Wenn zwei Historiker ein Spiel machen… was macht eigentlich Lienzo? – Erfahrungsbericht zur letzten Projektphase des digitalen Spiels Lienzo

Die Projektseite des Spiels Lienzo (Screenshot)
Die Projektseite des Spiels Lienzo (Screenshot)

[Autor: Jan Eikenbusch (@Jan_NTGBA)]

Als ich im Winter 2017 das Projekt übernahm, war das Spiel Lienzo – ¡Conquista América Central![1] bereits veröffentlicht und spielbar. Meine Aufgabe war es demnach nicht, neue Inhalte zu implementieren, sondern eher die Erreichung der selbstgesteckten Ziele des Projekts zu überprüfen. Um die Ergebnisse dieser Projektphase transparent zugänglich zu machen, entstand eine neue Projektseite, auf der viel Begleitmaterial zu Lienzo einsehbar ist.[2] Ist Lienzo ein gelungenes Spiel, wie fallen die Reaktionen der Spieler*innen aus? Lässt es sich gut innerhalb der universitären Lehre einsetzen?

Was bisher geschah…

Im Folgenden knüpfe ich an den ersten Projektbericht[3] von Tobias Winnerling an und versuche einige dort aufgeworfene Fragen mit Hilfe meiner Erkenntnisse im Zuge der letzten Projektphase zu beantworten.

Lienzo ist ein Computerspiel, welches im Rahmen eines Projektes durch die Historiker Tobias Winnerling und Kaj Sollmann sowie Studierende der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entwickelt wurde und seit Anfang 2017 für alle Interessierten kostenlos spielbar ist. Bei lienzos handelt es sich um eine von den indigenen Völkern Mesoamerikas überlieferte Quellenart: In einer speziellen Bildsprache wurden historische Ereignisse auf Stoff oder Tierhäuten dargestellt. Als im 16. Jahrhundert spanische Conquistadoren Mittelamerika eroberten, wurden auch diese Geschehnisse festgehalten.

Das Computerspiel orientiert sich visuell und inhaltlich an den überlieferten lienzos, im Speziellen am Lienzo de Quauhquechollan[4] und dem dort geschilderten Eroberungsfeldzug in Guatemala durch Jorge de Alvarado und seinen indigenen Verbündeten.[5]

Ein zentrales Anliegen des Lienzo-Projekts war und ist es, den Spagat zwischen spielerischen und geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen möglich zu machen. Um dies zu erreichen, wurden drei Bedingungen formuliert: Erstens sollte eine möglichst große Nähe zur Quellenlage gewährleistet werden. Zweitens sollten über eine zuvor festgesetzte technische Limitierung (Java, 2D-Darstellung, keine KI) die Machbarkeit und Zugänglichkeit des Spiels gewährleistet werden. Drittens sollte dafür gesorgt werden, dass die Hürden für eine möglichst breite Zielgruppe an historisch interessierten Spieler*innen gering ausfallen; unter anderem durch eine kurze Spieldauer.[6]

Um zu überprüfen, wie sich diese Designentscheidungen auswirken, bzw. wie sie von den Spieler*innen wahrgenommen werden, habe ich jeweils im Rahmen der drei Lehrveranstaltungen[7] der Projektphase Befragungen unter den teilnehmenden Studierenden durchgeführt.[8]

Zunächst ging es jedoch erst einmal darum zu erproben, wie Lienzo innerhalb einer universitären Lehrveranstaltung integriert werden könnte. Hierbei stellte ich schnell fest, dass es sich empfiehlt, ausreichend Zeit für das Spielen einzuräumen, sprich, den Veranstaltungsplan in gewohnte thematische Sitzungen und reine Spielsitzungen aufzuteilen.

Die erste Spielsitzung fand in der vierten bzw. fünften Sitzung des Semesters statt. Die Sitzungen zuvor wurden zur Einführung in die Geschichte Mesoamerikas und der spanischen Conquista sowie in das Themenfeld Geschichtswissenschaften und digitale Spiele genutzt. Diese Themen wurden allerdings noch nicht direkt mit dem Spiel Lienzo verknüpft, sodass die erste Spielsitzung zwar mit einigem Hintergrundwissen, jedoch nicht direkt mit einer zielgerichteten Analyseabsicht begangen wurde. Dies war beabsichtigt, damit die Studierenden die Gelegenheit bekommen konnten, selbst diese Bezüge herzustellen und sich das Spiel als Analysegegenstand selbstständig zu erschließen. Im ersten Seminar (WiSe 2017/2018) fanden insgesamt sieben Spielsitzungen statt, welche, wenn möglich, in Blocks von je zwei Sitzungen aufeinander folgten. So wurde in der ersten Spielsitzung schlicht und einfach gespielt. Erst in der darauffolgenden, zweiten Spielsitzung wurde nur zu Beginn gespielt. Anschließend wurden einige Fragen gestellt, die in der letzten halben Stunde im Kurs diskutiert wurden.

Dieses Konzept wurde im Kontext der zweiten Übung ein Jahr später (WiSe 2018/2019) angepasst: Bereits ab der ersten Spielsitzung gab es Aufgabenblätter, deren Antworten in der darauffolgenden thematischen Sitzung besprochen wurden. Dies führte im Vergleich zum vorherigen Ansatz zu einer stärker fokussierten Diskussion über einzelne Aspekte des Spiels. Die Struktur der Übung/des Praxisseminars  unterschied sich dahingehend vom ersten Seminar, dass von Anfang an Bezüge zwischen Lienzo und dem historischen Kontext geknüpft und diskutiert wurden. So wurden zu Beginn des Praxisseminars (SoSe 2018) Problemstellungen und Leitfragen diskutiert und in der Folge selbstständig von den Studierenden innerhalb der Spielsitzungen nachvollzogen, bzw.neue Analysefragen entwickelt, die an das Spiel gestellt werden konnten. Vier der hieraus hervorgegangenen studentischen Abschlussarbeiten sind in gekürzter und überarbeiteter Form auf der Projektseite einsehbar.[9]

Die Evaluationen, die geführten Diskussionen und die besprochenen Fragen im Anschluss an die Spielsitzungen sollen im Folgenden genutzt werden, um den aktuellen Stand des Projektes zu beschreiben und die im ersten Projektbericht angeführten Fragen zu beantworten.

Ein lienzo in Lienzo

Eine erste Prämisse für die Entwicklung des Spiels war die Bezugnahme der Spielwelt auf die Quellenvorlage. Vor Ankunft der Spanier waren lienzos das gängige Medium indigener Geschichtsschreibung. Diese Kombination aus Chronik und Karte inszenierte die Ereignisse ausschließlich bildlich und wurde bei öffentlichen Anlässen durch einen Erzähler erst mit mündlichen Erläuterungen ergänzt. Als Annäherung zu dieser Darstellungsform wurde eine 2D-Ansicht für das Spiel gewählt.  Außerdem wurden verschiedene Darstellungskonventionen historischer lienzos integriert, beispielsweise bei Stadtpiktogrammen.[10]

Eine erste Annäherung ist somit erreicht: die zweidimensionale Darstellung des lienzos deckt sich mit dem für Strategiespieler*innen gewohnten objektiven Point of View auf das Spielgeschehen.[11] Doch ist die Umsetzung der Quelle lienzo in das Spiel Lienzo darüber hinaus geglückt?  Laut den Reaktionen der Spieler*innen ist diese Umsetzung recht gut gelungen. Dies ist einerseits daran zu erkennen, dass innerhalb der Evaluationen keine Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Beschaffenheit der Spielwelt gemacht wurden.[12] Zudem wurde das Feature, sich seinen erspielten lienzo nach dem Spielende als Bilddatei speichern oder ausdrucken zu können, ebenfalls positiv aufgenommen. Kritisiert wurde nur, dass dieses Feature oft nicht wie beabsichtigt funktionierte, bzw. das Spiel zu oft abstürzte, als dass die Spieler*innen erfolgreich ein Spiel beenden konnten. Erst im letzten Seminar (WiSe 2018/2019) konnte dieser Fehler durch einen Workaround umgangen werden.[13]

Innerhalb der Lehre wurde das letztgenannte Feature als eine der Sitzungsaufgaben genutzt, indem die Spieler*innen auf Basis eines erspielten lienzos ihre Spielerlebnisse in Form eines fiktionalen historischen Tagebucheintrags eines Conquistadors wiedergeben sollten.[14] Dies kann auch als eine Aufgabe gewertet werden, welche dazu beiträgt, das Verständnis über die Quellenart lienzo zu erweitern. So wird davon ausgegangen, dass auch bei der Rezeption der realen Quelle ein Erzähler die Ereignisse des lienzos nacherzählt und präsentiert, d.h. im geschichtswissenschaftlichen Sinne narrativiert.[15] Durch das Spielfeature werden die Spieler*innen in diese Rolle versetzt. Dadurch müssen Sie aufmerksam die Spielwelt wahrnehmen und mit ihren Spielerlebnissen abgleichen. Aufgrund der bildsprachlichen Nähe zur Quelle entsteht so ein erster, wenn auch fiktionalisierter Zugang zur Quellengattung der lienzos. Der Vorgang der Nacherzählung und Deutung der Quelle wird demnach simuliert und kann im Nachgang kritisch hinterfragt werden. Hier könnten Lehrende in Zukunft ansetzen und weitere Übungen dieser Art konzipieren und mit Fragestellungen an die realen Quellen verknüpfen.

Der Spagat

Wie wird diese Art der Fiktionalisierung von den Spieler*innen aufgenommen und bewertet? Zum einen wird durch die eben beschriebene Nacherzählung ein kreativer Modus der  Rezeption des Spiels angeregt, im Zuge dessen die Spieler*innen versuchen, die Leerstellen in Bezug auf den historischen Kontext mit eigenem Wissen zu schließen. Beispielsweise verortet einer der fiktionalen Tagebucheinträge die Geschehnisse in Guatemala und erfindet gleichzeitig eine Stadtgründung.[16] Die Nacherzählung der Spielenden übersteigt den Möglichkeitsrahmen des Spiels und nimmt Bezug auf Orte und Prozesse, welche dem historischen Kontext entstammen. Somit scheint das Prinzip des Spiels verstanden und aufgegriffen zu werden: Ein historisierter Rahmen ist vorgegeben, innerhalb dessen aber erspielte Ereignisse nicht historisch belegbar sein müssen, jedoch möglich, d.h. plausibel, sein könnten.

Allerdings: Wenn Spieler*innen dieses Prinzip verstehen und übernehmen, läuft das Spiel dann nicht Gefahr, einen unkritischen Umgang mit historisierenden Inhalten in Spielen zu vermitteln? Bei den Rückmeldungen durch die Evaluationen wird deutlich, dass die Spieler*innen das Prinzip simulierter (Alternativ)geschichte verstanden haben, aber daraus kein unkritisches ‘Anything goes’ ableiten. Es tauchen eher Forderungen nach einem engeren Bezug zum historischen Kontext auf, bzw. wird eine „fehlende Story“[17] als Kritikpunkt angeführt. Auch wird auf fehlende Spielmechaniken hingewiesen, welche mittels historisch belegter Gegebenheiten begründbar sind, etwa „Christianisierung als Spielmechanik implementieren“, oder die generelle Forderung nach detaillierteren realhistorischen Bezügen durch „mehr Variationen an Events und Einflüssen (z.B. Logistik, schlechte Moral)“[18].

Als ein Beispiel für eine solche Spielmechanik, welche in den Augen der Spieler*innen noch ungenutztes Potenzial aufweist, kann die Generierung des Avatars vor Spielbeginn gelten. Hier kam der Vorschlag auf, die Erstellung eines Avatars nicht nur auf narrativer Ebene, sondern auch auf spielmechanischer Ebene zu nutzen.[19] Bisher können die Spieler*innen vor Spielstart den Namen ihres Conquistadors auswürfeln lassen. Hierbei werden Vor- und Familienname realer Conquistadoren neu kombiniert, sodass zwar plausible, aber eben nicht historisch belegte Namen für den Avatar entstehen.[20] Viele Spieler*innen sehen die bloße Benennung der Figur als trivial an, zumindest im Hinblick auf den weiteren Spielverlauf. Sie würden sich beispielsweise Attribute oder Vor- und Nachteile, ähnlich wie in Rollenspielen, wünschen, welche sich bei der Wahl eines bestimmten Conquistadoren auch auf die Spielweise auswirken. Somit würde ein Teil der narrativen Realisierungsebene auch ein obligatorischer Teil der spielmechanischen Ebene werden und an Bedeutung gewinnen, indem dieser Aspekt auf mehreren Ebenen des Spiels für die Spieler*innen rezipierbar wäre.[21]

Dieser Vorschlag lässt sich als eine Antwort auf die Frage deuten, inwiefern die Spieler*innen die bisher implementierte Simulation generalisierter Abläufe, welche auf konkrete historische Situationen verweisen, wahrnehmen. Die zahlreichen Anmerkungen bezüglich mehr Variabilität und weiterer zu berücksichtigender Spielelemente deuten darauf hin, dass vielen Spieler*innen die aktuelle Version des Spiels noch nicht komplex genug für ein Strategiespiel erscheint.[22] Und hier nähern wir uns wieder dem Kern des Problems: Wie ist der Spagat zwischen einer möglichst gut belegbaren historischen Basis und den fiktionalisierten Elementen zu schaffen? Die Namensgenerierung macht plakativ deutlich, dass hier fiktionalisiert wird, doch wie könnte man, ohne jeden historischen Bezug zu verlieren, Attributszuschreibungen ins Spiel integrieren? Wie ließe sich verhindern, dass Spieler*innen von einem allzu deterministischen Ansatz abgeschreckt werden?[23]

Ein Beispiel: Conquistador XY hat die besseren Voraussetzungen als ein anderer, deshalb musste er gewinnen. Solch eine Spielmechanik wäre zu vermeiden. Die Spieler*innen sehen hier die bereits angesprochene, deutlichere Bezugnahme auf den historischen Kontext als Lösung. In einem Konzept wird die Implementierung eines „Kampagnen-Modus“ vorgeschlagen, der durch eine Erzählung getragen wird, welche Raum für zusätzliche Erläuterungen und auch Quellenbezüge bietet. Ein zweiter, koexistierender Modus würde dann auf einen erzählerischen Rahmen verzichten und ein eher auf die Spielmechanik konzentriertes Erlebnis bieten.[24] Die Herausforderung würde aber wohl weiterhin bestehen bleiben, die Konzepte beider Modi so zu kommunizieren, dass die Aussage von Lienzo als bewusst historisierendes Spiel nachvollziehbar bleibt.

Die Grenzen von XML

Lienzo bietet die Möglichkeit, durch das Editieren von offen zugänglichen Spieldateien verschiedene Parameter des Spiels anzupassen. Das sogenannte Modding, d.h. eine Veränderung eines gegebenen digitalen Spiels, bezieht sich auf eine Reihe von XML-Dateien, welche sich vor allem auf die Generierung der Spielwelt, das Ressourcenmanagement und die visuelle Darstellung auswirken. In einer Spielsitzung wurden die Studierenden darum gebeten, ein solches, sehr rudimentäres Modding auszuprobieren und dabei festzuhalten, was sie genau ändern und auf Basis welcher Intention. Hier lässt sich beobachten, dass zuerst versucht wurde, die Ressourcenverteilung im Spiel anzupassen. Beispielsweise wurde angepasst, mit welcher Menge an Ausrüstung die Spielenden starten oder welche Menge an Nahrung von Gebäuden pro Runde produziert wird. Auch wurde versucht, die Ressourcengenerierung so hoch anzusetzen, dass eine Niederlage unmöglich werden sollte – vor dem Hintergrund der zahlreichen Spielabstürze wollten die Spieler*innen so ihre Chancen auf einen Spielsieg erhöhen.[25]

Ein zweiter Ansatz bestand im Editieren der Bilddateien innerhalb des Spiels.[26] Diese Möglichkeit wurde humoristisch eingesetzt, um beispielsweise die Bilddateien mit Katzenbildern zu ersetzen. Durch das so erhaltene Feedback wird aber auch deutlich, dass die Spielenden eigentlich zufrieden mit den vorherrschenden Spieleinstellungen sind. Mit der Möglichkeit des Moddings haben sie sich entweder nur zum Spaß oder aufgrund der Spielabstürze beschäftigt, jedoch nicht etwa, um somit akkuratere Bezüge zum historischen Kontext herzustellen, wie dies typischerweise der Fall bei Modifikationen für historisierende Spiele ist.[27] Dies kann zusammenfassend so gedeutet werden, dass die Spieler*innen mit den Modifikationen eher eine bessere Spielbarkeit (Ressourcenmanagement) erreichen wollten und die Verbesserungen hinsichtlich des historischen Bezugs eher, wie oben bereits erwähnt, mit weitreichenderen Veränderungen verbinden (Story-Modus, Christianisierung als Spielmechanik).

Welche Aussagen trifft Lienzo?

Aber welche Anknüpfungspunkte oder didaktischen Potenziale ermöglicht Lienzo denn eigentlich in der aktuellen Version? Durch die grafische Darstellung der Spielwelt schafft Lienzo einen ersten offensichtlichen Bezugspunkt zur historischen Vorlage, über den im Kontext eines Seminars ein guter Diskussionseinstieg gelingt. Viele Spieler*innen bezeichnen das Erforschen der Karte und das erste Entschlüsseln der Symbole als gut umgesetzte Spielelemente. Lienzo gelingt es, ein erstes Verständnis der Bildsprache von lienzos zu erreichen. In allen Seminaren wurden beispielsweise in Diskussionen direkt Bezüge zwischen Quelle und Spiel hergestellt, als es um die Frage nach einer Leserichtung oder Chronologie der gezeigten Ereignisse ging. Das Spiel schafft hier ein Bewusstsein für mögliche Leerstellen in der Chronologie der Spielereignisse, da auf dem erspielten lienzo aufgrund fehlender Markierungen eine Einordnung durch die nacherzählenden Spielenden vorgenommen werden muss. So ist der Startpunkt, wie in den realen lienzos, klar markiert, doch der Rest ist etwa durch fehlende Fußspuren nicht nachzuvollziehen.[28] In lienzos gibt es teilweise Huf- oder Fußspuren und zudem kann durch die Entzifferung der Stadtsymbole eine Einordnung vorgenommen werden.[29] Das Vorgehen bei der Quellenanalyse und der Nacherzählung der erspielten Karte weist somit Parallelen auf, die im Seminar thematisiert und diskutiert werden können.

Ein weiterer Aspekt, der bei den Studierenden für Diskussionen sorgte, war die Fokussierung des Spielerlebnisses auf ein gewalttätiges und auf Plündern ausgerichtetes Vorgehen, ohne aber die Auswirkungen dieser Gewalt zu thematisieren. Beispielsweise wird das Thema Sklaverei im Spiel nur angedeutet, teilweise sogar ausgeblendet. Einige Spieler*innen sehen hier ein Problem, wenn eine Einordnung diesbezüglich nur im „Lienzonario“ – der spielimmanenten Enzyklopädie – stattfindet. Argumentiert wurde unter anderem, dass Lienzo als nichtkommerzielles und als ein sogenanntes Serious Game[30]noch mehr Möglichkeiten der Darstellung habe. Mit dem Ausblenden der Thematik (zumindest für solche Spieler*innen, die keinen Blick in das Lienzonario werfen oder das Spiel im Kontext einer Lehrveranstaltung einordnen) laufe das Spiel Gefahr, in die gleiche Lage vieler kommerzieller Produktionen zu kommen, die am liebsten politische Aspekte ausblenden wollen (aber nicht können)[31].[32]

Die Spieler*innen stellten fest, dass das Zerstören von Siedlungen eine gute Strategie darstellt, wenn es nur darum geht, das Spiel erfolgreich zu beenden. So hat sich die Annahme, dass eine Taktik der verbrannten Erde durch andere Spielelemente zu schwer zu bewerkstelligen wäre, nicht bewahrheitet.[33] Einen wichtigen Grund hierfür sehen die Spieler*innen im Mangel an alternativen Spielzielen: Es würden Sanktionen für ein rücksichtsloses Zerstören fehlen und Anreize, um ein diplomatisches Vorgehen zu verfolgen. Die vereinfachende Aussage, die Lienzo hiermit trifft, lässt sich jedoch nicht als bewusst intendiert bezeichnen, da wie oben beschrieben die Entwickler eigentlich das Gegenteil bezwecken und ein differenzierteres Vorgehen im Spiel erreichen wollten. Als Aufhänger für eine Diskussion bietet sich dieser Umstand durchaus an und im Vergleich mit anderen Quellen und wissenschaftlicher Literatur bildete sich auch bei den Spieler*innen ein Bewusstsein dafür heraus, in welchen Aspekten Lienzo hier genau Leerstellen aufweist, die gleichzeitig auch für einen unbefriedigenden Spielverlauf sorgten. Im Anschluss hieran wurden Verbesserungsvorschläge formuliert, darunter ein Ansatz, welcher eine mögliche Art von Sanktionen implementiert und die Begründung hierfür aus den historischen Umständen bezieht.[34]

Weiterspielen

Dies verdeutlicht abermals den Status des Projekts: Lienzo ist spielbar, aber keineswegs ein rundes Spiel. Viele Punkte, die im Feedback angemerkt wurden, verdienen es, dass über eine Implementierung im Spiel nachgedacht wird. Es ist noch nicht sicher, ob und in welcher Form eine neue Version des Spiels erscheinen wird. Was für einen Zwischenstand aber festgehalten werden kann: Es kann gespielt werden! Und es soll gespielt werden! Gerne soll es  Diskussionen und Feedback anregen. Hierfür wurde eine neue Anlaufstelle[35] für das Projekt geschaffen, die alle Interessierten herzlich einlädt, einen Blick zu riskieren. Hier finden sich einige Hilfreiche und informative Materialien, etwa eine Auswertung der in den Seminaren durchgeführten Evaluationen, studentische Beiträge, welche verschiedene Aspekte des Spiels analysieren, aber auch ein kleines Tutorial, um den Spielstart zu erleichtern. Natürlich ist dort auch das Spiel selbst als Download verfügbar. Dieser Text und die Projektseite sollen nur einen ersten Anstoß für die Diskussion geben. Wir sind weiterhin an den Erfahrungen von Spieler*innen mit Lienzo interessiert, weshalb es auch die Möglichkeit gibt, Feedback in Form einer Umfrage[36] zu geben.

*

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Kathrin Trattner und Felix Zimmermann.


[1] Lienzo – ¡Conquista América Central! (Version 1.0.1), Tobias Winnerling/Kaj Sollmann 2017 (Microsoft Windows).

[2] Lienzo: Conquista América Central. Ein Lehr-Lern-Projekt zur Geschichtsdarstellung im digitalen Spiel. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/ [Stand: 24.04.2019].

[3] Vgl. Winnerling, Tobias: Selbstversuch. Wenn zwei Historiker ein Spiel machen… (28.02.2017) URL: https://gespielt.hypotheses.org/1231 [Stand: 24.04.2019].

[4] Digitalisat der Universidad San Francisco Marroquín, Guatemala, URL: https://lienzo.ufm.edu/en/view-the-lienzo/view-the-lienzo/ [Stand: 23.05.2019].

[5] Vgl. Asselbergs, Florine G. L.: Conquered Conquistadors. The Lienzo de Quauhquechollan: A Nahua Vision of the Conquest of Guatemala, Boulder 2004, S. 91ff.

[6] Vgl. Ebd.

[7] An dieser Stelle einen großen Dank an Anton Götz, der mich als studentische Hilfskraft unterstützt hat und an alle Studierenden die an den drei Seminaren engagiert mitgearbeitet, diskutiert und gespielt haben.

[8] Vgl. Evaluationen und Feedback. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/feedback [Stand: 24.04.2019].

[9] Vgl. Mosel, Michael: Deranged Minds. Subjektivierung der Erzählperspektive im Computerspiel, Boizenburg 2011, S. 74f.

[10] Vgl. Material zum Spiel. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/material [Stand: 24.04.2019].

[11] Vgl. Asselbergs, Florine G. L.: Conquered Conquistadors. The Lienzo de Quauhquechollan: A Nahua Vision of the Conquest of Guatemala, Boulder 2004, S. 127.

[12] Vgl. Material zum Spiel. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/material [Stand: 24.04.2019].

[13] Vgl. Tutorial. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/tutorial [Stand: 24.04.2019].

[14] Vgl. Nacherzählung erspielter Lienzos. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/nacherzaehlung-lienzo [Stand: 24.04.2019].

[15] Vgl. Asselbergs, Florine G. L.: The Conquest in Images: Stories of Tlaxcalteca and Quauhquecholteca Conquistadors. In: Matthew, Laura E./ Oudijk, Michel R. [Hgg.]: Indian Conquistadors. Indigenous Allies in the Conquest of Mesoamerica. Norman 2007, S. 91.

[16] Vgl. Nacherzählung erspielter Lienzos. Text 1. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/nacherzaehlung-lienzo [Stand: 24.04.2019].

[17] Vgl. Evaluation Wintersemester 2017/2018. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/ws-1718 [Stand: 24.04.2019].

[18] Vgl. Evaluation Wintersemester 2018/2019. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/evaluation-wintersemester-2018-2019 [Stand: 24.04.2019].

[19] Anmerkung: Vgl. Analysemodell nach Engelns: Unterschieden wird hier zwischen einer spielmechanischen Realisierungsebene (obligatorisch) und einer narrativen Realisierungsebene (optional), welche sich dann für die Spieler*innen auf einer  Rezeptionsebene verbindet und wahrgenommen wird. Engelns, Markus: Spielen und Erzählen: Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung (= Diskursivitäten, Bd. 19). Söchtenau 2014, S. 28, 117-133.

[20] Vgl. Winnerling: Selbstversuch.

[21] Vgl. Engelns: Spielen und Erzählen, S.126.

[22] Vgl. hier den studentischen Beitrag zu Genrekonventionen von 4x-Spielen. Siemen, Patrick: Inszenierung und Vermittlung von 4x-Elementen im digitalen Spiel Lienzo. (24.04.2019) URL: https://lienzogame.hypotheses.org/473 [Stand: 24.04.2019].

[23] So sollen möglichst viele Spielertypen angesprochen werden. Vgl. Brendel, Heiko: Historischer Determinismus und historische Tiefe – oder Spielspaß? Die Globalechtzeitstrategiespiele von Paradox Interactive. In: „Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?“ Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computerspiel (= Medien ’ Welten, Bd. 13). 2. Erw. Aufl., Münster 2012, S. 107-135, hier S. 124f.

[24] Vgl. Die im Beitrag von Herrn Brussog angeführten Verbesserungsvorschläge. Brussog, Marcel Maurice: Konzepte für die Verbesserung des digitalen Spiels Lienzo. (24.04.2019) URL: https://lienzogame.hypotheses.org/401 [Stand: 24.04.2019].

[25] Vgl. Editieren der XML-Dateien. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/editieren-xml [Stand: 24.04.2019].

[26] „Partial Conversions verändern/ergänzen häufig nur die statischen Daten eines Spiels (z.B. neue Texturen).“ Beil, Benjamin: Game Studies. Eine Einführung, Berlin 2013, S. 71.

[27] Vgl. Schröder, Lutz: Modding als Indikator für die kreative und kritische Auseinandersetzung von Fans mit Historienspielen, in: Kerschbaumer, Florian/ Winnerling, Tobias (Hgg.): Frühe Neuzeit im Videospiel: Geschichtswissenschaftliche Perspektiven (= Histoire, Bd. 50). Bielefeld 2014, S. 141-158.

[28] Vgl. Asselbergs: The Conquest in Images, S. 74-76.

[29] Vgl. Asselbergs: Conquered Conquistadors, S. 127f.

[30] Vgl. hier die Defintion des Genres und auch die Kategorie der Humanitarian Crisis Games, welche in Teilen auch für Lienzo gelten könnte. Vgl. Mayar, Mashid: Überleben im Anthropozän. Wege zu einer Definition von Humanitarian Crisis Games, in: Köstlbauer, Josef/ Pfister, Eugen/ Winnerling, Tobias/ Zimmermann, Felix (Hgg.): Weltmaschinen: Digitale Spiele als globalgeschichtliches Phänomen (= Expansion – Interaktion – Akkulturation. Globalhistorische Skizzen, Bd. 33). Wien 2018, S. 47-76.

[31] Vgl. Pfister, Eugen: Der politische Mythos als diskursive Aussage im digitalen Spiel. Ein Beitrag aus der Perspektive der Politikgeschichte, in: Junge, Thorsten/ Clausen, Dennis (Hgg.): Digitale Spiele im Diskurs, (2018) URL: https://ub-deposit.fernuni-hagen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/mir_derivate_00001443/DSiD_Eugen_Pfister_politische_Mythos_digitale_Spiele_2018.pdf [23.04.2019].

[32] Vgl. hier den studentischen Beitrag: Jordan, Dominic:  Der erste Spielzug in Lienzo – Eroberung zwischen Historizität, Ludologie und Narration. (24.04.2019) URL: https://lienzogame.hypotheses.org/462 [Stand: 24.04.2019].

[33] Vgl. Winnerling: Selbstversuch.

[34] Vgl. hier den studentischen Beitrag: Winters, Konstantin:  Die Vermittlung von Konfliktlösungsstrategien in der Eroberung Guatemalas durch das digitale Spiel Lienzo aus kulturhistorischer Perspektive. (24.04.2019) URL: https://lienzogame.hypotheses.org/478 [Stand: 24.04.2019].

[35] Lienzo: Conquista América Central. Ein Lehr-Lern-Projekt zur Geschichtsdarstellung im digitalen Spiel. URL: https://lienzogame.hypotheses.org/ [Stand: 24.04.2019].

[36] Evaluation zu Lienzo. https://lienzogame.limequery.org/554329?lang=de [Stand: 24.04.2019].


Felix Zimmermann

Felix Zimmermann is a Public Historian based in Cologne. He received his masters’ degree in early 2018 with a thesis on atmospheres of the past in video games. He receives a scholarship from the a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne and works on his dissertation in which he continues his research on atmospheres of the past. He is part of the executive board of the Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele and worked on the collective volume “Weltmaschinen: Digitale Spiele als globalgeschichtliches Phänomen” as a co-editor. You can contact him via Mail (kontakt@felix-zimmermann.net) or on Twitter (@Felix_felixson) or visit his website (felix-zimmermann.net).

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1 Antwort

  1. Ulla Menke sagt:

    Danke für den interessanten Artikel – um ihn unserer Community besser zu präsentieren, haben wir ihn in den Slider auf der Startseite de.hypotheses.org aufgenommen.

    Viele Grüße

    Ulla Menke

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