Digitalisierung und Nachhaltigkeit – passt das überhaupt zusammen? Ein Blick in die Politik zeigt, dass zu diesem Thema parteiübergreifend erschreckend wenig passiert. Und das, obwohl der Klimawandel die Medien beherrscht, tausende Menschen weltweit zum Handeln aufrufen, die Folgen der Erderwärmung bereits spürbar sind. Es scheint, als kämpfe die Politik noch mit der Digitalisierung selbst, für Nachhaltigkeit sind keine Kapazitäten verfügbar. Doch beides zusammen zu denken ist unvermeidbar, wenn wir eine lebenswerte Zukunft schaffen wollen. Wir bei D64 haben uns deshalb zum Ziel gesetzt, Nachhaltigkeit in der digitalen Gesellschaft als zentrales Thema in die Etagen der Macht zu tragen. Als gemeinsame Basis gilt hierbei diese Bestandsaufnahme.
Bild: E-waste workers in Agbogbloshie completing a burn for copper recovery, 2010, von Jcaravanos ; Lizenz: CC BY-SA 4.0
In den Medien wird seit einigen Monaten viel über den Digitalisierungsschub geschrieben, den die COVID 19-Pandemie ausgelöst hat. Im Zuge der anhaltenden Forderungen der Klimaaktivisten wird von verschiedenen Experten gefordert, die Chance nicht zu verpassen und neue Projekte und Förderungen zur Digitalisierung “in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen”. Aber was soll das eigentlich bedeuten?
Der Begriff Nachhaltigkeit wird im politischen Diskurs meist im Sinne des Brundtland-Berichts von 1987 und der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG-Ziele) verstanden – und damit dreidimensional: sozial, ökologisch, ökonomisch. Wenn in diesem Verständnisrahmen von nachhaltiger Digitalisierung oder Digitalisierung für mehr Nachhaltigkeit gesprochen wird, stellen sich zwei grundsätzliche Fragen:
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- Wie kann die Digitalisierung eine nachhaltige Entwicklung unterstützen?
- Wie kann die Digitalisierung selbst nachhaltig gestaltet werden?
Aktuell ist die Digitalisierung leider alles andere als ein Treiber von Nachhaltigkeit. Wegen ihres erheblichen Ressourcenbedarfs – allen voran Energie – hat sie umwelt- und klimaschädliche Auswirkungen. Die schnellen, nicht geschlossenen Produktzyklen immer neuer Gadgets und besserer Geräte treiben bei der Herstellung und der abschließenden Vermüllung ökologischen und sozialen Raubbau. Effizienzgewinne im Energieverbauch wurden bisher in kürzester Zeit vom Rebound-Effekt wieder aufgefressen (oder gar durch Backfire weiter gesteigert). Zudem trägt die Digitalisierung unter bestimmten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu einer Verschärfung und Zementierung der globalen und lokalen Ungleichheit (digital divide) sowie zur effizienteren Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten und zivilgesellschaftlichen Bewegungen bei (shrinking space). Auch ökonomisch wirkt sie bislang fragwürdig, denn benötigte Ressourcen wie seltene Erden und Gold wachsen im Gegensatz zu Bäumen nicht nach.
Dennoch sind wir bei D64 sicher: die Digitalisierung ist eine enorme Chance und kann entscheidend dazu beitragen, die SDG-Ziele umzusetzen und zu einer sozial-ökologischen Transformation beizutragen. Es gibt viele gute Projekte, Ideen und Konzepte, die zeigen was schon heute möglich ist – oder möglich sein könnte. Initiativen wie Bits & Bäume bringen Techies und Ökos zusammen, um gemeinsam Forderungen zu formulieren und Aktionen zu planen. Selbst wenn in diesem Bereich viel „Greenwashing“ betrieben wird, gibt es durchaus eine ganze Reihe an GreenTech-Startups, die sinnvolle Dienstleistungen und Technologien für Umwelt- und Klimaschutz entwickeln.
Eine sozial-ökologisch nachhaltige Digitalisierung kann zum Beispiel…
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- Digitale Endprodukte (z.B. Smartphones) sowohl sozial als auch ökologisch neutral produzieren, z.B. nach dem Cradle-to-Cradle Ansatz und unter Berücksichtigung von Fair Trade Prinzipien (z.B. Fairphone, Shiftphone)
- CO2-neutrale Rechenzentren aufstellen (z.B. Nutzung der Abwärme als Fernwärme etc.)
Digitalisierung als Treiber sozial-ökologisch nachhaltiger Entwicklung kann zum Beispiel...
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- Data Science-Projekte aufsetzen, die Klimadaten vernetzen und barrierefrei sowie nutzerfreundlich verfügbar machen (z.B. klimawatch.de)
- Steuerung/Nutzung von Synergien in kommunalen Energiekreislaufsystemen ermöglichen (z.B. Verband kommunaler Unternehmen)
Im Verhältnis zur Geschwindigkeit der Digitalisierung an sich bewegte und bewegt sich allerdings deutlich zu wenig in Richtung Nachhaltigkeit. Und dann kam Corona.
Was hat Digitalisierung und Nachhaltigkeit mit Corona/COVID-19 zu tun?
Die Corona-Pandemie hat uns sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft in einen ungewollten Experimentierraum gesteckt, in dem viele bestehende Normen und Selbstverständlichkeiten nicht mehr galten. Plötzlich war politisches und unternehmerisches Handeln möglich, das zuvor unmöglich erschien. Gleichzeitig wurden wir auf persönlicher Ebene auf uns selbst zurückgeworfen, was oft zu einem ganz neuen Verständnis des Werts unseres gemeinschaftlichen Lebens und gesellschaftlich nützlicher Arbeit führte. Der sowieso rasch voranschreitenden Digitalisierung hat Corona einen enormen Schub verliehen und insbesondere Menschen und Organisationen, die bestimmte digitale Entwicklungen bisher eher gemieden hatten, zu einer steilen Erfahrungs- und Lernkurve gezwungen. Manche Debatten rückten aus der digital-ökologischen Peripherie ins Zentrum öffentlicher Diskurse: Wie bewerten wir den “Berufstourismus”? Wie kann sichergestellt werden, dass der Staat verlässlich, schnell und proaktiv Zugriff auf (maschinenlesbare) Daten herstellt? All dies geschah, um mit einer akut auftretenden Krise adäquat umzugehen.
Von Corona lernen heißt deshalb auch (wieder zu er-)lernen, dass wir als Individuen und Gesellschaft die Stärke haben, unsere selbst geschaffenen Überzeugungen und Normen zu ändern, wenn eine Krise es erfordert. An Krisen mangelt es dafür aktuell sicher nicht. Daher sollten wir diese Erkenntnis auf die Digitalisierung übertragen, um sie zu einem starken Instrument im Kampf gegen den Klimawandel und Treiber für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaften zu machen.
Was wir tun
In unserer Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit befassen wir uns insbesondere damit, was politische Akteure und Institutionen tun können, um Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen zu denken und voranzubringen. Dabei geht es insbesondere darum, die Digitalisierungsimpulse aus der Corona-Pandemie zu verstehen und einzuordnen. Welche positiven Nachhaltigkeitseffekte können sich zum Beispiel durch eine Digitalisierung der Arbeitswelt ergeben: Ist die in ersten Studien festgestellte niedrigere Stressbelastung und höhere Produktivität der Arbeitnehmer ein echter Trend? Kann remote work zu einer Wiederbelebung des ländlichen Raums durch Dezentralisierung der Arbeits- und Lebensorte führen?
Über diesen recht konkreten Beobachtungsfeldern stehen systematische Fragestellungen zu verschiedenen Themenbereichen, die für den Komplex Digitalisierung und Nachhaltigkeit zentral sind. Diese reichen oft in einen europäischen oder globalen politischen Kontext hinein, in dem es auch um die Anschlussfähigkeit zu größeren Programmen oder Vorschlägen geht – wie etwa dem von Maja Göpel geforderten Social Green Deal für Europa, der auf einer „mehrdimensionalen Solidarität“ entsprechend des Nachhaltigkeitskonzepts basiert.
Einige weitere Fragestellungen, mit denen wir uns befassen wollen:
Superhuman vs. Subhuman: Wie können wir human downgrading im Rahmen der Digitalisierung entgegenwirken? Wie kann eine alternative Vision des digital ermöglichten gesellschaftlichen Fortschritts konkretisiert werden, die statt eines technologieoptimierten Menschen die Hinwendung zu „Fähigkeiten wie Empathie, Fürsorge und Solidarität“ in den Fokus stellt?
Demokratisch: Wie kann die OpenSource-Philosophie in Wissenschaft, Verwaltung und Politik verankert werden, um lizenzfrei und unbürokratisch Wissen zu teilen, evidenzbasierte Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse zu stärken und damit zu Demokratisierung und Vertrauensstärkung der Bürger*innen beizutragen? (Stichwort: Public Money, Public Code)
Wertvolle Arbeit: Wie kann eine nachhaltige Digitalisierung dabei helfen, abseits rein gewinnorientierter Automatisierungsprojekte jene bezahlte und unbezahlte Arbeit zu stärken und zu fördern, die für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen den größten (Mehr)wert hat?
Suffizienz und Effizienz: Wie können wir verhindern, dass Effizienzgewinne beim Energieverbrauch vom Rebound und folgendem Backfire-Effekt wieder aufgefressen werden, und wie kann eine begleitende Suffizienzstrategie aussehen, um den Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen zu reduzieren?
Echte Kosten: Welche sozialen und ökologischen Schäden entstehen als Nebenprodukt der Digitalisierung und wie kann man diese berechnen, ausgleichen oder langfristig auflösen? Wie kann eine Anwendung der „echten Kosten“ auf das Wirtschaftssystem eine Kreislaufwirtschaft fördern, in der es für die Industrie ökonomisch wieder sinnvoller ist qualitativ hochwertige Produkte zu erstellen, welche reparierbar und recycelbar wären?
Dezentral: Wie kann Künstliche Intelligenz – über intelligente Netze, Speicher, Systeme – uns dabei helfen, unsere Energieversorgung sowohl resilient als auch nachhaltig zu gestalten – und was muss dafür auf politischer Ebene geschehen?
Und nicht zuletzt stellt sich übergeordnet die Frage, welche strukturellen Veränderungen nötig sind, um die Digitalisierung „in den Dienst der Nachhaltigkeit“ zu stellen. Dabei geht es explizit nicht nur darum, wirtschaftspolitische Weichen zu stellen – sondern auch, den Regierungs- und Verwaltungsapparat dazu zu befähigen mit der Digitalisierung, die sie in nachhaltige Bahnen lenken sollen, überhaupt Schritt zu halten.
Denn wie der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung zu globalen Umweltthemen (WBGU) in seinem Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ festgehalten hat, steht es um die Digitalkompetenzen dort meist schlecht. Ein massiver Modernisierungsschub begleitet von wissenschaftlicher Forschung wäre nötig, um den Anforderungen einer nachhaltigen Transformation gerecht zu werden.
„Gelingt dies nicht, werden sich technologie- und kurzfristorientierte Eigendynamiken durchsetzen; die Verknüpfung der digitalen mit der Nachhaltigkeitstransformation wird dann nicht gelingen.“
Mit unserer Arbeit wollen wir nicht nur theoretisieren, sondern praktische Impulse geben wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen gehen können. Dazu analysieren wir Konzepte und Ideen, sprechen mit Expertinnen und Experten und formulieren Forderungen und konkrete Vorschläge, wie politische Institutionen und Öffentlichkeit die Digitalisierung im Sinne der Nachhaltigkeit umsetzen können. „Transfer with an attitude“ nennen wir das, denn wir wollen nicht nur Wissen teilen, sondern Handlungsdruck aufbauen. Menschen, die uns dabei unterstützen wollen, sind in unserer Arbeitsgruppe immer willkommen.
Was ist D64?
D64 ist die Denkfabrik des digitalen Wandels. Unsere Mitglieder sind von der gesamtgesellschaftlichen Auswirkung der digitalen Transformation auf sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens überzeugt und wollen diese progressiv und inklusiv gestalten. Dabei liefern wir Impulse um die digitale Transformation zum positiven Gelingen zu bringen. Wir sind uns einig, dass man eine Politik der Zukunft nicht mit Konzepten von gestern machen kann. D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt e.V. wurde 2011 gegründet und ist gemeinnützig, überparteilich und unabhängig. Wir haben über 500 Mitglieder bundesweit, die sich allesamt ehrenamtlich engagieren und über das vereinseigene „digitale Vereinsheim“ organisieren. D64 bringt Expertinnen und Expertise aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Zivilgesellschaft, Bildung und Politik zusammen und bringt diese Expertise in die politische Debatte ein.