Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 39–53 [w78_bsh.htm]



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»Wir wollten Geschichte schreiben«

Bosch Siemens Waschmaschinenfabrik, Berlin-Spandau

Gliederung des Artikels

Vorgeschichte

Chronologie

Personen und Orte der Handlung

Thesen zum Streik

Gespräch mit einem Kollegen aus dem BSH

Nuran erzählt

Vorgeschichte

Am 29. Juni 2006 berichtet die Berliner Zeitung unter der Überschrift BSH baut weiter Hausgeräte in Berlin – Geplante Schließung zum Jahresende ist vom Tisch: »Die BSH-Geschäftsführung einigte sich mit dem Betriebsrat und der IG Metall darauf, über ein neues Standortkonzept zu verhandeln. ›Es sieht vor, dass wir Teile der Produktion fortführen›, sagte der Betriebsleiter des BSH Günther Meier … Im Gegenzug würden ›erhebliche kostenwirksame Zugeständnisse‹ der Mitarbeiter erwartet… Arno Hager sagte: ›Ich glaube, wir werden eine Lösung finden, um dauerhaft in Berlin zu fertigen.› Zu den Zugeständnissen der Mitarbeiter wollte sich Hager vorerst nicht äußern. Meier sagte, er erwarte ›eine Kostensenkung im deutlichen Millionenbereich‹.«

Anfang Juli lehnt der BSH-Betriebsrat das ab. Wer Wildcat 74 (»Das einzige, was sie von uns erwarten können ist ein Arschtritt«) und Wildcat 75 gelesen hat, versteht warum: »Der Betriebsrat kam mit Sprüchen wie: ›Wir haben keine Tabuthemen!‹ – da haben einige ArbeiterInnen ganz klar geantwortet: ›Aber wir!« Die Leute wollen hohe Abfindungen, auf keinen Fall aber eine Verschlechterung der bisherigen Bedingungen. Sie wissen, dass ihr Kampf zum Bezugspunkt geworden ist: »Jetzt sind wir überall die Helden« (Wildcat 75)

Am 25. Juli verkündet BSH die Stilllegung der Produktion für Anfang 2007; Forschung und Entwicklung seien davon nicht betroffen. Nun verhandeln IG Metall und Betriebsrat über einen Sozialplan für die betroffenen 570 der insgesamt 1050 Beschäftigten. Als diese Verhandlungen scheitern, setzt man im August eine Streikleitung ein und blockiert ab dem 6. September die Produktion durch eine kontinuierliche »außerordentliche Betriebsversammlung«. Am 17. September sind in Berlin Wahlen, da kann der SPD-IG Metall-Filz nach den Betriebsschließungen bei Samsung, JVC, CNH keine weitere öffentliche Diskussion um die Bedingungen der ArbeiterInnen in der Hauptstadt brauchen!

Am 18. Oktober 2006 schließen IG Metall und BSH folgenden Sozialtarifvertrag ab:

• Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen für 400 gewerbliche Beschäftigte bis zum 31. Juli 2010 (270 Arbeitsplätze in der Fertigung, 60 in der Wäschepflege, 40 in der Logistik, 30 werden in andere Betriebe im BSH-Konzern versetzt)

• 2007 gibt es keine Tariferhöhungen

• die tariflichen Leistungszulagen werden um durchschnittlich 100 Euro pro Kopf gekürzt (betrifft 500 Beschäftigte)

• für alle außerhalb der Fertigung wird die Arbeitszeit unbezahlt auf 40 Stunden erhöht

• alle müssen eine Stunde pro Woche länger arbeiten (»Qualifizierungszeit«)

• die betriebliche Jahreszahlung (»Dividende«) fällt weg; das waren ca. 1500 Euro zur Jahresmitte

• 20 Prozent von Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden gestrichen

• die halben Tage Urlaub am 24. und 31.12. werden gestrichen

• 216 Leute werden entlassen

Mit Lohneinbußen von bis zu 300 Euro (bei 1500 netto) und dem Abbau von 216 Arbeitsplätzen mit Abfindungen in der Größenordnung von 1,5 Monatslöhnen entspricht dieser Scheißabschluss zu 90 Prozent dem, was Meier und Hager Ende Juni angepeilt hatten. Aber zwischen den beiden Terminen liegt der wichtigste Streik in der BRD im Jahr 2006! Aus ihm können wir lernen, wie die ArbeiterInnen in einem scheinbar aussichtslosen und schlecht vorbereiteten Kampf zwischenzeitlich in die Offensive kamen. Und aus ihm müssen wir lernen, warum es trotz einer eindrucksvollen Revolte vieler Streikender nicht gelang, den Kampf über den Verrat der IG Metall hinweg fortzusetzen.

Chronologie des Streiks

Vom 6. bis 22. September wird die Produktion durch »außerordentliche Betriebsversammlungen« blockiert.

15. September 2006

Der Unternehmer versucht, Maschinen abzutransportieren – das wird verhindert.

19. September 2006

Urabstimmung: 95 Prozent für Streik.

1. Streiktag – 25. September 2006

Um 3 Uhr wird das Tor dicht gemacht. Um 12.30 Uhr findet eine Streikversammlung statt.

2. Streiktag – 26. September 2006

Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Bosch-Siemens-Werke aus München besucht das Streikzelt. Ein weiterer Besucher ist Arno Hager.

3. Streiktag – 27. September 2006

Vor der Fabrik auf der Bernauer Straße wird die Streikzeitung verteilt. Um 11 Uhr besuchen die Azubis der Bautechnikschule Spandau zusammen mit ihrem Lehrer das Streikzelt. Um 12.30 kommt eine Delegation von 3 KollegInnen der Firma Siemens-Messgeräte (PTB). Bei der Streikversammlung werden Grußbotschaften des Konzernbetriebsrats Siemens und der Gewerkschafter von der AEG verlesen.

4. Streiktag – 28. September 2006

Vormittags besuchen Schulklassen das Streikzelt. Klaus Ernst, WASG hält eine Rede; er zieht Parallelen zum langen Marsch der Kugellagerindustrie von Schweinfurt in den 90er Jahren nach Bonn während seiner Zeit als Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Schweinfurt. Er verspricht, den Marsch nach München mitzuorganisieren und Kontakte zu Verwaltungsstellen in Bayern zu ksnüpfen. Der zweite Redner des Tages, Olivier Höbel, bemängelt die fehlende Mitbestimmung in den Betrieben.

5. Streiktag – 29. September 2006

Die GL versucht, den BR-Mitgliedern den Zutritt zum Firmengelände zu verwehren. Eine Gruppe von 20-25 Streikenden kehrt von einem spontanen Besuch im Werk Nauen zurück. Mehrere Schulklassen mit ihren Lehrern kommen vorbei. Höhepunkt des Tages ist um 11 Uhr der Auftritt von Gysi. Gegen Mittag kommt noch Momper unangemeldet vorbei.

7. Streiktag – Sonntag, 1. Oktober 2006

Ruhiger Tag, die Streikenden, ihre Familien und die Unterstützer essen gemeinsam, trinken, klönen, diskutieren…

8. Streiktag – 2. Oktober 2006

Vormittags kommt die Presse: Welt, Berliner Morgenpost, ZDF, WDR und Spiegel TV.

Petra Pau von der Linkspartei kommt vorbei, Klaus Lederer übermittelt die Solidarität des letzten Parteitags, eine Unterschriftenliste und 400 Euro. Die Montagsdemo endet im Streikzelt, wenig Beteiligung, kaum Arbeiter, die Diskussion im Zelt ist MLPD-dominiert.

10. Streiktag – 4. Oktober 2006

Heute keine Gäste außer Spiegel TV und den Gewerkschaftlern von BMW. Auf der Streikversammlung sind der Streikleiter Luis Sergio und Güngör Demirci fast alleine.

Nachmittags findet ein Waschtag am Breitscheidplatz statt. Wäsche wird von Hand gewaschen, um die Zukunft Berlins ohne BSH symbolisch darzustellen. Die Teilnahme hätte besser sein können, aber trotz des Regens erwecken die KolllegInnen viel Aufmerksamkeit.

11. Streiktag – 5. Oktober 2006

Der Marsch der Solidarität geht um 9 Uhr mit einer Kundgebung los, an der Delegationen von BMW, Daimler, Otis und Siemens teilnehmen. Neben DGB-Chef Michael Sommer und Olivier Höbel sprechen Wowereit (SPD) und Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei). Die anschließende Demo zieht sich bis 12 Uhr und legt ganz Spandau lahm. Danach steigen die Leute am Rathaus Spandau in die acht Busse, wobei sie von Gysi begrüßt und verabschiedet werden.

Erstes Ziel ist BSH-Nauen. Der verdatterte Dorfpolizist ist verzweifelt: »Aber die IG Metall hatte uns eine ungehinderte LKW-Zufahrt zugesichert!« Antwort: »Das mag sein, aber wir wollen das nicht, wir sind hier, um zu blockieren!« Was auch effektiv umgesetzt wird, wenn 250 Leute entschlossen auftreten, geht nichts mehr.

Die Belegschaft in Nauen besteht nach dem Eindruck vom Schichtwechsel aus jungen 17-30 jährigen Ostdeutschen, darunter sehr viele Leiharbeiter. Kaum Solidarität, einer zückt nen Zwanni für die Soli-Kasse. Die ›Spandauer‹ machen sich nen Spaß draus, die ›Nauener‹ durch ein langgezogenes Spalier fahren zu lassen. Allzu Coole, Griesgrämige, Kurzgeschorene haben eine besonders langgezogene Ausfahrt. Gewerkschaftler und Betriebsräte des Nauener Werks zeigen an der Aktion kein Interesse. Ein einziger Betriebsrat solidarisiert sich mit dem Kampf. Erst später nimmt der BR-Vorsitzende die Forderungen der Streikenden halbherzig auf.

12. Streiktag – 6. Oktober 2006

Bei regnerischem Wetter sind fast alle im Streikzelt. Sechs Betriebsräte und die VKL-Leiter des ehemaligen Ford-Werkes kommen. Um 12.30 Uhr fängt die Streikversammlung an. Luis Sergio und die Streikleitung: ›Die Aktion von gestern war ein voller Erfolg. Wir waren gleich am ersten Tag in der Tagesschau. Unsere KollegInnen haben heute in Eisenhüttenstadt eine sehr gute Aktion durchgeführt. Jetzt beginnt eine neue Phase des Kampfes. Wir müssen alle Kräfte einsetzen. Deshalb sollen morgen alle nach Leipzig fahren, da der bekannte Pastor der Nikolaikirche, Christian Führer, sich bereit erklärt hat, für uns, für die Streikenden, um 14 Uhr eine Ansprache zu halten.‹

13. Streiktag – 7. Oktober 2006

Busse mit über 200 Streikenden fahren nach Leipzig. Dort sammeln sie sich am Bahnhofsplatz und marschieren, Flugblätter verteilend, in Richtung Nikolai-Kirche, wo zu dieser Zeit eine Podiumsdiskussion zum Thema Sozialabbau und Gesundheitsreform stattfindet.

14. Streiktag – Sonntag, 8. Oktober 2006

Ausruhen, Klönens und Nachdenken.

15. Streiktag – 9. Oktober 2006

Die Haltung der Medien ist seit Beginn des Marsches überraschend positiv: Spiegel TV (RTL) hat am Sonntagabend (8.10.06) eine objektive Darstellung gegeben und als Grund des Konflikts bei BSH die Profitgier des Unternehmens genannt. Der RBB will am Montagabend um 20.15 Uhr einen Bericht über den unbefristeten Streik senden.

16. Streiktag – 10. Oktober 2006

Der Marsch der Solidarität kommt bei Miele in Bielefeld vorbei. Die Streikaktivisten berichten, dass sich die IG Metall vom Marsch total zurückzieht, dass sie dort, wo sie hinkommen, von der Gewerkschaft keinerlei Unterstützung, Kontakte o.ä. kriegen.

17. Streiktag – 11. Oktober 2006

Eine Delegation des Siemens-Dynamowerks kommt zu Besuch. Solidaritätsadressen von der IG Metall Nürnberg, der GEW und der IG Metall Rosenheim werden verlesen. Kollege Artur Fischer, Erster Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Rosenheim, hat sich mit einem Brief an Jürgen Peters und B. Huber gewandt und sie gebeten, dass eine gemeinsame Strategie in Bezug auf den BSH-Streik entwickelt und alle Arbeitnehmer-Vertreter der BSH-Werke in Deutschland geschlossen am 19.10.06 an der Demo teilnehmen sollten.

18. Streiktag – 12. Oktober 2006

Gute Nachrichten vom Bus aus Nürnberg.

19. Streiktag – 13. Oktober 2006

Außer den Streikposten sind nur eine Handvoll Menschen auf dem Streikgelände, 6 Busse sind zu BenQ nach Kamp-Lintfort gefahren. Gegen Mittag kommt eine Delegation von Osram in Begleitung des VKL-Leiters zu einem langen Gespräch mit der Streikleitung. Gegen 16 Uhr melden sich die Kollegen aus Kamp-Lintfort. Die Stimmung steigt!

20. Streiktag – 14. Oktober 2006

Auf dem Streikgelände ist es so lebhaft wie noch nie. Die Gewerkschaftler der Firma Osram und von ICom (ehemals Herlitz) informieren sich schon in den frühen Morgenstunden. Anschließend berichtet Güngör Demirci über den Prozess beim Arbeitsgericht: Es wurde kein Urteil gefällt, aber auf Wunsch von BSH wurde ein Vergleich geschlossen: eine Gasse von drei Metern Breite muss gebildet werden. Olivier Höbel sagt danach: Hohe Anerkennung für diese motivierte Belegschaft. Das übersteigt alle Erwartungen. Ihr solltet so lange nicht aufhören, bis die Anerkennung der anderen Seite da ist. Ein ZDF-Team kommt.

Podiumsdiskussion mit Gewerkschaftlern aus Polen/Türkei/Spanien (Hasan Aslan von DISK, Todeos Felizinski von Solidarnosc und die Dolmetscherin Gesine Traub im Auftrag der spanischen Gewerkschaftler)

Hasan Aslan: Seit 1997 produziert BSH Weiße Ware in der Türkei, in der Größenordnung von 3,5 Millionen Produkten jährlich. BSH hat seinen Gewinn im Jahre 2005 um 57 Prozent auf 55 Mio. netto steigern können. Die Arbeiter verdienen 2,13 Euro in der Stunde, das sind 680 Euro brutto monatlich. Das gilt aber nur für die Stammbelegschaft, die ein Drittel der Beschäftigten ausmacht. Die meisten sind Leiharbeiter und verdienen den Mindestlohn von 284 Euro brutto im Monat.

Todeos Felizinski, Regionalvorstand aus Lodz, überbrachte Solidaritätsgrüße der Belegschaft von BSH Lodz; offizielle Vertreter habe er nicht erreichen können. Er schildert die desolate Situation in seiner Gewerkschaft, die in den letzten zehn Jahren 90 Prozent ihrer Mitglieder verloren hat. Die Beschäftigten könnten nicht auf die Unterstützung der Gewerkschaften zählen, die Löhne betragen zwischen 300 und 400 Euro; Arbeitsverhältnisse seien grundsätzlich nur befristet. Es gäbe 3,5 Millionen Arbeitslose, das entspräche einer Quote von 15 Prozent. Obwohl die Arbeitslosenzahlen gegenüber dem letzten Jahr um 5 Prozent gesunken sind, seien nicht mehr Leute in Lohn und Brot gekommen, sondern viele sind ins Ausland gegangen, insbesondere nach Großbritannien und Irland.

21. Streiktag – Sonntag, 15. Oktober 2006

Tag der Familien. Es wird gemeinsam gegessen und getrunken. Der Offene Kanal macht Aufnahmen und Interviews.

22. Streiktag – 16. Oktober 2006

Keine Streikgasse! Bereits um 6.30 Uhr hat sich eine große Menschenmenge, u. a. Arbeiter von Osram, BMW und Siemens-Messtechnik, vor den Werkstoren versammelt. Die SPD hat dort von 6-18 Uhr eine Kundgebung angemeldet, um die Streikenden bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. Die Reden sind doof wie immer: Lucy Redler von der WASG ruft alle zur DGB-Demo am 21.10. auf… Aber zum ersten Mal bringen sich alle ein, eine andere, kämpferische Stimmung macht sich breit. Weder Arbeitgeber noch Streikbrecher lassen sich blicken. Laut inoffizieller Erklärung der Arbeitgeber wollen sie weder heute noch morgen versuchen, ins Werk zu gelangen. Luis Sergio mutmaßt, dass im Siemensvorstand z.Zt. der kompromissbereite Flügel gegenüber den Hardlinern das Sagen habe. Morgen um 8 Uhr soll auf Initiative des Arbeitgebers vor dem Landesarbeitsgericht ein Einigungsversuch unternommen werden. Viele äußern große Bedenken dagegen.

Die KollegInnen von BMW halten ihre BR-Sitzung im Streikzelt ab. Es gehen wieder zahlreiche Solidaritätsadressen, u. a. aus der Schweiz und Österreich, ein. Die KollegInnen von Miele in Bielefeld teilen mit, dass sie mit 2 Bussen nach München kommen werden.

23. Streiktag – 17. Oktober 2006

Die Delegation vom Landesarbeitsgericht kommt ins Streikzelt, RA Thomas Berger fasst den Prozess im Namen der Streikleitung zusammen: Er habe den Eindruck, dass BSH das Werk Berlin erhalten wolle. BSH wolle sich nicht als Schließer der Nation vorstellen und keinen AEG-Effekt. Luis Sergio sagt, dass die Streikleitung bis zum 22. November Teilfortführungskonzepte erstellen müsse. Das wäre für die Streikenden eine Ruhezeit, um sich richtig vorzubereiten. Er gehe davon aus, dass bis Weihnachten kein Ergebnis in Bezug auf Schließung oder Kündigungen fallen könne.

Güngör Demirci ergreift das Wort: Von überall kämen Erfolgsmeldungen. Heute hätten die KollegInnen vom BSH in Dillingen die Produktion lahm gelegt… Schon die Bereitschaft der Arbeitgeber zu Gesprächen könne als positives Signal bewertet werden. Man werde die Verhandlungen aufnehmen und die bekannten Forderungen nochmal wiederholen.

Am Freitag, den 20. Oktober soll ab 18 Uhr ein Streikfest stattfinden. Alle Streikenden und Unterstützer mit ihren Familien und Freunden werden zusammen essen, Musik hören und einen Film über den Streik ansehen.

24. Streiktag – 18. Oktober 2006

In den frühen Morgenstunden wird den Streikenden der Kompromiss, der zwischen BSH, IG Metall und dem Betriebsrat in der Nacht geschlossen worden ist, präsentiert: Von den derzeit 616 Beschäftigten sollen 370 unter deutlich schlechteren Bedingungen bleiben; 30 sollen bei den Muttergesellschaften in Berlin untergebracht werden. 216 werden entlassen. Bis zum 31.7.2010 soll es keine betriebsbedingten Kündigungen geben. Gleichzeitig haben die Verhandlungsführer der IG Metall unterschrieben, dass sie es ab sofort unterlassen werden, Protestaktionen gegen BSH außerhalb Berlins durchzuführen. Das offizielle Streikende wurde auf den 20.10.2006, 24 Uhr festgeschrieben.

Während der Ausführungen von Höbel werfen die Streikenden spontan ihre Streikwesten und Sticker auf die Bühne. Den ganzen Tag über finden sehr kontroverse Diskussionen statt. Die Belegschaft fühlt sich von den Verhandlungsführern und von der Streikleitung belogen. Die Wellen schlagen hoch, als Luis Sergio vorgibt, man habe die Zahlen der Demonstrierenden in der Streikzeitung zugunsten der Streikenden manipuliert.

Nachmittags herrscht ohnmächtige Wut, manchmal Rachefantasien oder Hoffnung auf Fortsetzung des Kampfes, andere reden sich das Ergebnis schön. Überwältigend aber der Eindruck der Niederlage in den Augen selbst der Arbeiterinnen, die morgen mit Nein stimmen werden. Selbst die Wütenden sind absolut ratlos, was sie machen sollen, wenn die Abstimmung zu ihren Gunsten ausgeht, was zudem unwahrscheinlich ist.

Später begreife ich, dass in den diskutierenden Gruppen häufig ein Gewerkschafter (Verhandler, Betriebsrat, Gesandter) in der Mitte und Rede und Antwort steht. Ein bisschen Blitzableiter, Tröster, Beschwichtiger in einem. Darunter auch der BR-Vorsitzende von CNH und eine Kollegin von CNH, die Leute neben dem Tisch, an dem ich sitze, bespaßt: »Ich werde auch entlassen, aber ich bin mit unserem Ergebnis zufrieden. Mehr war nicht drin. Die Leute waren müde vom Streik. Einige hatten frisch gebaut und konnten sich den Streik nicht mehr leisten…« (Aber die Lohnkürzung oder Arbeitslosigkeit!)

25. Streiktag – 19. Oktober 2006

Die Streikenden sind mit der Einigung nicht einverstanden und machen ihrer Wut in einer heftigen Diskussion in der Streikversammlung Luft. Unter Applaus melden sich unerwartet viele zu Wort. Sie sind besonders zornig darüber, dass die Streikleitung und die IG Metall Hand in Hand die geplante Kundgebung in München vor der BSH-Zentrale abgesagt haben. Ein Arbeiter springt auf, reißt das Mikro an sich und erklärt, der Abschluss sei schlechter als das letzte Angebot von BSH, diesen faulen Kompromiss könne man nicht hinnehmen, es müsse weiter gestreikt werden. Vor allem könne ohne Vereinbarungstexte keine geheime Abstimmung stattfinden. Stehende Ovationen von 95 Prozent der Anwesenden. Nachdem Sergio erläutert, dass geheim abgestimmt werden müsse, er aber großzügigerweise die Abstimmung weiter nach hinten verschiebe und eine anschließende Versammlung zur Erläuterung der Vereinbarung zugesteht, beruhigt sich die Situation kurzzeitig. Eine Arbeiterin ranzt den Betriebsrat Demirci an, er habe gesagt, er würde mit dem Meier nie an einem Tisch sitzen, nun hätten aber beide unterschrieben. Demirci fühlt sich immer mehr fehl am Platz und wird immer mehr in die Ecke gedrückt. Die Situation eskaliert ein weiteres mal, als ein Arbeiter ihm an dem Kopf schmeißt, er sei nun selber ein Streikbrecher und müsse von der Abstimmung ausgeschlossen werden. Da rastet der Betriebsratvorsitzende aus, brüllt wie ein Elch los und erläutert seinen Werdegang: seitdem er 18 war, habe er gegen das Großkapital gekämpft, keiner könne ihm Streikbruch vorwerfen.

Dann gibt es eine Pause.

Danach wird die Vereinbarung Punkt für Punkt diskutiert. An Punkt 9 (»keine Protestkundgebungen außerhalb Berlins«) eskaliert die Situation endgültig: alle ArbeiterInnen im Zelt stehen auf und skandieren: »Arbeit für alle – Solidarität«, sie klatschen rhythmisch. Das Podium verliert zunehmend die Kontrolle, Höbel und Hager flüchten in die letzte Reihe. Mehrfach nach Redebeiträgen stehende Ovationen, »Wir wollen kämpfen« Sprechchöre, auf dem Podium wird ein »Sagt Nein«-Transparent aufgehängt und ein paar Minuten bejubelt. Die Solidarnosc-Fahne hängt wohl schon länger, fällt mir aber erst jetzt auf. Die ganze Steigerung aber merkwürdig zerrissen und etappenweise…

Die ArbeiterInnen fordern eine öffentliche, nicht geheime Abstimmung; die Gewerkschaft besteht auf ihren Statuten, aber schlussendlich sagt ein Gewerkschafter, das sei wohl ein eindeutiges Votum, den Streik nicht abzubrechen. Ein Redner, der auf dem Marsch dabei war, fragt zum Abschluss seines Beitrags, er habe noch eine Frage: wer ist für Fortführung des Streiks? Woraufhin sehr viele (nicht alle) die Hand heben, während sich keiner auf die Gegenfrage hin meldet. Noch später erklärt Güngör Demirci in der letzten von einem halben Dutzend persönlicher Erklärungen, dass der Betriebsrat durch Widerruf des arbeitsgerichtlichen Vergleichs über die in die Einigung eingefügte Klausel die ganze Einigung kippen könne, dass für ihn Mehrheit 50 Prozent +x heiße und er selbstverständlich auf der Seite der Belegschaft stehe. Am Ende der Versammlung steht er mit erhobener Faust auf der Bühne, während die Gewerkschafter betröppelt in der Gegend umherschauen. Demircis Erklärung wird von fast allen Teilnehmern der Versammlung mit stehendem Beifall begrüßt und akzeptiert. Das ganze Zelt bebt. Dann geht’s in die Urabstimmung.

26. Streiktag – 20. Oktober 2006

Um 12 Uhr werden die Wahlurnen geschlossen. Die öffentliche Auszählung beginnt. Gegen 13.15 Uhr gibt Sergio das Wahlergebnis bekannt. Als er die Streikenden mit ›liebe KollegInnen‹ anredet, brüllen diese: Wir sind nicht die Kollegen von Streikbrechern! Er wiederholt seine Anrede nicht und teilt mit, dass Kranke, Urlauber und Streikbrecher nicht an der Wahl teilnehmen dürfen, sie aber laut Satzung automatisch als Stimme für das Tarifergebnis gezählt würden. Daraufhin bricht ein Tumult aus, Buh-Rufe… Laut Streikleitung gab es 539 Stimmberechtigte, davon stimmten 513 ab, was einem Prozentsatz von 95,8 Prozent entspricht. Davon waren 167 Ja-Stimmen (32,5 Prozent) und 344 Nein-Stimmen (67,5 Prozent). Zwei Stimmen waren ungültig.

Nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses will Olivier Höbel etwas sagen. Als er auf die Aufforderung doch abzuhauen, sinngemäß antwortet »Ich gehe nicht«, ruft jemand: »Dann gehen wir!« – wenn irgendwas noch eine kleine Chance gerettet hat, dann war es diese Aktion mit dem Auszug. Mein Eindruck ist, dass die Wut zwar groß ist, die Ideen aber schwer zu finden sind. Die Idee mit dem »dann gehen wir« illustriert das: Aus dem Spruch von Höbel folgt die Umkehrung, folgt die Aktion. Mit einem anderen Spruch von Höbel hätte es ganz anders ausgehen können. Diesen poetischen Ideengenerationsprozess finde ich großartig, aber ohne ihn hätte es keine Idee im Saal gegeben, wie nun weiter. Das Zelt leert sich, IG-Metall-Funktionäre und Streikleitung bleiben mit der Presse alleine. Die Leute rufen im Hinausgehen: Wir streiken weiter! Solidarität! Kurz danach taucht eine Polizeistreife auf. Irgendjemand (mutmaßlich die IG Metall) muss sie gerufen haben.

Draußen wird überlegt, wie es jetzt weitergeht. Später schließt sich der BR-Vorsitzende der Menge an und gibt bekannt, dass er alles tun werde, damit der Streik fortgesetzt werden kann. Trotz des Ergebnisses werde er bei der Verwaltungsstelle und beim IG Metall-Vorstand durchzusetzen versuchen, dass politisch weitergestreikt wird. Er werde die drei Hauptforderungen der Belegschaft. kein Personalabbau, höhere Abfindungen und bessere Konditionen bei der Vorruhestandsregelung vortragen. Per Akklamation votieren die versammelten Streikenden ohne Gegenstimme dafür. Die Wahl einer neuen Streikleitung wird angekündigt, aber nicht durchgeführt. – Danach ist Pause! Es ist völlig unklar, wie es nun weitergeht. Dass Luis Sergio (und irgendwie auch Güngör Demirci, der zumindest nach jedem schriftlichen Verrat einen verbalen Widerruf leistet) nach all dem Bisherigen immer noch auf dem Podium stehen kann, spricht Bände. Die Pause direkt nach einer Entscheidung, die doch Klärungsbedarf hervorrufen müsste, ebenfalls.

IG-Metall-Sprecher Bernd Kruppa betont, dass die Vereinbarungen nach IG-Metall-Satzung akzeptiert seien. Die Beschäftigten von BSH wollen das nicht akzeptieren, ein Betriebsratsmitglied erklärt: Wenn die IG Metall uns nicht mehr unterstützt, werden wir den Kampf allein weiterführen.

Gegen Abend kommt die Nachricht, dass sich das höchste Gremium der IG Metall weigert, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Wut und Hoffnungslosigkeit machen sich breit, viele fordern die Fortsetzung des Streiks ohne die IG Metall.

Wie aus dem Nichts tauchen nacheinander Wowereit, Gysi und Harald Wolf auf, um zu den Streikenden zu sprechen und sie zu beschwichtigen. Auch die Lieder von Dieter Dehm können die Belegschaft nicht beruhigen; er muss abbrechen, bevor ihm die Leute an den Kragen gehen.

21. Oktober – Die BSH-ArbeiterInnen gehen als Gruppe auf die DGB-Demo mit einem Transparent: »Wir wollen weiterkämpfen. Wo ist die IG Metall?« Sie dürfen auf dem Podium nicht reden.

24. Oktober

BSH eröffnet in Nauen eine neue Fertigungslinie für Waschmaschinen.

25. Oktober – Wiederaufnahme der Arbeit nach zwei arbeitsfreien Tagen.

Wildcat 74, Sommer 2005: »Sie fangen Mitte 2006 in Nauen an, in der Regel haben sie sechs bis zwölf Monate Probleme mit einem neuen Produkt. Deshalb sagte ich ja: vielleicht finden sie den ’Kompromiss‘, hier noch etwas länger als bis Ende 2006 zu produzieren.«

Personen und Orte der Handlung

Die Streikenden – Insgesamt haben etwa 470 Leute gestreikt, die allermeisten gehörten zu den 620 »Gewerblichen«. Die Angestellten aus Forschung und Entwicklung (insgesamt 400 Beschäftigte) haben sich bis auf wenige Ausnahmen nicht am Streik beteiligt.

Güngör Demirci – BR-Vorsitzender im BSH Spandau, seit 1981 freigestellter Betriebsrat.

Luis Sergio – IG Metall-Sekretär; zuständig für Betriebsbetreuung Spandau. Offizieller Streikleiter.

Arno Hager – 1. Bevollmächtiger der IG Metall Verwaltungsstelle Berlin; zuständig u.a. für Struktur- und Industriepolitik, Krisenfrühwarnsystem für Betriebe; Hartz-IV-Verfechter; Miteigentümer der Transfergesellschaft ABZ, welche die KollegInnen von JVC und dem Siemens-Dynamo-Werk abwickelte; nach einem Skandal Anfang 2006 wird nun die Transfergesellschaft weitblick die rausgeschmissenen BSH-KollegInnen abwickeln; sie »betreut« bereits die gekündigten CNH-Leute.

Olivier Höbel – seit Juli 2004 Bezirksleiter der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen

Berthold Huber, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, früher KABD – Vorgängerorganisation der MLPD. (die Renegaten sind die schlimmsten!) Zitat: »Weiße Ware hat in Deutschland keine Zukunft – dafür ruiniere ich keine Tarifverträge.«

Meier, Günther – Werksleiter des BSH in Spandau

Osram – gemeint ist das ca. 750 m entfernte Werk; gehört zum Siemenskonzern. Berlin ist Osrams größter Standort in Deutschland, 1900 Beschäftigte fertigen Speziallampen für Kraftfahrzeuge, Film und Schaufensterbeleuchtung.

BMW – gemeint ist das Motorradwerk des BMW-Konzerns; es ist ca. 2 km entfernt. Hier bauen ca. 2200 Beschäftigte im Jahr ca. 92 000 Motorräder, bis zu 540 am Tag; ein Siebtel der Produktion sind Autokomponenten.

CNH (ehemals Orenstein & Koppel), ebenfalls in Spandau, 6 km vom BSH entfernt. Nach 102 Tagen Streik, dem längsten in der Geschichte der Berliner Metallindustrie, schloss die IG Metall (dieselbe Truppe wie beim BSH) am 1. Juni einen Sozialtarifvertrag ab: »Die Schließung wird um vier Monate auf den 30. November 2006 hinausgeschoben, die von Kündigung Betroffenen kommen für zwölf Monate in eine Beschäftigungsgesellschaft.« Nach dem Skandal Anfang 2006 allerdings nicht mehr in die Transfergesellschaft ABZ, sondern in eine namens Weitblick, die ebenfalls dem DGB gehört. www.weitblick-personalpartner.de/ Sie werden sich auch um die rausgeschmissenen KollegInnen vom BSH kümmern. Am 100. Streiktag sprachen übrigens Olivier Höbel und Wowereit zu den Streikenden, die Totengräber der Arbeiterkämpfe in Berlin, beide SPD.

BSH Bosch Siemens Hausgeräte beschäftigt in der BRD noch rund 14 000 Menschen, größtenteils an den sieben Fertigungsstandorten in Traunreut, Dillingen, Giengen, Bretten, Bad Neustadt/Saale, Berlin-Spandau und Nauen. Weltweit hat der Konzern mehr als 37 000 Beschäftigte in 40 Ländern.

BSH Spandau/Berlin – 2006 noch 1024 Beschäftigte.

In der Fabrik (fbw – fabrik waschen berlin) werden seit 1953 Waschmaschinen hergestellt, 2006 arbeiteten dort noch 566 ArbeiterInnen. Außerdem befindet sich auf dem Gelände die Abteilung pw (Entwicklung, Controlling, Qualitätsmanagement, Einkauf und Informationstechnologie) mit 345 Angestellten, sowie das Regionallager Nord für Fertiggeräte und ein Lieferzentrum zum weltweiten Versand mit 55 ArbeiterInnen.

BSH Hausgerätewerk Nauen GmbH – 35 km vom fbw entfernt.

Der Fertigungsstandort Nauen wurde in den 90er Jahren mit gewaltigen Subventionen hochgezogen; rechtlich gehört er nicht zum Konzern BSH, so dass dort keine Tariflöhne bezahlt werden müssen. Er umfasst zwei Fabriken, die seit 1994 Waschmaschinen und Wäschetrockner herstellen. Langfristig ist er wohl eher als logistischer Standort wichtig.

BSH Fabrik Dillingen (FDG) (im Nordwesten Bayerns), ca. 900 Beschäftigte

1960 wurde der Standort von Bosch gegründet. Weltweit verantwortliches Entwicklungs- und Kompetenzzentrum für Geschirrspülmaschinen.

BSH Fabrik Giengen (FGK), ca. 2200 Beschäftigte

Die Fabrik in Giengen wurde 1944 gegründet. Die Produktion von Kühl- und Gefriergeräten begann 1949. Alle Entwicklungs- und Forschungsaktivitäten für die Kältegeräte der BSH werden von hier aus weltweit koordiniert und betreut.

BSH Bad Neustadt (Nordbayern) – Die Fabrik wurde 1937 gegründet und gehört seit 1996 zu BSH. Bad Neustadt ist das größte Staubsaugerwerk Deutschlands. Am Standort befindet sich auch das Kompetenzzentrum Bodenpflege, das weltweit für Entwicklung, Innovation und Qualität verantwortlich ist.

Werk in Polen: Łòdz (2005)

Werke in der Türkei: Istanbul und Çercezköy (1995)

Thesen zum Streik

Erstens. Alle Kämpfe der Gewerkschaft enden mit einem Sieg – nur die Basis erlebt es anders.

Auch diesen Kampf hatte die IG Metall so angelegt (»gegen die Plattmacher«), dass sie den Abschluss als Erfolg würde verkaufen können: BSH hatte nie gesagt, sie wollten den Standort schließen! F&E sollte in Berlin bleiben; und bereits Ende Juni hatte man sich auf eine Teilfortführung der Produktion geeinigt. – Dass aber zwei Monate nach Streikende noch keine offizielle IG Metall-Dokumentation den Sieg verkündet, zeigt, dass irgendwas nicht planmäßig gelaufen ist.

Zweitens. Wie gegen Betriebsschließungen kämpfen? Was tun, wenn der Streik an sich dem Unternehmer nicht mehr weh tut?

Die ArbeiterInnen haben sich mit dem »Marsch der Solidarität« aus dieser Schlinge gezogen. Die Marke Siemens schlecht zu machen, zielt auf eine empfindliche Stelle: Firmen, die mit Produktionsverlagerung ins Ausland drohen und Konsumprodukte herstellen (vor zwei Jahren Opel, Anfang des Jahres AEG, nun Siemens…) sind auf den Absatzmarkt BRD angewiesen. Siemens hatte sehr aufmerksam den »AEG-Effekt« (zweistelliger Absatzrückgang nach dem Streik in Nürnberg) registriert, die eigene Marke hatte schließlich davon profitiert.

Drittens. Die ArbeiterInnen sind sozusagen hinter ihrem Rücken in die Offensive gekommen.

Die IG Metall hatte sie nach Kamp-Lintfort geschickt – dort kam es zur spontanen Verbrüderung auf der Straße. Ein Funke ans Pulverfass: die Mischung aus Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen einerseits, Korruption und Selbstbedienungsmentalität in den Vorstandsetagen andererseits ist explosiv. Der Marsch der BSH-ArbeiterInnen hatten begonnen, betroffene Belegschaften an der Basis zusammenzuführen; eine gemeinsame Arbeiteraktion in München hätte eine gewaltige Signalwirkung gehabt.

Viertens. In denselben Tagen hatten die Streikenden endlich begonnen, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.

In Berlin hatten sie sich geweigert, eine Streikgasse freizumachen. Im Bus hatten sie die Gewerkschaftsroute verlassen und eine Kreativgruppe gebildet. Vor dem Hintergrund der Solidarisierungsdynamik Richtung »München« hat »das bißchen« ausgereicht, um aus dem scheinbar aussichtslosen Kampf eine Bedrohung zu machen.

Zu »dem bisschen« ist übrigens jede gegen Schließung kämpfende Belegschaft in der Lage: ein paar tausend Euro und 40 Leute, die bereit sind, eine Woche im Bus zu anderen Betrieben zu fahren.

Fünftens. Als am 31. Mai 2005 die ArbeiterInnen von BSH mit zwölf Bussen nach München fuhren, ließen die Manager vor Angst die Bilanzpressekonferenz ausfallen. 2006 war Siemens noch viel mehr unter Druck: Korruptionsaffäre, BenQ, 30-prozentige Erhöhung der Vorstandsgehälter… Und nun stand ihnen eine gemeinsame Demo ins Haus! Wie es einer in der Streikversammlung ausdrückte: »wir waren dabei, die Hand an die Gurgel des Siemens-Konzerns zu legen. Und die Gewerkschaft hat uns auf die Finger gehauen.« Es ist die politische Funktion von Gewerkschaften, direkte Konfrontationen zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern abzufangen. Das macht man mit Statuten und geheimen Wahlen, notfalls mit Erpressung und Fakten schaffen: Noch in der Verhandlungsnacht wurde Punkt 9 der Vereinbarung umgesetzt, »München« abgesagt und der Bus zurückbeordert.

Auch für die Gewerkschaften selber war »München« brisant, weil es unmittelbar vor den bundesweiten DGB-Demos am 21.10. eine Kampflinie vorgegeben hätte. Kämpfende Belegschaften, die ihre Aktionen spontan verbinden, lösen eine Dynamik aus, die schwer zu kontrollieren ist.

Sechstens. Sobald der Kampf Stärke gewinnt, tritt der Unternehmer in Verhandlungen. Damit spaltet er die Streikenden (»höchstens 30 Prozent würden [zum Erhalt des Arbeitsplatzes] schlechtere Bedingungen akzeptieren« Wildcat 74 – diese 30 Prozent haben die Urabstimmung »gewonnen«!). Solange er jede Verhandlung ablehnte, hatte er die ArbeiterInnen vereinigt und man konnte die Abfindungsforderungen hochschrauben. Für den Kampf musste eine bewusste Einheit hergestellt werden. Das ging nur über die Forderung »keine Kündigung!« Das Üble am Kampf gegen Betriebsschließungen: ein Meister hat mehr Interesse, seinen Arbeitsplatz zu erhalten, als ein Bandarbeiter.

Siebtens. Wie kann man auf die Idee kommen, den Kampf für »keine Kündigung und keine Verschlechterung der Bedingungen« an die IG Metall zu delegieren? Sie hat doch immer Arbeitsplatzabbau und Verschlechterung der Bedingungen moderiert (BenQ). Weil es im BSH so gut wie keine unabhängigen Arbeiterstrukturen mehr gibt! Die Aktiven waren damit ausgelastet, den Streik zu stabilisieren und hatten keine Kraft, sich um Flugis, Streikzeitung, Demos … zu kümmern.

Die Gewerkschaft findet da ihre Existenzberechtigung: Schwache ArbeiterInnen zu beschützen (Sergio im Streikzelt: »wir haben die Zahlen nach oben frisiert«). Und umgekehrt sieht sie in der Unabhängigkeit der ArbeiterInnen eine Existenzbedrohung (Olivier Höbel: »Wenn Ihr nicht zu streiken aufhört, werden wir nie wieder von Schließung bedrohte Belegschaften zum Streik aufrufen!«).

Achtens. Die ArbeiterInnen haben im Kampf sehr viel gelernt. [Deshalb beschränken wir uns auf diese Thesen und geben ihnen gleich das Wort.] Aber diese Erfahrungen lassen sich nicht bündeln, wenn jetzt vor allem die aktive Generation das Werk verlässt. Die Hoffnung, die einer im Gespräch ausdrückt: »sie werden irgendwann woanders anfangen und dann ihre Erfahrungen einbringen«, würde ja nur stimmen, wenn sie in nächster Zeit wieder im Kampf stünden.

Die Aussichten darauf haben sich allerdings – rein statistisch gesehen – deutlich verbessert (die Anzahl der Streiks hat deutlich zugenommen).

Neuntens. Wie bei den Streiks im Frühjahr im Öffentlichen Dienst, so auch jetzt: Die ArbeiterInnen blockieren siebeneinhalb Wochen lang die Produktion und stehen fast vier Wochen davon vorm Tor – und fast niemand kommt – weder aus anderen Betrieben, noch aus der linksradikalen Berliner Szene… (Kämpfe um) die Bedingungen der Verausgabung von Arbeitskraft werden nicht als etwas Politisches verstanden. Streiks müssten diesen Raum erst wieder öffnen. Nur ein »Arbeiterkampf«, der weder die »allgemeinen Interessen vertritt« noch in ein paternalistisches Betreuungsschema passt, kann das heutige Politikverständnis aufbrechen. Nur ein offensiver, »egoistischer« Kampf für die eigenen Interessen trägt das Potenzial in sich, die Isolierung der Kämpfe voneinander zu überwinden und die Welt zu verändern.

Zehntens. Die Phase der »außerordentlichen Betriebsversammlung« und die ersten zehn Tage im Streik wurden verschenkt. Es wurden weder Kontakte zu anderen Betrieben aufgebaut, noch eine Außenwirkung auf mögliche UnterstützerInnen. IG Metall-Klamotten und -Flugis wie auch die selber gemalten Transpis (»wir wollen arbeiten!«) haben Leute eher frustriert, die nach Spandau gefahren waren, um zu unterstützen. Das tapfere Aufbäumen gegen den Abschluss kam zu spät - man hätte sich monatelang vorbereiten müssen, Bündnispartner aufbauen, Kontakte knüpfen…

Elftens. Ein paar einfache Regeln – die immer wieder vergessen werden: Keine Einzelpersonen zu Verhandlungen schicken. Keine Urabstimmung, bevor man verloren hat. Entscheidungen gemeinsam fällen. Kontakte selber herstellen. Transparente selber malen. Flugis selber schreiben… Wer erstellt eine Streikfibel: »Das 1x1 für Streikanfänger«?

Zwölftens. Was können wir bei einem solchen Streik von außen tun?

Hingehen und mit den Leuten reden. Hilfe anbieten. Ideen aufnehmen und daraus z.B. ein Flugi machen (den Leuten eine Stimme geben). Gespräche haben auch ganz banal die Funktion, den Streikenden ein Spiegel zu sein.

Wer mehr tun will, kann Plakatieren gehen, Spuckis auf Siemens-Geräte in Verkaufsräumen kleben, Flugis vor JobCentern, auf Wochenmärkten, in Öffentlichen Verkehrsmitteln verteilen. Man kann sich auch als »Kollege« einbringen; Studierende und Profs können z.B. (nachts) Seminare zur Unterstützung (der Nachtwache) vor dem Fabriktor abhalten; SchülerInnen können an ihren Schulen Flugis verteilen und aufrufen, zum Tor zu gehen und sich an den Demos zu beteiligen. Leute in anderen Betrieben können Kontakte herstellen und ihre KollegInnen mit zum Tor schleppen…

Gespräch mit einem Kollegen aus dem BSH

Der Streik

Am 6. September haben wir mit »Betriebsversammlungen« angefangen und damit die Produktion lahmgelegt, am 25. September haben wir das Tor besetzt, damit hat der Streik offiziell angefangen. Es war nicht geplant, drei Wochen lang Betriebsversammlung zu machen, wir hatten gedacht, nach drei Tagen gehen uns die Themen aus. Der BR-Vorsitzende hat fast jeden Tag 45 Minuten bis eine Stunde geredet, zwei Berater vom Betriebsrat auch jeweils eine halbe bis dreiviertel Stunde. Der Betriebsrat hat etliche BR-Vorsitzende von anderen Werken eingeladen, Politiker, Hartz IV-Berater, Steuerberater …

… der auseinandergenommen hat, wieviel von der Abfindung bleibt…

Der wollte was über Abfindung und Steuern machen. Um wochenlang jeden Tag eine achtstündige Betriebsversammlung rumzukriegen, war uns alles recht, selbst Steuerberater… Und dann hat er so einen Mist erzählt und den Leuten Angst gemacht – war ja nicht alles falsch, von 80 000 Abfindung gehen 20 000 auf jeden Fall weg!

Eigentlich sollte der Streik am 18. September. Als er dann endlich anfing, waren schon alle Themen dreimal diskutiert worden. In den ersten Streiktagen hatten wir nix mehr zu diskutieren, da haben wir Filme gezeigt, jeden Tag Streikfilme.

Aber auf den Betriebsversammlungen hattet Ihr doch auch schon Filme gezeigt?

Ja! Infineon-Streik, AEG-Streik, diesen Interconti-Streik, wo sie drei Jahre lang in Mexiko gestreikt haben… Wir haben auch die Leute von der Charité eingeladen, die haben auch zwei, drei Stunden gesprochen.

Hat das was gebracht? Sind die dann auch gekommen, als Ihr gestreikt habt?

Wir wollten mit der Charité und den Eisenbahnern zusammen eine gemeinsame Betriebsversammlung vorm Brandenburger Tor machen. Dann wurde der Charité-Streik abgesagt, und die Eisenbahner sind irgendwie untergetaucht… Als wir gestreikt haben, sind die Charitéler nicht gekommen. Trotzdem hat es was gebracht, denn Leute, die noch nie gestreikt haben, auf einen Streik vorzubereiten, ist nicht so leicht. Je mehr Leute von außen kamen, desto mutiger wurden unsere Kollegen: ›wir sind nicht allein! wir können es schaffen!‹

Ihr habt wenig Unterstützung gekriegt…

Von den meisten Betrieben sind nur Delegationen, nur Vertreter gekommen. Wenige Arbeiter aus anderen Werken, eigentlich nur von CNH, von denen waren vier, fünf Leute oft da. Ein Betriebsrat von BMW war fast ständig da. Aber z.B. von Osram waren nur zweimal zwei Betriebsräte da! Insgesamt hatten wir mehr erwartet. Wir haben von den Betrieben sehr wenig Unterstützung gekriegt.

Warum war das so?

Ich glaube, das ist die allgemeine Stimmung: Jeder stirbt für sich. Wenn BMW gestreikt hätte, wären vielleicht von uns auch nur fünf hingegangen. Als sie bei CNH gestreikt haben, sind aus unserem Betrieb auch nicht mehr als zehn Leute hingegangen. Wenn jetzt irgendwo gestreikt wird, würden von BSH vielleicht 30 bis 40 Leute hingehen und das unterstützen. Aber das sind Erfahrungen, die während des Kampfs entstehen, dass man auch selber Hilfe braucht und anderen helfen soll. So wie die von CNH zu uns gekommen sind; vorher wusste ich nicht mal, dass es diese Fabrik gibt, die hat man nie bei Mobilisierungen gesehen! Viele sind durch den Streik schon ein bisschen politisiert worden. Die wissen jetzt, wo sie stehen und wo das Kapital steht und wie die Zusammenhänge sind. Einige haben die ersten Tage richtig Schiss gehabt, ›okay, ich möchte streiken, aber der Arbeitgeber soll mich nicht dabei sehen‹. Diese Hemmung war später weg, und dieselben Leute waren in der zweiten Woche, als Streikbrecher kamen, ganz vorne. Andere haben sich geschämt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben Flugblätter verteilt haben – und auf einmal war's ganz logisch, dass man Flugblätter verteilt. Solche praktischen Sachen, das sitzt jetzt bei den Leuten.

Wo kamen die Ideen her? Sind alle Aktionen von der Streikleitung ausgegangen?

Ja, das hat die Streikleitung organisiert. Nauen zu blockieren usw. Manchmal sind auch Sachen einfach so passiert. Zum Beispiel sind KollegInnen zu Osram gegangen; das haben sie vorher abgesprochen. Zweimal wurden auch in Nauen Flugis verteilt, ohne die Streikleitung zu fragen...

Habt Ihr durch die Flugis und die Blockade-Aktion nun endlich Kontakte in Nauen gekriegt?

Nachdem sie in Nauen 600 Leute rausgeschmissen haben, sind jetzt mehr als 50 Prozent über Sklavenhändler im Betrieb, denen geht das alles am Arsch vorbei. Der Rest sind Angestellte, oder Leute, die irgendeine Position haben. Nein, wir haben keine Kontakte dorthin.

Eure Streikleitung war eher durch Zufall entstanden…?

Im August, als 70 Prozent der Leute im Urlaub waren, musste eine Streikleitung gebildet werden, um Forderungen aufzustellen. Die IG Metall hat eine Mitgliederversammlung gemacht, zu der kamen nur 38 Leute. Von denen haben sich 15 zur Wahl gestellt und sind alle gewählt worden. Das ging eher nach Quote: ein Pole, zwei Frauen, eine Angestellte, eine Gewerbliche usw..

Gab es neben der Streikleitung andere Gruppen? Haben sich z.B. die Polen untereinander abgesprochen? Die Vietnamesen?

Nö. Teilweise haben Leute Vorschläge eingebracht. Die deutschen Facharbeiter haben z.B. vorgeschlagen, eine Musikgruppe zu bilden, die auf dem Kudamm spielt, um auf uns aufmerksam zu machen. Aber das wurde nicht umgesetzt. Alle haben irgendwie mitgemacht, aber nicht so eigeninitiativ. Teilweise ist das BSH-Tradition: wenn man sie aufruft, machen sie mit! Das ist bisschen komisch, wenn man das mit anderen Fabriken vergleicht.

Warum haben die Leute, die auf der Betriebsversammlung geredet haben, dann am Anfang im Streikzelt wieder den Mund gehalten?

Vielleicht war ihr Ziel Streiken – mit dem Streik war das Ziel erstmal erfüllt, und alle waren happy. Es gab ja erstmal keine weiteren politischen Ziele. Den Leuten ging es gut, sie hatten zu essen, gutes Wetter… Du hast es ja mitbekommen: am Anfang war keine so richtig kämpferische Stimmung. Das kam erst in den letzten Tagen, da haben dann viele gesprochen. Vorher wurde der Streik so geführt wie eine Betriebsversammlung. Politiker kamen vorbei, wurden beklatscht, »Kollegen, seid schön brav! die könnten uns vielleicht helfen« (lacht)

Was habt Ihr außer Streikzeitung, Website und Marsch der Solidarität noch gemacht? Wie viele Leute haben bei solchen Aktionen mitgemacht?

Vor dem Streik hatten wir bereits einen Autokorso und eine Kundgebung vor der Siemenszentrale gemacht. Während des Streiks haben wir Wäsche gewaschen auf dem Kudamm und zweimal vor Elektroläden Flugblätter verteilt, in ganz Berlin, Saturn, MediaMarkt, Karstadt usw. In Siemensstadt haben wir morgens in den U-Bahnen an die Leute auf dem Weg zur Arbeit Flugblätter verteilt. Und an der Ampel vorm Tor haben wir natürlich jeden Tag sehr viele Flugblätter verteilt. Wir haben gesagt: »wer macht mit? 30-40 Leute brauchen wir.« Dann haben sich 30-40 gemeldet. Es war nicht so, dass die Leute nach Aktionen geschrien haben! Manchmal kamen für eine Aktion nur zehn Leute zusammen.

Waren das immer dieselben?

Flugis verteilen gegangen sind eher Facharbeiter, Elektriker, Schlosser – von denen wir eigentlich gedacht hatten, ›vielleicht streiken die gar nicht mit‹ oder so – und Montierer. Am Waschtag waren zwei Betriebsräte, Montierer, zwei, drei Facharbeiter und einige Frauen… Eine andere Zusammensetzung als beim Flugblattverteilen.

Wie viele Leute haben überhaupt gestreikt?

470 von insgesamt 1000 haben Streikgeld bekommen. Die erste Woche war schlimm, viele haben einfach nach Möglichkeiten gesucht abzuhauen! Der Streik, das Postenstehen usw. blieb an 150 Leuten hängen. Einmal waren 100 Leute als anwesend eingetragen, und nur 20 Leute waren da. Nachmittags kamen wir mal von einer Aktion zurück, und es waren nur zehn Leute da. Viele hatten bis dahin den politischen Sinn des Streiks überhaupt nicht verstanden. ›Hauptsache, ich hab unterschrieben und krieg mein Geld; der Rest interessiert mich nicht.‹ Dann wurde eingeführt, dass man beim Kommen und beim Gehen beim Gruppenführer unterschreiben muss.

Was war die positive Überraschung beim Streik?

Dass viele, von denen man nicht erwartet hatte, dass sie überhaupt beim Streik teilnehmen, sehr aktiv waren! nie in ihrem Leben an einer Demo teilgenommen oder Flugblätter verteilt! Dass sich die Facharbeiter eingebracht haben, war wichtig. Die hatten vorher noch nie in ihrem Leben an einer Demo teilgenommen oder Flugblätter verteilt. Außerdem die Polen; sie haben ein deutliches Klassenbewusstsein, sind nicht unbedingt Linke, aber sie können die Klassen auseinanderhalten. Von vielleicht 100 Polen im Betrieb waren 80 richtig aktiv im Streik.

Haben auch Leute gestreikt, die nicht in der IG Metall sind?

Ein paar. Viele Nicht-Mitglieder haben sich krank schreiben lassen, sehr wenige haben mitgemacht. Die Angestellten haben entweder gearbeitet oder ihre ganzen Urlaubsansprüche verbraucht. In Nauen haben sie glaub ich nur 120 oder 150 Leuten Arbeit anbieten können.

Wie lief es mit der Streikzeitung? Das war doch ne Idee von der IG Metall?

Ja, das ist jetzt Standard bei Streiks. Aber die IG Metall hat sie von Anfang an sehr oft zensiert. Einer hat z.B. mal im Streikzelt auf die Frage, wie lange wir streiken würden, geantwortet: ›Ich hab schon einen Tannenbaum bestellt, keine Angst!‹ Das hatten die auch so in die Streikzeitung geschrieben, mussten es aber rausnehmen.

Die IG Metall hat das Geld gegeben, die üblichen Streikklamotten und Fahnen angeschleppt…

Ja, am ersten Tag haben sie alles hingestellt. Sergio war jeden Tag da, die anderen kamen nur zwei- oder dreimal, um im Streikzelt zu reden. Auf den Streikversammlungen konnte jede/r reden, ob jetzt die MLPD mit ihrer Montagsdemo kam oder sonst wer.

Es hat aber eine andere Außenwirkung, ob du überall die IG Metall-Fahnen hinstellst, IG Metall-T-Shirts trägst, die üblichen »Arbeit-Arbeit-Arbeit!« malst oder ob du das selber in die Hand nimmst!

Diese T-Shirts haben sie drucken lassen, wollten dann aber 10 Euro pro Stück haben. Dann haben wir sie genommen und gesagt, wir zahlen dafür nix, haben sie aber für 5 Euro verkauft und das Geld in die Streikkasse getan.

Für viele Leute war wichtig, dass die IG Metall zum Streik aufruft, weil du dann keine Angst hast, ob du am Monatsende deinen Lohn bekommst oder nicht – die Gewerkschaft war dein Arbeitgeber. Und viele, die überwiegende Mehrheit, haben gesagt: ohne die schaffen wir es sowieso nicht.

Was hat der Streik diesbezüglich bewirkt? Haben ein paar Leute gemerkt, dass 500 Leute mehr erreichen können?

Ein paar der aktiven KollegInnen sagen: Die wollten nicht, es war viel möglich, aber die IG Metall wollte nicht.

Das Ende

Wann habt Ihr mitgekriegt, dass verhandelt wird?

Schon am Freitag! Die haben nicht gesagt, was sie tun, aber sie haben gesagt, es gäbe ›Gesprächssignale‹, höchstwahrscheinlich werde Dienstag abgeschlossen, aber keiner sollte das erfahren, es könnte ja scheitern. Eine Woche vorher war in Berlin Siemens-Aufsichtsratssitzung; dort sitzt auch Huber drin. Ich glaube, damals wurden bereits die Eckpunkte einer Einigung festgehalten. Es war ja auch komisch, dass der Arbeitgeber erst so spät einen gerichtlichen Antrag auf eine Streikgasse gestellt hat. Die hätten sie in drei Tagen durchhaben können, sie haben es aber zwei Wochen lang laufen lassen und erst in der dritten Woche vor Gericht den Antrag gestellt.

Trotzdem habt Ihr Euch nicht auf den Verrat vorbereitet!

Am Montag hat einer von uns auf der Versammlung im Streikzelt öffentlich gesagt: ›Leute, morgen wird verhandelt.‹ Da haben die Leute sofort gefragt: ›Was ist mit München??!‹ Und IG Metall und BR haben versichert: ›egal, was für einen Abschluss es gibt, wir fahren auf jeden Fall nach München! Wenn die Arbeitsplätze gerettet werden, fahren wir hin, um uns zu bedanken‹ oder solchen Quatsch. Am nächsten Tag haben sie es abgesagt. Das war einer der Hauptkritikpunkte von den Leuten: ›Ihr habt uns belogen!‹

Die Streikleitung hatte 9:6 für das Ende des Streiks gestimmt…

Ja. Der BR-Vorsitzende ist drin, sein Stellvertreter. Ein Meister, zwei deutsche Frauen, die unbedingt arbeiten möchten. Vor allem Leute, die die Kündigung sowieso nicht trifft und Leute, die Interesse dran haben, dass es das Werk weiterhin gibt, egal unter welchen Bedingungen. Denen war egal, ob 216 gehen müssen.

Durften bei der Abstimmung Streikbrecher teilnehmen?

32 Prozent haben »ja« gesagt, es war keine Manipulation. Mit diesen 3 Prozent Streikbrechern sind sie auf 35 Prozent gekommen. Die Ja-Sager haben meistens am Freitag abgestimmt. Viele, die im Zelt geschrien haben, haben trotzdem mit »Ja« gestimmt und nachher mehr geschrien als die anderen, um nicht aufzufallen. Es war auch teilweise nicht möglich, offen zu sagen: ›Ich stimme mit Ja.‹ Das ist immer noch so. Es gibt immer noch eine Spaltung im Betrieb zwischen Ja-Sagern und Nein-Sagern. ›Du hast mit Deiner Ja-Stimme 216 Kündigungen zugestimmt!‹.

Was wäre ein Streikziel gewesen, das Ihr hättet erreichen können?

Dass es keine Kündigungen gibt! Das haben die Leute von vornherein gesagt. Und keine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Mindestens fünf Jahre Standortsicherung mit Investitionen. Das haben alle gesagt: ›wenn sie nicht investieren, kommen sie nach zwei Jahren wieder und wollen dicht machen.‹ Deshalb war allgemein im Streik die Einschätzung: ›diesmal sind wir stark, diesmal müssen wir alles durchziehen‹.

Nach dem Streik

Wie sieht es im Moment im Werk aus?

Der Krankenstand pendelt zwischen 30 und fast 40 Prozent.

Laut Vereinbarung muss die Einigungsstelle am 15. Dezember fertig sein, schaffen sie das?

Der Druck der Arbeitgeber und der IG Metall ist sehr groß, das durchzuziehen. So einen Mist könnten sie nirgends mehr durchsetzen, wenn sie das hier nicht durchkriegen. Bis zum 31.1. muss alles geklärt sein.

Die Gewerkschaft war mindestens eine Woche lang damit beschäftigt, den Streik abzuwürgen. Olivier Höbel hat am Ende sogar gedroht: ›Wenn Ihr nicht aufhört zu streiken, werden wir nie wieder von Schließung bedrohte Belegschaften zum Streik aufrufen!‹ Das war keine leere Drohung, eine Gewerkschaft, die zum Streik aufruft, muss garantieren können, dass sie ihn auch beenden kann.

Die IG Metall hatte gemerkt, dass der Streik ihrer Kontrolle entgleiten könnte und hat ihn auch deshalb beendet. Die hatten unterschätzt, dass im Streik alles sehr anders wurde als vor dem Streik. Dabei waren zwei Sachen wichtig: die große Solidarisierung in Kamp-Lintfort und dass wir keine Streikgasse bilden wollten. Da hat die IG Metall Schiss gekriegt! Wir haben im Streikzelt gesagt: ›Wir bilden keine Gasse!‹ Bei jedem Verstoß sollten sie 25 000 Euro zahlen oder so, da haben wir gesagt: ›Das interessiert uns nicht! Wir lassen keinen rein.‹ Da hat die IG Metall schon kalte Füße bekommen. Ab montags um 6 Uhr haben wir alles dicht gemacht. Es ist aber keiner gekommen von den Arbeitgebern, das hat uns sehr gewundert. Später hab ich gehört, dass es da schon fest stand, dass am Dienstag verhandelt wird. Die IG Metall hatte wohl mit dem Arbeitgeber abgesprochen, dass sie nicht provozieren sollten, indem sie die Gasse durchzusetzen versuchen.

Schon vier Tage vorher hatte ihnen die spontane Verbrüderung in Kamp-Lintfort gezeigt, dass da was aus dem Ruder zu laufen drohte…

Es war ja nicht so, dass wir nicht gewarnt worden wären! Vor AEG kamen Arbeiter zu uns: ‹Die werden Euch verarschen! Passt auf!‹ Leute von CNH haben uns das gleiche erzählt. Aber man kämpft mit der IG Metall nicht auf gleicher Augenhöhe, es war unser erster Streik, und das war deren hundertster Verrat, die wissen, wie man das macht. Hätten wir vielleicht 20 Leute unter uns gehabt, die wie bei AEG von der IG Metall verarscht worden sind, wäre die Sache anders ausgegangen. Ein zweites Mal würden wir uns wahrscheinlich nicht verarschen lassen.

Ihr kriegt keine zweite Chance, das ist die Scheiße! Die bei AEG würden sich auch kein zweitens Mal verarschen lassen…

Aber unser Problem war: wenn die IG Metall nicht zum Streik aufruft, hätten wir uns den Arsch aufreißen können – hätten die Leute gestreikt? Nein! Das haben wir nicht hinbekommen. Wenn wir selber stark genug wären, hätten wir die sowieso nicht gebraucht. Wir haben den Streik nur zustande bekommen, weil sie legal dazu aufrufen konnten.

Es ist immer sehr schwierig, gegen Betriebsschließungen zu kämpfen. Normalerweise liegt die Macht darin, dass man streikt…

Wir sind in modernen Zeiten: vor dem Fabriktor gewinnst du keinen Streik! Öffentlichkeit reißt auch nix rum; Autokorsos oder Demos zum Roten Rathaus haben kaum was gebracht. Sie haben vor allem Schiss, wenn man zu anderen Betrieben geht, und noch mehr, wenn man konzernweit was auf die Beine stellt. Z.B. Siemens, konzernweit, oder mit BenQ zusammen, da haben beide Seiten Riesenschiss, IG Metall und Arbeitgeber, dass sie das nicht mehr kontrollieren können. Zu 500 Leuten können sie sagen, ›Ihr könnt uns am Arsch lecken, der Streik ist zuende, geht arbeiten!‹ Aber bei 10 000 wäre das nicht möglich.

Zuweilen hatte man auch das Gefühl, dass der Glaube an die Führer in diesem Streik wieder viel stärker bestimmend war als in den letzten Jahren. Diese Riesenwut: ›die haben uns verraten!‹ ist ja auch die andere Seite davon, dass man vorher ganz viel erhofft hat von diesen Führern.

Am Anfang war der Glaube an den Betriebsrat und die IG Metall sehr groß. Dieses Vertrauen ist jetzt weg. Es war für die IG Metall unerwartet schwierig, unseren Streik auszulöschen, aber sie haben es trotzdem hinbekommen. Der Kontrollmechanismus über die Klasse funktioniert noch sehr gut, egal, ob er von örtlichen Betriebsräten ausgeübt wird oder von Gewerkschaften. Mit Worten konnten wir das Vertrauen der Leute in die IG Metall nicht brechen. Aber die IG Metall tut das mit Taten, das ist auch ein Mittel zur Politisierung.

Der ganze Mist ist vor dem Streik passiert

Die Gewerkschaft hatte einen Sozialtarif gefordert; damit kann man einen legalen Streik führen. Ein Kampf für den Erhalt aller Arbeitsplätze lässt sich so aber nicht führen, da ein Sozialtarif zwangsläufig die Frage von Abfindungsregelungen behandelt.

In den Verhandlungen vor dem Streik bis zum Juni oder August hat man dem Unternehmer nach und nach den ganzen Tarif zum Geschenk angeboten. Damals haben sie immer behauptet: ›die werden sowieso dicht machen, wir müssen alles anbieten, damit wir in der Öffentlichkeit gut da stehen.‹ Und deshalb haben sie auch die Unterhosen angeboten. Der ganze Mist ist vor dem Streik passiert! Der Unternehmer wusste von vornherein, was er kriegt, sobald er sich an den Tisch setzt. 40-Stunden-Woche, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld … war ja alles schon angeboten!

Du hast am Ende vom Streik mal gesagt: die letzten Tage waren so schön, da hat sich die ganze Plackerei gelohnt. 20 Jahre geschuftet, dass ich das erleben durfte…

Gelohnt in dem Sinne, dass die Leute alles selber bestimmt haben und auf keinen gehört haben, ob das jetzt ein Betriebsrat, der Vorsitzende vom BR, oder die IG Metall war, sie haben immer dagegen gehalten und die Geschichte selber bestimmt. Die IG Metall hat Schluss gesagt, und die Leute haben sich widersetzt.

Gibt es jetzt mehr Vertrauen in sich selber?

Früher war ein Streik eine Illusion, jetzt ist er zu einer normalen Sache geworden. In dem Sinne, ja! Das Ergebnis, das jetzt da ist, hätten vielleicht vor dem Kampf viele akzeptiert. Aber im Streik hat sich eine Eigendynamik entwickelt, viele sind aus sich rausgegangen. Ich hab mal mit zwei, drei Älteren gesprochen, die haben mir gesagt: wenn man mir vor zwei Jahren gesagt hätte: Du stehst vorm Werk und blockierst das Tor, hätte ich den ausgelacht. Was doch noch möglich ist im Leben! (lacht) Der eine hatte noch nie an einem Warnstreik teilgenommen – aber jetzt im Streik hat er mit uns zusammen das Tor blockiert. Die Leute sehen, dass es was Tolles ist, wenn man gemeinsam was macht. Zum Beispiel hat die Nationalitätenfrage während des Streiks überhaupt keine Rolle gespielt. Auf Arbeit ist das anders, da sitzen die Kurden, Türken, Deutschen, Vietnamesen oder Polen getrennt in ihren Pausenecken. Wenn es keine Kündigungen gäbe, könnte man jetzt nach dem Streik sehr schön was aufbauen. Man hat neue Leute kennengelernt, weiß, wer was kann. Es wäre ein sehr fruchtbarer Boden, in den man was pflanzen könnte… Aber diese 500 Leute bleiben ja nicht lebenslang arbeitslos, die werden irgendwo anfangen. Darum geht es jetzt.: wie bringen sie ihren Kampf weiter voran, und erzählen woanders davon?

Wie geht’s weiter?

Nach jedem Streik gibt es eine Diskussionen, was man hätte besser machen können; wie kann man für die Zukunft lernen. Das Problem ist, dass kein Austausch stattfindet. Zum Beispiel wird es vielleicht irgendwann mal VW treffen, aber jetzt haben die VW-Leute kein Interesse, sich unsere Erfahrungen aus dem Streik und wie wir verraten wurden, reinzuziehen. Damit das in Zukunft nicht nochmal passiert.

Wir müssen den Streik jetzt politisch auswerten: Was haben wir erreicht? was haben wir verpennt? Ich finde, der Marsch der Solidarität ist eine neue Kampfform. Wie kann man das ausweiten? Es muss ja nicht immer mit einem Bus sein, aber eher Aktionen außerhalb, nicht direkt vorm Tor, welche Kampfformen kann man da anwenden? Wie kann man's besser machen? Wenn man mit dem Bus irgendwo hinkommt, dann sollte man dort bleiben, Leute zu einer Diskussionsrunde einladen. Dann kann man politisch diskutieren und weitere Schritte absprechen. Nicht: einmal vor dem AEG-Werk auflaufen, klatsch-klatsch, und dann tschüss! Man muss unbedingt in der Stadt was veranstalten: mittags Kundgebung, abends Diskussionen oder so ähnlich. Sonst kommst du selber ja gar nicht mit den Leuten in Kontakt! Dann bleibt alles auf der Ebene der IG Metall oder einer anderen… Zweitens: wir sind ja spontan, durch die Bergarbeiter, auf diese Aktionsform gekommen. Vielleicht gibt es andere Kampfformen aus anderen Streiks, an die wir jetzt nicht denken, die man in Deutschland einführen kann.

»Auf einmal hat alles zusammengepasst.«

Die Idee zum »Marsch der Solidarität« hattet Ihr schon vor längerem… Ja. Der riesige Bergarbeitermarsch 1991 in der Türkei auf die Hauptstadt hat uns drauf gebracht. Aber erst kurz vor Streikbeginn hatten wir eine Kommission gebildet. Die IG Metall hat die Busse bezahlt, die Übernachtungen organisiert… Ja. Eigentlich hatten wir tatsächlich laufen wollen. Immer 30 Leute, nach drei Tagen abwechseln. Um in vier Wochen nach München zu kommen, hätten wir am Tag durchschnittlich 30-40 km gehen müssen. Das kam uns dann doch zu lang vor. Warum sollten wir nicht Gegenden, wo nichts los ist, mit dem Bus durchqueren? Mit dieser Idee sind wir zur IG Metall gegangen, und da haben sie gleich gesagt: ‹da geben wir Euch einen Bus›. Wir haben erst angefangen darüber zu reden, wie wir das machen wollen, als der Marsch bereits angefangen hatte! Die Auswahl der Leute war auch ungeschickt. Einige fanden es lustig, durch Deutschland zu fahren. Andere haben gedacht, statt Posten zu stehen, gehst du umsonst reisen. Vielleicht 15 Leute waren davon überzeugt, was sie tun. Das waren eher die Polen, einige Türken, zwei, drei deutsche Kollegen. Allen anderen war die Bedeutung der Busfahrt eigentlich unklar. Warum habt Ihr die IG Metall gebraucht für den Bus? Der Bus hat 1800 Euro am Tag gekostet, das konnten wir nicht aufbringen. Und dazu kamen die Übernachtungen, eine Übernachtung für 40 Leute mit Frühstück kostet 700 Euro! Für die logistische und finanzielle Unterstützung haben wir die IG Metall gebraucht. Außerdem wussten wir nicht, wie wir Kontakte machen sollten. Hätten wir z.B. selber Kontakt zu VW gehabt, hätten wir auch selber bestimmen können, wo wir hinfahren. Nachdem der Marsch losgegangen ist, hat die IG Metall alles in der Hand gehabt, auch die Kontakte, sie haben die Route vorgegeben. Da war irgendwie so ein Vertrauen, die IG Metall macht das schon…? Nein, gar nicht! Die IG Metall hat das schlecht organisiert, das haben alle gemerkt. Aber für uns war die Frage ›sind wir in der Lage, sowohl die Werksbesetzung wie den Marsch der Solidarität gleichzeitig zu organisieren?‹ Sobald das mit dem Bus klar war, hattet Ihr die Idee, dass man ja auch in Eisenhüttenstadt, in Kamp-Lintfort usw. vorbeifahren kann… Kamp-Lintfort war nicht von vornherein unser Ziel. Das war eher so ein IG Metall-Ding. Wir wollten durch ein paar ostdeutsche Städte laufen, unser Ziel war vor allem Wolfsburg – da wollten wir ein paar Tage Quartier nehmen. Warum? Wolfsburg liegt ja überhaupt nicht auf der Strecke… Großes Werk! Ihr wolltet irgendwohin fahren, wo es zigtausend Arbeiter gibt?? Ja genau, das war unser Ziel! Dann hat aber die IG Metall gesagt, Wolfsburg macht jetzt gerade eine Standortvereinbarung, die wollen uns nicht haben, wir würden vielleicht die Verhandlungen schädigen. Witzig finde ich, dass Kamp-Lintfort die Idee der IG Metall war! Ich hätte eher gedacht, da haben sie Schiss, dass zwei ganz ähnliche Kämpfe zusammenkommen. Genau so ist es ja auch passiert: die ganze Stadt war auf den Beinen, sie haben zugesagt, nach München zu kommen, es war der Höhepunkt des Marschs! Und das hat der Gewerkschaft und dem Arbeitgeber Angst gemacht. Die IG Metall hatte vielleicht gedacht, wenn wir vorbeikommen, gehen 20, 30 BenQler hin – wir haben erst in Kamp-Lintfort erfahren, dass die Leute seit zwei Wochen nicht mehr gearbeitet haben! Sie kamen nicht aus dem Werk raus, sondern sind extra wegen der Demo gekommen, viele sind Pendler. Wenn das klein geblieben wäre, wären wir vielleicht nach München gekommen. Aber sie haben die Verbrüderung dort gesehen. Nachher haben wir erfahren, dass 600 Leute allein aus Kamp-Lintfort nach München gekommen wären: vorher hatte EKO-Stahl schon gesagt, dass sie kommen, Miele wollte kommen, von Bosch wollten sie kommenAuf einmal hat alles zusammengepasst. Erzähl mal kurz chronologisch! Der Bus fuhr am Donnerstag, den 5. Oktober erst mal zu EKO in Eisenhüttenstadt, das lief sehr gut… Von Eisenhüttenstadt waren wir begeistert; der Besuch bei EKO war keine Zeremonie wie an anderen Orten. Die kamen raus und haben direkt mit uns geredet: ›Lasst Euch nicht vorschreiben, was Ihr zu tun habt! Wir haben auch selber entschieden. Es geht um Euren Arsch, deshalb müsst Ihr auch selber entscheiden, was Ihr tut! Nicht vorschreiben lassen, welche Aktionen man macht!‹ Sie haben die Autobahn und die Treuhand besetzt, haben sie erzählt. Sie haben angeboten, wenn wir nach München fahren, dass sie in der Zeit bei uns Wache halten. Zudem wollten sie einen Bus als solidarische Geste nach München schicken. Danach kam dann Leipzig? Der Bus war kurz vor Leipzig, dann hieß es, da sei eine DGB-Kundgebung gegen Gesundheitsreform, und wir sind mit drei zusätzlichen Bussen hin. Die Leipziger haben uns und unsere Flugblätter komisch angeguckt; wir waren nicht beliebt. Wir waren viele Schwarzköpfige, wir aus der Türkei und eine vietnamesische Gruppe. Danach waren wir in der Nikolaikirche, der Pfarrer Führer hat zu uns geredet. Dann Sonntag Frauenkirche in Dresden war auch Scheiße, Montag, den 9. Oktober fuhren wir zu Bosch-Buderus in Zwickau; da kamen nicht einmal zehn Leute raus, davon drei Betriebsräte und der Bürgermeister. Im Osten war eigentlich nur EKO-Stahl gut, in der Woche hat es im Bus ziemlich gekriselt, viele waren so deprimiert, dass sie raus wollten… Am Dienstag, den 10. war der Bus dann bei Miele, da mussten wir kilometerweit durch Felder laufen; dabei wollten wir in die Innenstadt! Am 11. in Nürnberg sind wieder mehrere Busse aus Spandau dazu gekommen. Das war wieder viel besser, die Leute sind selber gekommen, um ein Flugblatt zu nehmen, das hat mich sehr gewundert! Wir sind ja fast eine Stunde durch die Innenstadt zum Werk gelaufen… Autos haben angehalten usw. – das war ganz anders in Nürnberg als sonst! Vor AEG war's komisch: du bist seit einer Woche unterwegs, die Kollegen legen die Arbeit nieder und kommen raus, eine Stunde redet der BR-Vorsitzende, der Verwaltungsstellentyp und eine von uns. Dann ›alles war schön, tschüss!‹ Gar kein Kontakt, was wir von denen wollen o.ä. Auf dem Weg nach Kamp-Lintfort haben wir unsere Probleme diskutiert. Wir sind spontan in Duisburg vorbei, Flugblätter verteilen. Das war ziemlich gut – und Kamp-Lintfort (Donnerstag 12.10.) war sehr gut!. Danach war der Bus in Bad Neustadt. Erst am Wochenende in Stuttgart fingen wir an, unsere eigenen Plakate zu malen, haben ein eigenes Flugblatt gemacht und eine Kreativgruppe gebildet. Am 17. Oktober in Dillingen … Auch Dillingen war doch überraschend positiv, damit konnte man ja nicht rechnen, dass die eine Stunde die Arbeit niederlegen und rauskommen. Ja, die haben eigentlich keine solche Tradition. In Giengen ist es am selben Tag nicht so gut gelaufen; da hatten sie vor zwei Jahren eine Standortvereinbarung abgeschlossen, 36 Stundenwoche weg, Jahreszahlung weg, Akkordverdichtung usw. An den BR-Wahlen ein Jahr später haben sich nur 45 Prozent beteiligt. Da war klar, dass nicht viele rauskommen, wenn die IG Metall aufruft, weil sie sehr sauer auf die IG Metall sind. Aber dass in Dillingen 300-400 Leute rauskamen und mit uns diskutiert haben, das fanden wir sehr gut. In der Nacht danach hat dann die IG Metall drei Leute aus dem Bus nach Berlin zurückgeflogen, und diese haben den Ausschlag gegeben bei der Abstimmung in der Streikleitung, die mit 9:6 gegen den Streik endete. Sergio hat ja am Ende im Zelt behauptet, der Marsch hätte wenig bewirkt, alle wüssten doch, dass in der Streikzeitung die Zahlen frisiert worden wären. Der hat auch behauptet, es würden weniger Leute als erwartet nach München kommen, höchstens 1000! Da hatte er allerdings teilweise recht, weil seine Organisation, die IG Metall, schon eine Woche vor München damit begonnen hatte zu demobilisieren! Eure Idee war zu Beginn ja eher, den Arbeitgeber öffentlich schlecht zu machen. Dann bekam das eine ganz andere Dynamik: Die Busfahrt fing an, die von Schließung bedrohten Belegschaften zusammenzubringen. Daran hatte weder die IG Metall noch die Arbeitgeber noch die Politiker ein Interesse. Deswegen wurde der Bus zurückgerufen. … zu vereinigen! Die von Schließung bedrohten Leute und die Stimmung, ›es muss Schluss damit sein! Wir kämpfen gemeinsam.‹ – Der Bus hat viel zu diesem Scheißvertrag beigetragen. Ohne den Bus wäre vielleicht gar kein Abschluss zustande gekommen. Wir hatten damit gedroht, dass wir vor der Siemens-Zentrale Zelte aufschlagen und kampieren würden und von da aus am 21. zu dieser DGB-Demo in Stuttgart fahren. Siemens wollte das vor der Zentrale auf jeden Fall verhindern! Sie hatten ja gleichzeitig die BenQ-Geschichte am Hals. Die heißere Geschichte war unser Streik, den mussten sie erst mal wegkriegen. Dass sich auf einmal Belegschaften direkt zusammenschließen, diese Dimension hatte die IG Metall unterschätzt. Der Vorstand der IG Metall war sehr besorgt deswegen, die sahen schon die politische Wirkung. Es ist nie deren Ziel, dass Belegschaften zusammen kämpfen. Im Gegenteil, es ist immer ihr Ziel, Belegschaften getrennt zu halten! Stimmt! Und dann finanzieren sie den Bus mit dem Aufruf, dass man zusammen kämpfen soll! (lacht)

Nuran erzählt…

Ich hab vor 23 Jahren bei Bosch-Siemens angefangen. Da war ich 15, offiziell 19 Jahre alt.

Vor zweieinhalb Jahren sind viele Leute gekündigt worden. Darunter drei Kolleginnen, die zu der Zeit zwanzig Jahre und mehr im Betrieb gewesen waren. Und natürlich hat der Betriebsrat unterschrieben! Leute, die seit acht, zehn oder zwölf Jahren da waren, konnten bleiben. Die Begründung war, dass die Gekündigten diesen Arbeitsplatz nicht können. Das ist doch Schwachsinn! Wir haben da gelernt, wir sind nicht dumm, wir können das doch schnell lernen. Das ist kein Computerspiel, das sind einfach Waschmaschinen. – Natürlich war die Lohngruppe ein Problem! Als unsere Linie abgebaut wurde, haben wir uns im Labor beworben; da hieß es, da sei kein Platz. Sechs Monate später wurde ein weiteres Band abgebaut, da haben sie Plätze gehabt für Leute, die seit acht oder zehn Jahren im Werk waren. Damals wurden vier Leute, die ich sehr gut kenne, die schon 20 Jahre oder länger im Betrieb waren, rausgeschmissen. Ein Mann hatte keine Kinder und deswegen wenig Punkte gehabt, zwei Frauen waren Alleinerziehende, unverheiratet sind acht Punkte weniger, und eine war ledig, ohne Kind. Nach Sozialplan haben sie wenig Punkte, obwohl sie schon so lange im Betrieb waren. Die kriegen jetzt Hartz IV. Eine Kollegin hat erzählt, dass sie in der ersten Zeit jedesmal, wenn sie auf dem Arbeitsamt war, geheult hat. Man hat sie komisch behandelt und ihr unterstellt, freiwillig gegangen zu sein. Sie sagte: »Es ist so schlimm draußen, das kannst du dir nicht vorstellen!« Und das wird für die 216 Leute genauso sein.

Wir haben immer wieder Betriebsversammlungen gemacht, im September mit einer mehrwöchigen Betriebsversammlung die Produktion lahmgelegt. Und dann haben wir diskutiert: wann fangen wir endlich zu streiken an? Es hat sehr lange gedauert, weil die IG Metall den Streik lange nicht wollte. Als der Streik endlich anfing, hatte der Unternehmer schon alles planen können. Der Betriebsrat hat immer gesagt: ohne die IG Metall schaffen wir es nicht! Wir brauchen eine Gewerkschaft hinter uns. Das haben sie uns, dem Kindergarten immer gesagt. Sie wollten unsere Erzieher sein.

Beim Streik war ich jeden Tag dabei. Mein Sohn war zu der Zeit krank, ich habe ihm alles vorbereitet und bin jeden Tag zum Streik gegangen, zehn Stunden, zwölf Stunden. Ich wollte auch nach München fahren, meine Schwester sollte ihn solange versorgen.

Ich war oft draußen, hab Flugblätter in der U-Bahn, im Bus usw. verteilt, viele Fahrer haben uns das erlaubt. Wir waren auch zwei Stunden vor Osram, ich habe immer versucht, mit den Leuten auch zu reden, die haben zwar die Flugblätter genommen, hatten aber kein Interesse. Bei Osram wurden an dem Tag die Lohngruppen abgesenkt, und da waren die schlecht gelaunt. Aber obwohl sie auch Probleme hatten und ich jeden ins Zelt eingeladen hatte, ist keiner gekommen – außer ein paar Betriebsräten.

Dienstags sind wir vom Streik gekommen und haben abends nach sieben noch eingekauft für die Busfahrt, so kleine Trinkflaschen und so was. Dienstag abends hab ich zum ersten Mal gesagt: langsam glaub ich an Demirci, das hab ich zum ersten Mal gesagt! Ich glaub, wir erreichen noch was. Und dann guck ich Mittwoch früh auf mein Handy, und da waren zwei Anrufe da, von einem Kollegen, der mich eigentlich kaum anruft. Ich hab ihn zurückgerufen, und er meinte ›Bitte komm, sag den anderen Bescheid, weißt Du, sie haben uns verkauft. Demirci hat unterschrieben.‹ Ich war fassungslos. Ich habe nie geglaubt, dass ich weinen werde, aber ich hatte ganz ganz schlimme Gefühle im Streikzelt. Wir waren um halb elf da, alle waren da, alle waren entsetzt, viele am Heulen. Der Mittwoch war ganz schlimm, es war ganz voll, alle waren benachrichtigt worden. Demirci hatte ein ganz komisches Gesicht. Olivier Höbel von der IG Metall mit Krawatte natürlich, Luis Sergio… war ganz schlimm! Dann wollten sie nochmal Urabstimmung machen, 25 Prozent für die, 75 für uns – wir haben es nicht erreicht, 67 Prozent haben wir gehabt! Leider. Ich hab gleich gesagt, wenn wir mit der Urabstimmung anfangen, haben wir verloren. Wenn wir Luis und Olivier vertrauen, haben wir verloren.

Wir wollten nach München, die Leute hatten große Wut und Hass. Ich war auch sehr laut und habe gerufen ›IG Metall raus, IG Metall raus!‹ Aber vor allem war unser BR-Vorsitzender schuld, der hat unterschrieben! Nach der Urabstimmung habe ich Rot gesehen. Ich hatte auch gerufen ›IG Metall raus!‹ wir wollten nicht mehr mit der IG Metall weiter machen, wir wollten besetzen und selber streiken. Einfach so, illegal. Wir hatten ja auch davor vieles illegal gemacht. Wir haben die Pforte besetzt und die Leute nicht reingelassen, das war auch schon illegal.

Wir haben gut gekämpft, aber wir haben an vielen Stellen nicht vernünftig gehandelt, weil wir keine Erfahrung hatten. Wir hatten davor nur Warnstreik gehabt. Ich kenne mich nicht so gut aus, aber ich habe viel mit anderen Leuten gesprochen, Leuten in der Türkei geschrieben. Die haben uns berichtet, Unsere Kontakte in der Türkei haben uns genauso wie der Gewerkschaftler aus Polen berichtet: Überall müssen die Leute ohne Streikunterstützung kämpfen. Im März war ein Gewerkschafter aus der Türkei da, da haben 800 Leute acht Monate lang gestreikt, ohne einen Cent Streikunterstützung. – Ich würde auch auf ein oder zwei Monatsgehälter verzichten, wenn es für den Kampf nötig ist! Aber es gibt auch viele Leute, die reden radikal, aber ohne Streikgeld von der Gewerkschaft machen die nichts.

Nach dem Streik wieder zur Arbeit zu gehen, war sehr schlimm. Es war ein Mittwoch, ich bin da vorbeigegangen, ich hab gar nicht in die Richtung geguckt, wo das Zelt war, das hat so richtig weh getan, als ich da vorbeigegangen bin. In den ersten drei Tagen hab ich keinen Akkord gearbeitet; ich hab jetzt meine Abrechnung mit Abzügen gekriegt, ich konnte es einfach nicht schaffen! Ich wollte es auch nicht schaffen. Den ersten Tag hab ich mit einem Kollegen gearbeitet, der den Akkord auch nicht geschafft hat. Dann hab ich von anderen Kollegen erfahren, die es auch nicht schaffen wollten. Wir haben sehr viel miteinander gesprochen. Ich hab nur etwas über zwei Drittel von meinem Akkord gemacht! Der Einrichter ist normalerweise sehr arbeitsgierig, aber die erste Woche war er auch schlapp, dem ging's auch ganz schlimm. Inzwischen arbeitet er aber genauso wie früher. Und viele Leute waren natürlich krank, eine Woche, zwei Wochen. Die waren seelisch fertig. Viele haben sich auch im Streik übernommen und sind krank geworden, manche sind 24 Stunden Posten gestanden oder auf den Beinen gewesen.

Ich weiß noch nicht, ob ich bleiben werde. Ich würde noch ein, zwei Jahre bleiben, bis mein Mann mit seiner Arbeit keine Probleme mehr hat. Ich habe ungefähr so gerechnet, dass ich 70- bis 80 000 Euro Abfindung kriegen würde. Mein Mann hat jetzt einen Arbeitsplatz; wenn ich morgen nicht mehr arbeite, verdient zumindest er was. Aber nach 22 Jahren will ich nicht so einfach gehen! Das wird auch schrecklich weh tun. Ich habe als Kind dort zu arbeiten angefangen. Und ich habe natürlich auch gelitten. Ich war lange Zeit alleinerziehend, mein Mann war in der Türkei. Als mein Kind sechs Monate alt war, habe ich wieder zu arbeiten angefangen, das war nicht einfach. Ich habe am Band geweint, ich hatte immer schlechte Gefühle, dass ich mein Baby alleine lasse. Wenn ich mir das jetzt überlege, hätte ich das nie gemacht! Aber ich musste arbeiten. Das war kein schönes Leben, das war eine harte Zeit. Meine Jugendzeit hab ich da verbracht. Wenn ich meine Tochter sehe, die sich noch wie ein kleines Mädchen verhält… ich hab diese Chance nicht gehabt.

Ich weiß nicht, was am 15. Dezember rauskommt. Danach wird man dann erfahren, wer gekündigt wird. Ich weiß nicht, ob ich bei denen bin, die gehen müssen. Aber es geht nicht um mich! Das hab ich immer wieder versucht, den Leuten zu erklären. Manche Leute machen sich kaputt, weil sie Angst um ihre Arbeitsplätze haben, natürlich haben sie damit auch recht, ich hab auch Angst um meinen Arbeitsplatz, aber ich finde, in erster Reihe war der Abschluss ungerecht, wir sind in die Falle gelaufen, die haben mit uns gespielt. Wir haben mitgemacht, was die von uns verlangt haben, obwohl wir uns während des Streiks immer wieder gesagt hatten: die verarschen uns!

Unter den Bedingungen, die sie jetzt durchsetzen wollen, will ich natürlich auch nicht arbeiten: 23 Prozent weniger Lohn, Wegfall des 13. Monatsgehalts, des Urlaubsgelds, bis zu 42 Stunden arbeiten… Vielleicht werde ich nicht bis 2010 bleiben. Und wer weiß, ob es das Werk bis 2010 überhaupt noch gibt.



aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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