifiziert ist, aber dann wird er wieder in die alte Rolle rutschen, die er als Ramatkal innehatte (Generalstabschef), nämlich Bibis Idee umzusetzen. Es wird ihm schwerfallen, dort Profil zu entwickeln (wie ihm Lieberman und Bogie Yaalon bestimmt erzählt haben, die haben es beide hinter sich).

Es ist auch möglich, daß Bibi ihn zum Außenminister macht. Ich weiß nicht, wie gut sein Englisch ist, aber seinen hebräischen Reden nach zu urteilen, brilliert nicht gerade mit Beredsamkeit (was in meinen Augen kein Nachteil ist). Bibi macht seine Außenpolitik am liebsten selbst.

Egal was Gantz von Bibis Gnaden nun wird, ich glaube nicht, daß er gedeihen wird.

Immerhin, wir haben eine Regierung, und das ist eine Erleichterung. Aber auf dem Weg dahin sind so viele Wortbrüche und Tricksereien begangen worden, daß ich mich nicht freuen kann.

(Über den Vermittler, der wohl die ganze Zeit Draht sowohl zu Bibi als auch Gantz hatte, in der JPost)

Schnell verändert März 21, 2020, 9:28

Posted by Lila in Persönliches, Uncategorized.
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hat sich die Welt für uns alle.

Ich habe im Laufe der Jahre hier in Israel viele, zu viele Krisen hinter mich gebracht. Bedrohungen und Beschuß, Terror und Krieg, und die schlimmsten Momente waren für mich persönlich die, die mit Söhnen und Armee zu tun hatten – lieber nicht daran denken. Aber es war immer so: ich erlebe einen Ausnahmezustand, richte mich auf Raketen aus dem Libanon ein oder Bombengürtel im Supermarkt oder Messer zwischen den Rippen in Jerusalem – und meine deutsche Familie, mein Freundeskreis, meine deutschsprachigen Leser leben in einer Welt der Gewißheiten und Sicherheiten. Auch einzelne Anschläge, die es ja gegeben hat, konnten das Grundgefühl nicht erschüttern. Sicherheitsstreben, Wohlstand, Autonomie, Bildung und gesicherte Zukunft für die Kinder, das waren die Säulen, auf denen das Leben aller ruhte. Die Welten berührten sich höchstens mal, wenn wir vor einem Besuch gemeinsam überlegten, ob man im Moment nach Israel kommen kann – oder doch lieber nicht.

Und auf einmal sind wir alle in einer Krise zusammen. Und zwar global. Die Bilder aus Madrid sind sofort verständlich, die ganze Welt durchläuft mit zeitlichem Abstand dieselben Phasen, und wir finden uns in einer Art Hausarrest, bevor wir es überhaupt verstanden haben. Heute vor einer Woche habe ich meinen letzten Vortrag gehalten, Teil I einer auf drei Teile angepeilten Reihe über Impressionismus und Post-Impressionismus, und habe mich wie immer von meinem Publikum (lauter Kibbuzniks) verabschiedet: und in der nächsten Woche, wenn wir uns wiedersehen, sehen wir uns das genauer an. Seitdem haben alle Einrichtungen, bei denen ich arbeite, abgesagt und zugemacht. (Da ich Freelancerin bin und nicht mehr fest bei einer Einrichtung angestellt bin, bricht damit für mich auch mein Einkommen weg, und staatliche Hilfe gibt es für Leute wie mich nicht.)

Für mich persönlich ist das nicht schlimm – ich bin gern zuhause und benutze die Zeit, lang aufgeschobene Projekte in Angriff zu nehmen (und mit lang aufgeschoben meine ich – seit wir im Juli 2016 hier eingezogen sind!). Ich habe keine kleinen Kinder im Haus, die bespaßt werden müssen – nur meine Quarta, die seit gestern auch zuhause ist, weil vorgestern das Restaurant, in dem sie mit viel Fleiß und Spaß gearbeitet hat, zugemacht hat. (Sie hat schon eine neue Arbeit in Aussicht, sie ist ungemein tüchtig.) Und Quarta mal ein bißchen zu verhätscheln, das mache ich gern. Sie und ihre Freunde treffen sich nach wie vor regelmäßig bei uns auf dem Balkon, mir paßt das gut. Sie halten schön Abstand und sind überhaupt sehr nett.

Wir haben auch das große Glück, daß der gute Hausvater bei einer Firma arbeitet, die Alco-Gel, desinfizierende Tücher und ähnlich wichtige Dinge herstellt. Egal was zugemacht wird – seine Firma wird weiter arbeiten, und das ist eine große Erleichterung.

Wir alle teilen unsere Sorge – die alternden Familienmitglieder, die geliebten Menschen mit Vorerkrankung, die Familien und Menschen, die wir kennen und nicht kennen. Ich weiß nicht, was bei anderen Menschen im Whatsapp los ist, aber bei mir erweist sich Whatsapp als nützliches Medium, um in Kontakt zu bleiben, und zwar in erster Linie mit Freunden Familie.

Ich weiß ebensowenig wie der Rest der Welt, wie lange es dauern wird, bis die Corona-Kurve abflacht, bis wirksame Medikamente oder gar eine Impfung verfügbar sind, und wann die Welt wieder „normal“ wird. Im Moment ist das gar nicht vorstellbar, obwohl es schnell gehen wird und wir irgendwann zwischen peinlich berührt und nostalgisch auf diese Monate Anfang 2020 zurückblicken werden. Vielleicht wird mal irgendwann jemand fragen, „sag mal, Oma, wie war das eigentlich damals, habt ihr wirklich Angst gehabt?“, und ich werde sagen, „ma pitom, wie kommst du darauf? Es war nur merkwürdig, und Venedig war menschenleer, und nur Menschen, die Corona schon hinter sich hatten, fuhren hin, und alle haben sie beneidet“.

Doch ich hoffe, daß wir aus diesem Moment globaler Sorge mehr übrigbleibt als Scherze, was die Leute nun mit dem gehorteten Klopapier anfangen sollten – das wird im Laufe der Zeit schon seiner Bestimmung zugeführt werden. In dieser Krise sehen wir unsere Spezies in ihrer Schwäche (Menschen, die sich um Klopapier raufen und Einkaufswagen voll Nudeln und Konservendosen nach Hause schleppen) und ihrer Stärke (wie sie auf den Balkons stehen und symbolisch den sonst übersehenen Rettungs-, Pflege- und medizinischen Arbeitskräften applaudieren – obwohl sie das vielleicht auch wieder vergessen werden, wenn die mal mehr Geld fordern werden?).

 

Ein paar Tage später

Inzwischen sind wir alle zu Experten geworden, lesen Artikel und hören Virologen zu. Fake news aller Arten kreisen, Verschwörungstheoretiker bauen die wildesten Theorien, und ich bin bestimmt nicht die einzige, die jetzt mit dem Vergrößerungsglas durchs Haus geht und das Treibgut jahrzehntelangen Familienlebens sichtet – wobei die Mülltonnen sich recht schnell füllen.

Noch fühlt die Bedrohung sich eher abstrakt an, obwohl es schon mehrere Bekannte gibt, die erkrankt sind, nicht schwer, Gott sei Dank.

Ich kann mich schlecht vom Radio losreißen, höre meist im Hintergrund was. Vorträge und Unterrichtsreihen sind bis Ende 2012 zumindest in Rohform vorbereitet, so richtig zum Schreiben komme ich nicht, ich hole mir die mangelnde Bewegung im Haus, und wenn der Regen nicht wiederkommt, auch im Garten.

Quarta hat angefangen, bei Y. in der Firma zu arbeiten, die brauchen im Moment neue Kräfte. Morgens ziehen die beiden zusammen los, nach einem sehr frühen kleinen Frühstück noch in der Dunkelheit. Wann haben wir das letzte Mal unter der Woche gemeinsam gefrühstückt? Ich verwöhne die beiden so gut ich kann, dahinter steht auch Angst. Quarta arbeitet mit Mundschutz, doch mein Mann natürlich nicht. Er sorgt nur dafür, daß alle anderen einen Mundschutz tragen.

Ich denke an die Familien mit kleinen Kindern, an Selbständige, die keinen Partner mit festem Einkommen haben, und an die Kranken und ihre Angehörigen… ein Mensch, der in dieser Situation nicht fühlt, wie ähnlich wir uns unter allen kulturellen Schichten sind, wie wir einer für den anderen Verantwortung übernehmen müssen, nun, der wird es nie kapieren.

Entschuldigt, ich habe einfach im Laufe der letzten zehn Tage hier reingeschrieben, was mir durch den Kopf ging (habe auch viel bei Twitter gelassen).

Da ich nun seit 2 Wochen nicht mehr vorm Haus war und demzufolge auch nicht geschminkt, freuen sich wenigstens meine Wimpern über diese Pause im normalen Leben.

Unglaublich März 9, 2020, 8:54

Posted by Lila in Land und Leute.
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Ich höre gerade ein Radiointerview mit einem Aktivisten aus Ost-Jerusalem. Er setzt sich dafür ein, die von der Stadtverwaltung Jerusalem angestrebte Einigung in Sachen ungenehmigtes Bauen durchzusetzen. Da in Ost-Jerusalem sehr viele Häuser ohne Genehmigung gebaut werden, und immer wieder Häuser abgerissen werden, hat sich eine ganze Industrie gebildet, die davon profitiert. Anwälte aus Ost-Jerusalem versprechen den Bewohnern und Bauherrn eine Lösung, die zahlen viel Geld, das Haus wird am Ende abgerissen und rundherum stehen Vertreter von NGOs, die die Bilder verteilen und verkaufen.

Die Stadtverwaltung strebt an, so viele nachträgliche Genehmigungen wie möglich zu erteilen, aber dazu braucht es Kooperation von den Bewohnern Ost-Jerusalems. Ein Mann namens Daoud Sian (nach Gehör geschrieben), der selbst von Anwälten über den Tisch gezogen wurde, möchte vermitteln. Jetzt bekommt er Todesdrohungen. Zu viele verdienen an der Situation, um einer Lösung zuzustimmen. Und mit der „Verwaltung der Besatzung“ konstruktiv zusammenzuarbeiten ist natürlich Anathema. Lieber Gesetze brechen, lieber leiden, lieber Widerstand.

Es ist eine verrückte Welt. Und diese konsequente Bevorzugung von Chaos und Gewalt statt Pragmatismus und Kompromißfähigkeit wird den Palästinensern nichts einbringen. Die Daoud Sians dieser Welt geraten unter die Räder. Und das ist schade.

Wahlen, Wahlen, Wahlen März 3, 2020, 18:03

Posted by Lila in Land und Leute.
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So, der dritte Versuch, eine regierungsfähige Mehrheit zusammenzubringen, fand gestern statt. Bibi hat Blau-Weiß überholt, und über die Gründe für diese Verschiebung muß ich noch nachdenken und auch mal schreiben. Ganz zu schweigen von den Verschiebungen in den linken Parteien. Es ist aber immer leichter, mir kurz per Twitter Luft zu machen, als mich wirklich mal hinzusetzen und ordentlich zu bloggen 😀 So lebe ich in der Illusion, daß ich vieles geschafft kriege, trotz Internet!

Noch weiß keiner, wie Bibi seine Regierung zusammenschraubt. Es ist wie ein kompliziertes 3-D-Puzzle. Alle Parteien um ihn herum haben Erklärungen und Wahlversprechen abgegeben, die jede Koalition unmöglich machen (weswegen ja wieder und wieder gewählt werden mußte). Lieberman will weder mit den Religiösen noch mit der arabischen Joint List. Joint List will in keine Koalition eintreten. Die Religiösen wollen weder mit Lapid noch Lieberman. Blau-Weiß und die Avoda-Gesher-Meretz-Gruppe schließen eine große Koalition nicht aus, aber nur unter einem Vorsitzenden, der nicht wie Netanyahu unter Anklage steht. Und so kann auch Bibi mit seinem Vorsprung an Stimmen und Mandaten ohne Koalitionspartner nicht regieren. Er wird versuchen, „Überläufer“ aus anderen Parteien zu rekrutieren, doch die möglichen Ansprechpartner haben alle versichert, daß sie da bleiben, wo sie sind.

Der Wahlkampf war so unbeschreiblich schmutzig und gemein, daß ich dafür mal extra Zeit brauchen werde. Drückt mir die Daumen, daß ich morgen diese Zeit finde. Ich bin einerseits ständig mit dem Ohr in den Nachrichten, um zu hören, was es Neues gibt, andererseits habe ich es SATT SATT SATT.

Falscher Beifall Februar 17, 2020, 22:59

Posted by Lila in Persönliches.
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Gut, ich mache mich heute mal unbeliebt, warum nicht?

Es muß so vor zwei Jahren gewesen sein, da lief durchs (englischsprachige) Netz eine Art mütterlicher Trotzreaktion. Irgendeine mommy blog-Kämpferin bekannte sich dazu, daß sie am Smartphone klebt, während ihre Kinder um sie herum spielen. Sie wurde gefeiert, ihr Bekenntnis noch mehr – Tod dem Perfektionismus, der Müttern abverlangt wird! Sind wir nicht alle irgendwie diese Mutter? Ja, ja! Ich finde diese kleine Welle nicht mehr mal im Netz, so schnell brandete sie durch und war vergessen.

Aber das Thema bleibt aktuell. Ich fahre viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Welt und achte immer besonders auf Kinder und junge Eltern. Ich sehe einfach gern vergnügte Kinder und zugewandte Erwachsene, und oft genung sehe ich sie auch. Inzwischen bin ich auch alt genug, daß ich die nervige Oma sein könnte, die fremden Leuten zu ihrem besonders netten Kind gratuliert. (In Israel fällt man mit sowas nicht auf, hier mischen sich alle in alles ein.)

Ich finde auch nichts dabei, mit jungen Eltern Gespräche anzufangen, und erinnere mich gern an eine sehr nette junge Frau mit ihrem Baby im Einkaufszentrum. Der Planet „Mama-Baby“ kann sich manchmal einsam anfühlen, und so ein Gespräch unter Fremden kann manchmal offener sein als mit Menschen, die einen kennen. Und die Mama-spezifischen Schuldgefühle, die einem zusetzen.

Es passiert aber einfach zu oft, daß ich sehe und höre, wie ein Kind sich langweilt, um Aufmerksamkeit bettelt – und nicht mal einen Tropfen abkriegt. Bestimmt ist die Welt voll mit Artikeln, in denen Psychologen und Kommunikationsspezialisten genau erklärten können, welche Auswirkungen es hat, wenn die Eltern nur auf ihren Bildschirm starren, aber ich sehe es selbst. Ich weiß es auch von mir. Während ich hier schreibe, kriege ich auch kaum mit, ob jemand die Spülmaschine einräumt (leider nicht) oder mir was Wichtiges erzählt (Freitag, war da was?). Wenn ich mit Quarta spreche, während sie am Smartphone hängt, tut sie zwar so, als würde sie mich wahrnehmen, aber ich könnte genausogut mit den Katzen sprechen, die versprechen auch viel und beißen mich trotzdem nachts in die Zehen.

Zwischen Erwachsenen ist das nicht schlimm, weil man sich gegenseitig nachsehen kann, daß sich jemand gerade auf einen Bildschirm konzentriert und für eine Zeit weggetreten ist. Aber für Kinder ist das unverständlich und schlimm, weil verunsichernd. Außerdem machen die Eltern den Kindern damit genau vor, was sie eigentlich vorgeben zu bekämpfen – die Kinder von Bildschirmjunkies werden selbstverständlich auch Bildschirmjunkies, man kann sie ja so schon kaum davon abhalten.

Ich weiß, wie schwer es ist, die vielen Fragen zu beantworten, immer aufmerksam zu sein. Aber Kinder haben Rechte – und ein Recht ist, respektiert und beachtet und ernstgenommen zu werden. Wer nicht bereit ist, dem Kind die Aufmerksamkeit zu schenken, die es braucht, der soll vielleicht doch noch mal überlegen, ob er oder sie Kinder will. Es ist durchaus möglich, ein erfülltes Leben ganz ohne Kinder zu führen, und ich habe schon öfter gesagt, daß ich nichts davon halte, Menschen einzureden, ohne Kinder gebe es kein Glück. Blödsinn. Jedes Kind hat das Recht, ganz und gar gewollt und bejaht zu werden.

Ja, heute in der Bahn saß ich einem süßen Paar gegenüber. Eine junge, sehr hübsche Mutter, und ein kleines, noch viel hübscheres Mädchen. Sie war so im Vorschulalter, diesem wunderbaren Alter, wenn die Kinder anfangen, Meinungen zu haben. Zwischen Nahariya und Akko war das Mädchen still, dann fing sie an. Zuerst Blicke zur Mama und zappelnde Beine, dann kleines Schubsen, und in Kiriyat Chaim verlor sie die Geduld. „Ima, mir ist laaangweilig“ „Iiiiimaaaa, mir ist laaangweilig“ Von der Mutter kam nur ein unklares Gebrumm. Sie war in ihr Smartphone vertieft.

Sie hatte für das Kind weder ein Bilderbuch noch ein Spielzeug eingepackt. Ich weiß nicht, bis wohin sie gefahren sind, aber sie hatte einfach nicht eingeplant, daß die Fahrt für ihre Tochter langweilig sein würde. Nach jahrelangem Bahnfahren sowohl in Israel als auch in Deutschland würde ich schätzen, daß auf eine Mutter mit gut gepackter Kinder-Reisetasche sieben oder acht Mütter kommen, die daran nicht gedacht haben. Einen Vater mit Spieltasche habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Meiner Erfahrung nach sind es meist Mütter mit mehreren Kindern, die der Erkenntnis nicht mehr ausweichen können, daß eine längere Fahrt ohne Unterhaltungsplan für die Kinder ein Albtraum ist. Dann höre ich mit Freuden zu, während die Familie spielt oder sich unterhält, und habe meine Freude.

Meine Mutter war ein Genie der Kinderbespaßung und ist es noch, meine Schwiegermutter ebenso. Wenn meine Kinder mit uns und der Welt zerfallen waren, sind sie früher oft zu meiner lieben Schwiegermutter gegangen. Die sagte meist: „gut, daß du kommst! Meine Knopfsammlung muß sortiert werden, hast du Lust dazu?“, und damit war der Tag gerettet. Stunden haben meine Kinder über Schwiegermutters Näh-Vorräten und Sammlungen gesessen, mit ihr Taki gespielt oder Suppe gekocht. Meine Schwiegermutter hat, bevor sie Konfektion gelernt hat, Jahrzehnte in der Kleinkinderziehung gearbeitet und weiß mehr Kinderlieder, Volkslieder, Fingerspiele und lustige Verse als jeder andere Mensch, den ich kenne. Sie könnte einen bunten Abend allein bestreiten und das Lachen sitzt ihr locker.

Meine Mutter kommt aus einer Dynastie der Geschichtenerzähler. Ihr großer Bruder hat sie abends mit Geschichten von Old Schnödderbell ins Bett gebracht, der mit seinem Schnödder wilde Pferde zähmen konnte, mein Vetter hat seine Kinder mit Geschichten vom Klosettmann beglückt, und meine Mutter erfand unendliche Geschichten über das verrückte Pferd, das seinen Reiter abwirft, die Weinflasche aufkorkt und leert, und dann besoffen ins Abenteuer aufbricht. Ich erinnere mich an viele Rückfahrten von Besuchen bei Oma, mein Bruder und ich hinten im Auto, und juchzen, wenn der Moment kommt, der Reiter empört ins Gras rollt und die Flasche rausgeholt wird. Das freche Wiehern des besoffenen Pferdes, das jetzt zum Abenteuer aufbricht, gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Meine Mutter ist wirklich immer noch ein Kindermagnet. Bei der Beerdigung einer sehr jungen Mutter, die wir vor kurzem überstehen mußten, war sie die einzige, die für die kleinen, verwaisten Kinder Geschenke dabeihatte, über die die Kinder sich sehr gefreut haben.

Die Generation meiner Schwiegermutter und Mutter hat ihre Kinder vor der Zeit der elektronischen Babysitter erzogen, außerdem sind beide ausgebildete und erfahrene Pädagoginnen. Es ist unfair, irgendjemand mit ihnen zu vergleichen, es zieht mir nur gerade so durch den Kopf. Ich habe von ihnen gelernt, immer mit einer interessant gefüllten Tasche zu Arzt, Reise oder Bahnfahrt aufzubrechen. Bei Tertias Krankenhausaufenthalten hatten wir immer ihren großen „agalool“ mit (eine Art rollendes Ställchen, in dem man liegen, sitzen, stehen, spielen kann), Bücher, Spielsachen, Bilder zum Aufhängen, ihre eigenen Sachen (sie hat nie die Krankenhauskleidung getragen) und ihre eigene Decke. Ja, man hat nicht immer Geduld, und im Zeitalter der totalen Erreichbarkeit kann man sich nicht leisten, bestimmte Anrufe nicht anzunehmen. Das verstehe ich schon.

Aber trotzdem. Junge Eltern, die mit Blick aufs Smartphone Kinderwagen über die Kreuzung schieben. Junge Eltern, die ihrem quengelnden Kleinkind im Cafe ein Smartphone in die Hand drücken, um weiter quasseln zu können (oder an einem anderen Smartphone zu hängen). Junge Eltern, die eine ganze lange Bahnfahrt mit einem kleinen Kind nur in ihr Smartphone starren, während neben ihnen ein kleines Kind um ein Wort, einen Blick bettelt. Ist es so schwer, sich schnell mit einem Kuli ein fröhliches und ein griesgrämiges Gesicht auf die Finger zu malen und die beiden streiten zu lassen?

Niemand von uns weiß, wie lange wir uns gegenseitig noch haben. Bei kleinen Kindern wissen wir aber, daß sie nicht lange so bleiben. Aus dem kleinen Kind, das sich über jedes Wort von Mama oder Papa freut, wird in Windeseile ein großes Kind, das gern diskutiert, und dann ein Teenager, für den die Eltern peinliche Fossilien sind, die ihn oder sie an den wichtigen Dingen des Lebens hindern. Und irgendwann dann junge Erwachsene, mit denen man einen interessanten, kritischen Dialog führen kann, und die Verständnis haben, wenn man gerade beim Whatsappen mit einem netten Menschen ist. Aber von Vierjährigen kann man das nicht erwarten.

Ich habe übrigens schon vor Kiriyat Motzkin angefangen, mich mit dem Mädchen zu unterhalten und mit ihr zu spielen. Wir haben geguckt, ob wir Tiere zählen können, aber wir haben keine gesehen, und haben welche erfunden, und so verging die Zeit bis Haifa. Sie hat sich auch nett von mir verabschiedet. Die Mutter hat nicht EINmal die Augen vom Telefon gehoben. Viellleicht hat sie gerade irgendwo gepostet, „ich bin eine Mutter, die auf ihr Smartphone starrt, und bekenne mich dazu“, und die Reaktionen gelesen: „du bist ja so mutig, so authentisch“ „das habe ich gerade gebraucht, bravo“ „zerbrecht die übertriebenen Erwartungen an Mütter“ „von Vätern erwartet niemand Perfektion“ „mögen die Hater bekommen, was sie verdienen“.

Ach, mögen die Kinder bekommen, was sie brauchen und verdienen.