Kommentar

Lateinamerikas Jugendliche brauchen gleich lange Spiesse

Die grosse soziale Ungleichheit ist ein wichtiges Entwicklungshemmnis in Lateinamerika. Soll der Kontinent endlich ein nachhaltiges Wachstum erzielen, so muss die soziale Mobilität gesteigert werden.

Werner J. Marti
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Eine Schülerin in Ciudad Juárez, Mexiko, mit einem selbstgebastelten Auto. Die soziale Klasse bestimmt in Lateinamerika immer noch weitgehend, welche Schulbildung man erhält, und damit auch die wirtschaftlichen Zukunftsaussichten.

Eine Schülerin in Ciudad Juárez, Mexiko, mit einem selbstgebastelten Auto. Die soziale Klasse bestimmt in Lateinamerika immer noch weitgehend, welche Schulbildung man erhält, und damit auch die wirtschaftlichen Zukunftsaussichten.

Jose Luis Gonzalez / Reuters

Das Coronavirus wird für Lateinamerika gravierende wirtschaftliche Folgen haben. Es ist deshalb verständlich, dass das Augenmerk zurzeit ganz auf die Bewältigung dieser schwierigen Situation gerichtet ist. Doch die wirtschaftlichen Probleme der Region liegen nicht nur in globalen Konjunkturschwankungen begründet, sie haben auch strukturelle Ursachen. Diese wurden in den letzten zwanzig Jahren trotz günstigen Vorzeichen nicht genügend angegangen. Reformen sind dringend, denn sie werden erst sehr langfristig wirksam werden.

Von der Jahrtausendwende bis 2013 erlebte Lateinamerika eine ungewöhnliche wirtschaftliche Blütephase. Die lange Hausse bei den Rohstoffpreisen bewirkte in den meisten Ländern ein starkes Wirtschaftswachstum und hohe Einnahmen für die Staatskasse. Sozialprogramme und die bessere Arbeitsmarktlage bewirkten, dass sich in der Region der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung beinahe halbierte, laut Weltbank von 43 auf 23 Prozent. In absoluten Zahlen gelang es rund 120 Millionen Menschen, aus der Armut in die untere Mittelklasse aufzusteigen.

Doch es zeigte sich nach 2013 rasch, dass das Wachstum einmal mehr nicht nachhaltig war. Millionen von Aufgestiegenen sind wieder in die Armut zurückgefallen oder sind zumindest vom Abstieg bedroht. Der erneute wirtschaftliche Rückschritt hat letztes Jahr in einer Reihe von lateinamerikanischen Ländern zu schweren Unruhen geführt. Am heftigsten waren diese ausgerechnet in Chile, das mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik lange als das Erfolgsmodell der Region gegolten hatte. Die Auslöser waren unterschiedlich, doch in den meisten Fällen handelte es sich im Kern um einen Protest gegen die grosse soziale Ungleichheit. Lateinamerika ist die Weltregion mit der grössten Einkommensungleichheit. 

Kaum soziale Mobilität

Es spricht einiges dafür, dass die grosse Ungleichheit ein zentraler Faktor der Entwicklungsschwierigkeiten in Lateinamerika ist. Es wird zwar zu Recht argumentiert, dass für eine liberale Marktwirtschaft eine gewisse Ungleichheit durchaus förderlich sein kann oder sogar notwendig ist. Sie gibt den Individuen den Anreiz, eine Mehrleistung zu erbringen, um den materiellen Status zu verbessern. Doch dies setzt voraus, dass soziale Mobilität existiert. Es muss möglich sein, dass man bei entsprechender Leistung auch tatsächlich aufsteigen kann. Genau dies ist in Lateinamerika in der Regel kaum der Fall. Die soziale Mobilität ist – im Vergleich mit den ostasiatischen Ländern oder Europa – sehr beschränkt, wie eine neue Studie des World Economic Forum einmal mehr aufzeigt.

Die negativen Folgen sind zahlreich. Das Arbeitskräftepotenzial wird schlecht ausgeschöpft, weil ein bedeutender Teil der Jugendlichen keinen Zugang zu guter Schulbildung hat und damit seine Fähigkeiten nicht entwickeln kann. Weiter dürfte es kein Zufall sein, dass Lateinamerika neben der grössten Ungleichheit auch die höchsten Kriminalitätsraten aufweist. Bei fehlender sozialer Mobilität ist die Kriminalität ein alternativer Weg, um materiell aufzusteigen. Eine hohe Kriminalitätsrate bringt aber grosse Kosten für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Und drittens ist die grosse Ungleichheit auch immer wieder Grund für schwere innenpolitische Konflikte und politische Destabilisierung. Zuletzt war dies sichtbar bei den Unruhen in Chile, die grosse wirtschaftliche Schäden angerichtet haben.

Koloniales Erbe

Die Ungleichheit hat Wurzeln, die weit in die Geschichte zurückreichen. Im spanischsprachigen Lateinamerika wurde der Grundstein dafür in der dreihundertjährigen Kolonialzeit gelegt. Eine rigide Gesellschaftsordnung wies damals den Einwohnern ihren Platz in Gesellschaft und Wirtschaft streng nach Herkunft und Hautfarbe zu (Ähnliches gilt auch für Brasilien). An der Spitze der Hierarchie standen die in Spanien geborenen Weissen. Nur sie durften hohe Regierungs- und Kirchenämter bekleiden und Grosshandel betreiben. An zweiter Stelle standen die in Lateinamerika geborenen Nachkommen spanischer Einwanderer. Sie durften grosse Ländereien für Ackerbau und Viehzucht besitzen und Konzessionen zur Ausbeutung von Minen erhalten.

Den gemischtrassigen Mestizen mit spanischen und indianischen Vorfahren standen Tätigkeiten als Handwerker, Ladenbesitzer und, in mittleren und unteren Positionen, in der Armee offen. Auf sie folgten in der Rangordnung die Indigenen. Sie waren häufig versklavt oder tributpflichtig gegenüber Weissen und lebten meist in ihnen zugewiesenen Gebieten. Den untersten Platz in der Hierarchie nahmen die afrikanischen Sklaven ein, die häufig auf Plantagen arbeiteten. 

Auch zweihundert Jahre nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft sind die Spuren dieser Ungleichheit erstaunlicherweise nicht verschwunden. Der vor allem im Grossgrundbesitz konzentrierte Reichtum wurde im unabhängigen Lateinamerika weitervererbt und blieb im 19. Jahrhundert die wichtigste Form von Vermögen. Im 20. Jahrhundert war es ebendiese Land besitzende Schicht, die in die beginnende Industrie und den Dienstleistungssektor investierte. 

Ostasiatische Erfahrungen

Lateinamerika wird häufig das Beispiel der sogenannten asiatischen Tigerstaaten Südkorea und Taiwan als alternatives Entwicklungsmodell vor Augen gehalten. Diesen ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Wirtschaftswunder gelungen. Obwohl viele lateinamerikanische Länder damals höher entwickelt waren, wurden sie von den beiden asiatischen Ländern innert weniger Jahrzehnte überholt, während sie selbst auf der Stelle traten. 

Es ist interessant, dass in beiden ostasiatischen Ländern zu Beginn mit umfassenden Agrarreformen die traditionelle politische und wirtschaftliche Macht der Grossgrundbesitzer gebrochen wurde. Damit wurden die Vermögensverhältnisse neu geregelt, und für die Industrialisierung wurde Kapital bereitgestellt. In Lateinamerika gab es keine vergleichbare Ablösung der Klasse der Grossgrundbesitzer.

Hartnäckige Ungleichheit

Die Erfahrung seit dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, wie schwierig in Lateinamerika die Reduzierung der sozialen Ungleichheit ist. Das Rezept der Linken war es, durch zwangsweise staatliche Umverteilung die Einkommensverteilung zu nivellieren. Verschiedene Regierungschefs haben dies versucht. Ihre Massnahmen waren letztlich nicht erfolgreich, oder sie führten gar zu einer Verbreitung der Armut auf noch mehr Köpfe. Ein besonders abschreckendes Beispiel hierzu ist Venezuela, wo Hugo Chávez und Nicolás Maduro fast die ganze Bevölkerung in die Armut stürzten und durch ihre Unfähigkeit die Massenflucht von fast fünf Millionen Landsleuten bewirkten.

Die Rechte wiederum empfahl die Reduktion der Ungleichheit über wirtschaftliches Wachstum. Doch in der jüngeren Vergangenheit Lateinamerikas hat auch dies das Problem nicht gelöst. Das Paradebeispiel hierfür ist Chile, das bis 2014 während dreissig Jahren ein durchschnittliches jährliches Wachstum des Bruttoinlandprodukts von rund fünf Prozent erlebte. Trotzdem ist die Ungleichheit nur geringfügig zurückgegangen – und im regionalen Vergleich hoch geblieben.

Bildung macht mobil

Doch die Länder Lateinamerikas brauchen die soziale Ungleichheit nicht fatalistisch hinzunehmen. Das beste Rezept dagegen ist es, für die heranwachsende Generation gleich lange Spiesse zu schaffen, so dass für alle Aufstiegschancen entstehen und die soziale Mobilität die Unterschiede nivelliert. Dafür muss der Staat dafür sorgen, dass alle sozialen Schichten Zugang zu qualitativ guter Bildung haben.

Gerade das Beispiel von Chile zeigt, wie trotz erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung ein unzureichendes Bildungssystem zur Fortschreibung der sozialen Unterschiede führen kann. Denn dieses segregiert nach sozialer Herkunft, mit teuren Privatschulen für die Oberschicht, staatlich subventionierten Privatschulen für die Mittelschicht und schlecht ausgerüsteten öffentlichen Schulen für die Unterschicht. Das Bildungssystem zementiert damit die bestehende Ungleichheit.

Reformen im Bildungsbereich sind nicht einfach. Die Regierungen haben in der Regel wenig Interesse daran, da die Früchte oft erst nach einer Generation geerntet werden können, wenn die Politiker längst nicht mehr im Amt sind. Aber hoffnungslos ist es nicht. Solche Reformen begünstigen eine junge Generation, die beispielsweise mit Strassenprotesten Druck machen kann. Ausländische Regierungen und internationale Kreditgeber können finanzielle Unterstützung von Reformen im Bildungsbereich abhängig machen. Auch bei der Bildung können Südkorea und Taiwan als Vorbild dienen. Beide Länder haben qualitativ hochstehende Volksschulen für alle eingerichtet. Die Bildung geniesst einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft.

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