Ist die Farbe Grün langweilig wie eine Kuh, oder steht sie im Gegenteil für aufrührerische triebhafte Dinge? Ein Selbstversuch im Frühlingswald kann zu überraschenden Wahrnehmungen führen.
Was juckt denn hier schon wieder? Und was stach eben jetzt? Wo immer man im Wald auftritt, wo immer man sich hinsetzt, es ist schon einer da. Oder eine, so genau weiss man das nicht. Und man will es auch nicht so genau wissen. Doch eines glaubt man ganz bestimmt: Im Wald ist man niemals alleine – und auch in diesen Tagen in erlaubter Gesellschaft.
Im lichten Laubwald erreicht die Sonne jetzt knapp den Boden. Dort wuselt und rennt das kleine Leben, dass man sich sogleich nutzlos fühlt. Und es ist ja auch wahr: Niemand ist im Wald überflüssiger als der Mensch. Doch wieso nicht einmal Knoblauchsrauke sein oder Lungenkraut und sich von der Sonne wärmen lassen?
Das Scharbockskraut lehrt Unbescheidenheit, es heischt um Aufmerksamkeit mit kleinen, sattgelben Sternen. Das Blatt der Pflanze ist krautig, herzförmig, der Rand des Herzens ist gezähnt oder gezähnelt. In den Blattachseln der unteren Blätter bereiten sich bereits kleine Brutknospen vor. Sie werden bald zu neuen Pflanzen, dicht an den alten, doch mit ihnen in gutem Einvernehmen. Ihr Grün ist glänzend. Der Blätterteppich des Scharbockskrauts bedeckt den Boden und dehnt sich tief in den Wald hinein.
Der Buchenwald im Frühling ist ein Farbkasten, der mit einer einzigen Farbe die Welt zum Ursprung führt. Grün ist hier Raum und Zeit. Im Wald betritt man das Reich einer Farbe, die an Nuancen alles vorführt, was das Auge wahrnehmen kann. Und was es nicht wahrnimmt, weil es eben nur ein Menschenauge ist, erkennen die Waldbewohner. Wir gehören nicht mehr dazu.
Dafür können wir die Herkunft des Wortes Grün erklären. Seine Wurzel bezeichnet ein Prinzip des Lebens. Groh, der germanische Ausdruck, stand sowohl für Wachsen als auch Gedeihen: Alles, was grün ist, lebt, was lebt, muss wachsen, und was wächst, gedeiht. Im Wald, dort, wo kein Weg mehr ausgeschildert ist und man den Pfad selber bestimmt, spriessen ketzerische Gedanken. Im grünen Frühlingswald, vornehmlich unter Buchen, erklärt man sich die Theologie neu. Man denkt sie sich nicht von der Sterblichkeit her, der Hinfälligkeit, dem Fehlerhaften und von unserer Angst. Im Wald wächst uns jetzt triebhaft der erste und der letzte Sinn entgegen – als Leben, Wachsen und Gedeihen.
Tausend Nuancen von Grün scheinen im Frühling zu existieren. Für jede Erscheinung steht eine eigene Färbung bereit. Gibt es wohl eine andere Farbe, die ähnlich reich und differenziert ist, die in liebevoller Absicht für jedes neue Blatt, jede frische Blüte, jeden jungen Halm einen eigenen Ton bereit hat? Farbe ist ja kein wissenschaftliches Faktum, sie ist ein subjektiver Eindruck. Zu den tausend Nuancen von Grün müssen also mindestens nochmals so viele kommen – und nochmals so viele, würden uns die Waldtiere von ihrem Wissen berichten.
Es spricht, wer über die Farbe Grün spricht, gewiss zuerst aus einer Emotion. Aber was soll daran schlecht sein? Arrogant scheint vielmehr, wer den Intellekt zum ausschliesslichen Massstab seiner Empfindung macht. Der Maler Wassily Kandinsky zum Beispiel, seine Verachtung für die Farbe Grün war legendär. Er bezeichnete Grün als «eine dicke, sehr gesunde, unbeweglich liegende Kuh, die nur zum Wiederkäuen fähig mit blöden, stumpfen Augen die Welt betrachtet». Doch Kandinsky schlug den Bock und meinte dabei den Gärtner. Seine Herablassung bezog sich auf den Umstand, dass seine Zeitgenossen die Mode pflegten, ihre bürgerlichen Salons grün auszumalen oder zu tapezieren.
Doch man weiss es aus eigener Erfahrung: Der Aufenthalt im Grünen kann ein Labsal für Körper und Seele sein. Die positive Heilwirkung der Farbe wurde bereits von Hildegard von Bingen erkannt. Fern jeder exakten Wissenschaft, doch in Kenntnis von altem Wissen, führte die Ärztin im Mittelalter den lateinischen Begriff der Veriditas ein. Diese «Grünkraft» beschrieb eine Energie, die der gesamten Natur – Menschen naturgemäss nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie die Mineralien – innewohnen soll. Hildegard verstand die Kraft als unsichtbare Nabelschnur, die einen mit dem Ursprung des eigenen Lebens in Verbindung hält.
Ausverkauf der Aufklärung, spiritueller Hokuspokus? Rationalen Kriterien und wissenschaftlichen Kategorien genügt ihre Theorie zweifellos nicht. Doch ihr Vorschlag für einen Perspektivwechsel kann leicht geprobt und für jeden auf seine Gültigkeit geprüft werden. Ein Selbstversuch im Frühlingswald, wieso nicht? Auf Nasenhöhe mit der Natur wird man den Frühling so entdecken, wie man ihn nur einmal erlebt. Und dann nicht wieder.