Berliner Zeitung, 22. Dezember 2001 |
Viele sind wirklich verrückt geworden
Ein Gespräch mit einer Aktivistin der afghanischen Frauen-Selbsthilfeorganisation Rawa
Während die Uno aktuell eine Schutztruppe für Afghanistan zusammenstellt, gehen die Betroffenen eher von einer Kontinuität des Leidens aus. Auch die Afghanin Safora Walid hat bereits über Jahre humanitäre Hilfe für ihre Landsleute geleistet. Walid gehört der afghanischen Frauenorganisation Rawa an, die im Jahr 1977 gegründet wurde. Diese hilft Flüchtlingen in Pakistan mit Schulen, Waisenhäusern, Werkstätten, einem Krankenhaus und ist auch in Afghanistan aktiv. Bekannt wurde die Organisation auch durch ihre heimlichen Filmaufnahmen des Taliban-Regimes.
Frau Walid, wie sind Sie Mitglied bei Rawa geworden?
Ich habe 1984 anonym verteilte Flugblätter von Rawa in unserem Klassenzimmer gefunden, das war während des kommunistischen Regimes. Es herrschte damals eine Art Ausnahmezustand, der auch auf mich großen Einfluss hatte. Ich fand diese Flugblätter sehr gut und so habe ich mich entschieden, Kontakt zu Rawa aufzunehmen. Es gab an unserer Schule einen Kreis von Mädchen, die für Rawa tätig waren. Sie waren sehr gut darin, spontane Demonstrationen zu organisieren.
Sie waren damals gerade 15 Jahre alt, was sagte Ihre Familie dazu?
Rawa-Mitglieder reden niemals mit ihrer Familie darüber, dass sie zu Rawa gehören. Ich habe das auch nicht getan, aber ich habe Flugblätter mit nach Hause genommen und sie meiner Familie gezeigt, und die Reaktionen waren positiv. Das hat mich in meiner Überzeugung bestärkt. Richtiges Rawa-Mitglied bin ich aber erst 1985, nach unserer Flucht nach Pakistan, geworden.
Worin bestand Ihre Arbeit für Rawa?
Ich habe mit zwei weiteren Frauen Werkstätten geleitet, mit denen wir versuchen, Witwen eine eigene ökonomische Grundlage zu verschaffen.
Sind Sie nach Ihrer Flucht noch einmal in Afghanistan gewesen?
Ich war mehrmals in Afghanistan, zuletzt für eine längere Zeit, von 1998 bis 2001, in einer der Provinzen. Dabei ging es um die Leitung und Koordination verschiedener Schulen.
Wie waren diese - von den Taliban ja verbotenen - Schulen organisiert?
Wir haben insgesamt zwölf Klassen in zwölf verschiedenen Häusern geführt. Es war schwierig, weil die meisten Menschen große Angst hatten. Die Frauen von Rawa sind von Haus zu Haus gegangen und haben mit den Menschen geredet und sie von der Sache zu überzeugen versucht. So haben sich dann einige bereit gefunden, ihre Kinder zu schicken oder sogar selbst mitzumachen. Der Unterricht ging morgens von acht bis elf Uhr, jeweils eine Lehrerin ist in ein Haus gegangen und hat dort gelehrt, Biologie beispielsweise. Aber es ging nicht, dass an einem Tag fünf Lehrerinnen in ein Haus gegangen wären. Das wäre aufgefallen. Also ist am nächsten Tag eine andere Frau mit einem anderen Fach hingegangen.
Waren das reine Mädchenschulen oder waren die Klassen gemischt?
Die unteren Klassen, von der ersten bis zur dritten, waren gemischt. Die höheren Klassen nicht mehr, da haben wir nur noch Mädchen unterrichtet. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Wären wir erwischt worden, wären alle gesteinigt worden. Diese Strafe drohte den Lehrerinnen sowieso.
Sind Lehrerinnen von den Taliban entdeckt worden?
Nein. Wir waren sehr vorsichtig.
Es heißt, die Taliban hätten die Menschen gezwungen, zu den öffentlichen Hinrichtungen in die Sportstadien zu kommen. Die meisten sollen verzweifelt gewesen sein, manche aber auch gejubelt haben.
Diese öffentlichen Bestrafungen hat es in Kabul und allen anderen größeren Städten gegeben. Eine Woche vorher wurde bekannt gegeben, dass jene Frau oder jener Mann im Stadion bestraft werden wird, dass die Hände abgeschnitten werden etwa, und dass alle zu kommen haben. Es wurden sogar Menschen von der Straße aufgegriffen und hingebracht, damit sie sich das anschauen. Einmal war ich selbst im Stadion als eine Frau gesteinigt wurde. Die Kabuler haben alles andere als gejubelt, die meisten Frauen haben geweint, sie haben Gott angerufen, ihn angefleht und sich zu ihm bekehrt, auch viele Männer und Jungen haben geweint. Gejubelt haben nur die Taliban. Sie haben sich unter die Leute gemischt und sie hatten Peitschen dabei. Keiner konnte etwas sagen, man wurde sofort geprügelt.
In den westlichen Medien wird der Sieg über die Taliban als Befreiung gefeiert. Sehen das die Menschen in Afghanistan auch so?
Natürlich hoffen die Menschen jetzt auf Freiheit und Demokratie, aber sie sind sehr skeptisch. Die Frauen tragen weiterhin die Burka, weil sie Angst haben. Sie sind mit Machthabern konfrontiert, die früher für Vergewaltigungen, Verschleppungen von Frauen und Mord und Totschlag verantwortlich waren und die ihnen jetzt wieder bewaffnet gegenüberstehen. Eine gewalttätige Gruppe, die Taliban, ist durch eine andere, die Nordallianz, ausgewechselt worden.
Ist es unter den neuen Mächtigen zu Vergewaltigungen gekommen?
Von Vergewaltigungen haben wir nichts gehört, aber Frauen werden häufig verprügelt, vor allem, wenn Waren verteilt werden. Es ist zu vielen Übergriffen gekommen, zu Plünderungen von Wohnungen und Geschäften. Die Sicherheit und Stabilität von der geredet wird, gibt es nicht.
Wie haben die Afghanen die dauernden Kriege überstanden?
Diese 23 Jahre Krieg haben jeden Bereich des Lebens zerstört, in kultureller, in politischer und auch in menschlicher Hinsicht. Die Frauen mussten zusehen, wie ihre Männer vor ihren Augen erschossen wurden, sie mussten zusehen, wie ihren Söhnen Hände und Füße abgehackt und sie schließlich auch getötet wurden. Die meisten Frauen dieses Landes sind nicht mehr normal, sie sind psychisch völlig ausgelaugt. Jede kommende Regierung wird bei null anfangen. Es wird dauern, bis die Frauen wieder am normalen Leben teilnehmen und ihre Berufe ausüben können. Sie brauchen psychische Betreuung. Es gibt Frauen, die die Kraft hatten, sich einen Weg zu bahnen und das alles zu ertragen, meistens, in dem sie anderen geholfen haben. Viele Frauen sind aber wirklich verrückt geworden, sie haben aufgehört zu sprechen und sind nicht mehr im Stande ihr Leben zu organisieren. Auch bei Rawa gibt es Frauen, die arbeiten und politisch aktiv sind, die aber trotzdem krank sind, die das psychisch einfach nicht mehr lösen können.
Woher nehmen Sie selbst die Kraft?
Wenn ich in die Provinzen gegangen bin, um dort zu arbeiten, habe ich Dinge gesehen, die ich kaum ertragen konnte. Was mich aus den entsetzlichen Zuständen immer wieder herausgeholt hat, war das Wissen, dass Widerstand das Einzige ist, was es gegen all das gibt. Dass die einzige Hoffnung darin liegt, dass man dem allen seine ganze Kraft entgegenstellt. Das hat mich getröstet. Ich habe die Gründerin von Rawa, Meena, persönlich gekannt. Ich weiß, wie sie sich verhalten hat, wie sie war, ich war beeindruckt von ihrer Art zu leben und davon, wie sie sich für die Frauen eingesetzt hat. Meena hat ihr Leben geopfert und dann frage ich mich: Soll ich da etwa aufgeben?
Die Fragen stellte Michaela Schlagenwerth.
Unter http://www.rawa.org/ kann man mehr über Rawa, Spendenmöglichkeiten und Patenschaften für Waisenkinder erfahren. Am Sonntag um 20 Uhr gibt es im Tempodrom eine Benefiz-Gala für Rawa.