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Gefangenendilemma: Zusammenarbeit oder Verrat

Igor Shishkin

Mittlerweile kennt jeder den , bei dem mehr als ein Dutzend Anarchist_innen und Antifaschist_innen in Russland festgenommen wurden. Jeden Tag erscheinen Nachrichten über den Fall: die Inhaftierten machen Aussagen gegen sich und die anderen, dann ziehen sie diese wieder zurück, erstatten Anzeige wegen Folter, um die Geständnisse zu widerlegen. Einer der Angeklagten, Igor Shishkin, erhielt kürzlich auf Grundlage eines Paragrafen, der von 5 Jahren Gefängnis ausgeht. Eine solche Vergünstigung handelte er aus, weil er in Zusammenarbeit mit der Untersuchung ging. Hier sind die Worte des Verurteilten selbst:

„Meine Mitwirkung drückte sich darin aus, dass ich nach meiner Festnahme mit den Einsatzkräften des FSB (Inlandsgeheimdienst der Russischen Förderation, Anm.d.Ü.) und den Ermittlungsbehörden zusammenarbeitete. Bis jetzt arbeite ich mit den operativen Einheiten zusammen und helfe ihnen in der Aufspürung von Personen, die aus dem Territorium der Russischen Föderation geflohen sind, und gebe Erläuterungen im Rahmen operativer Suchaktivitäten. Ich bin bereit und werde bei den Verhandlungen anderer Mitglieder des terroristischen Vereinigung „Netzwerk“, die in Kürze in Penza und St. Petersburg stattfinden, aussagen. Während der vorläufigen Ermittlungen habe ich mitgeholfen den Schuldgrad jedes Mitglieds der terroristischen Verinigung festzusestellt, nahm ich an Gegenüberstellungen teil und an Untersuchungen sachlicher Beweismittel, und machte eine detaillierte und vollständige Aussagen. Gab meine Schuld zu und bereute die Tat.“.

 

Shishkin und sein Anwalt Dmitry Dinze

Detaillierte Informationen zum Prozes Gericht finden Sie online auf der Website .

Im Mai 2018 gab es die über eine gewisse Victoria Frolova, die mit den in Penza festgenommenen Personen vertraut war. Sie wurde im Oktober 2017 zur Befragung vorgeladen, floh jedoch in die Ukraine. Am 24. Mai wurde bekannt, dass sie nach Russland zurückkehrte, um ihre Eltern zu besuchen. Sie wurde festgenommen, als sie versuchte, in die Ukraine zurückzukehren. Später stellte sich heraus, dass sie gegen die in Penza Verhafteten ausgesagt hatte, woraufhin sie in die Ukraine entlassen wurde. Fragt sich nur, unter welchen Bedingungen.

Erwähnenswert ist, dass diese Zeugenaussagen in dem Moment für die Ermittler_innen sehr nützlich waren, da wenige Tage zuvor zwei der in Penza festgenommenen Personen ihre Zeugenaussage zurückgezogn hatten. Faktisch  vereitelte Victorias unbedachtes Handeln (die Rückkehr nach Russland) die Versuche der verhafteten Leute, sich gegen die Gesetzlosigkeit der Ermittlungen irgendwie zu wehren, dabei hat das Zurücktreten von den Zeugenaussagen sie wahrscheinlich enormen Mut und Willenskraft gekostet. Später erzählte , dass er auf Verlangen von Frolova, die angeblich in Gefahr war, gezwungen war, eine Aussage gegen sic zu machen.

Anhand verschiedener Bewertungen und Informationen im Netz beurteilen viele, dass alle an diesem Fall beteiligten Personen, darunter auch Zeugen,  Opfer von Willkür sind. Dies ist richtig, aber es darf nicht vergessen werden, dass mit dem Verhalten und die Positionierung des einen Opfers, die Lage und das Schicksal anderer Opfer steht und fällt. Und die Geschichte zeigt eine Reihe von Beispiele dafür, dass Menschen, die sich mehr für ihr eigenes Wohlergehen als für die Freiheit (und das Leben) ihrer Gleichgesinnten interessieren, in der Regel Nachsicht des System genießen. Dies ist jedoch genau die Berechnung: Menschen, die mit der Untersuchung zusammenarbeiten, tun dies in der Hoffnung, Angst zu verlieren, schnell aus einer stressigen Situation herauszukommen, sich selbst zu retten. Gleichzeitig hängt ihre Rettung jedoch vollständig vom Umfang an Informationen, die sie über andere Menschen liefern, ab.

Dieses Schema arbeitet mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 100% und wird als Gefangenendilemma bezeichnet.

 

In Situationen, in denen eine Gruppe von Personen verhaftet wird, hängt der endgültige Höhe der Haftstrafe für jeden von zwei Dingen ab: in wieweit versuchst du dich selbst zu retten und wofür bist du bereit, deine Genossen zu opfern. Im Gefangenendilemma dominiert der Verrat streng die Zusammenarbeit, daher ist der einzige mögliche Ausgleich der Verrat beider Beteiligter. Einfach ausgedrückt, egal wie sich ein_e andere_r Spieler_in verhält, jeder gewinnt mehr, wenn er verrät. Da es in jeder Situation lohnender ist, zu betrügen als zu kooperieren, entscheiden sich alle rationalen Spieler_innen für den Verrat.

Indem sie sich einzeln vernünftig verhalten, treffen die Teilnehmer_innen zusammen eine irrationale Entscheidung: Wenn beide betrügen, erhalten sie insgesamt einen geringeren Gewinn als wenn sie kooperieren würden. Das ist das Dilemma.

Es ist kein Geheimnis, dass die Hauptbeweisbasis (95%) in vielen Strafangelegenheiten die Aussagen der Prozessbeteiligten (Angeklagte, Verdächtige, Zeugen) sind. Andere Beweise (Material) machen nur 5% der Beweise aus. Die Weigerung, gegen sich selbst und andere Personen auszusagen, erhöht die Chancen für die erfolgreichste Kombination von Faktoren in dem Fall.

In dem Fall, in dem eine betroffene Person in einem Verfahren beschließen sich durch Abspaltung und nicht durchs Kollektiv zu schützen, bekommt derjenige Prozessbeteiligte die höchste Strafe, der am längsten nicht bereit ist auszusagen. Der_die unzerstörbarste Teilnehmer_in am Prozess erhält die längste Frist. Dieses System funktionierte im Jahr 2010 zu 100%, als die Repressionen nach dem Angriff auf die russische Botschaft (in Minsk, Belarus, Anm.d.Ü.)  begannen. Die Täter des Anschlags waren der Untersuchung zufolge Igor Olinevich, Maxim Vetkin und Denis Bystrik. Denis Bystrik blieb im Zeugenstatus und verließ Belarus, Maxim Vetkin erhielt 4 Jahre Freiheitsbeschränkung. Beide sagten gegen Igor Olinevich aus, obwohl Denis Bystrik später seine Zeugenaussage zurück zog. Igor Olinevich gab seine Schuld nicht zu und machte gegen niemanden Zeugenaussagen. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt.

Dasselbe passierte mit Nikolai Dedok (Minsk, Belarus). Younes Akdif und Zakhar Konofalsky gaben zu, dass sie an den direkten Aktionen teilnahmen, blieben jedoch Zeugen des Falls und verwiesen auf die Tatsache, dass Nikolai Dedok sie "in die Irre geführt" habe. Dedok erhielt 4,5 Jahre Haft, ohne Schuldeingeständnis und ohne Bestätigung bzgl. der Teilnahme an den Aktionen. Alle anderen Beweise waren entweder weit hergeholt oder indirekt, und mussten von Zeugen bestätigt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass im "Netzwerk"-Fall das Gefangenendilemma auf die gleiche Weise funktionieren wird.

In einigen Ländern ist das System der Zusammenarbeit mit der Untersuchung noch weiter entwickelt, manchmal ist es möglich, dem Prozess zu entfliehen, indem man eine Vereinbarung mit der Untersuchung abschließt und über die Höhe der Bestrafung mit der Staatsanwaltschaft "spricht". Genaueres zur Funktionsweise dieses Systems in den Vereinigten Staaten werden im Dokumentarfilm beschrieben, in dem es um zwei Anarchisten geht, die vom FBI ins Visier genommen wurden.

Deshalb unterstützen wir die Position "wenn der Untersuchung bereits alles  bekannt ist, macht meine Aussage die Sache auch nicht mehr schlimmer" oder "Ich hab gesagt, was die Bulln wollten", "Ich habe bestätigte die Aussage des_der Angeklagten bestätigt" nicht. ABC-Belarus hat früher eine mit den Behörden abgegeben und hält an der angegebenen Position fest.

Im "Netzwerk"-Fall kam/kommt es zu so viel Gewalt und grausame Folter. Es sollte jedoch nicht alle Angeklagten auf ein Level gestellt werden, denn unter Folter und Drohungen wählen sie unterschiedliche Verhaltensweisen: der eine Kooperation und der andere Verrat. Diejenigen, die das Privileg haben, diese Sache von außen zu beobachten, haben die einmalige Gelegenheit zu lernen, die Situation und die Strategie der Bulln zu analysieren. Wiederum ist festzustellen, dass Anstand und Integrität sowie die Bekanntmachung von Bullenwillkür helfen, eben diese Willkür zu stoppen. Lerne von denen, die die Kraft des Widerstand in sich wahren, selbst unter der vollen Kontrolle ihrer Peiniger.

Diese Menschen sind keine Superhelden, sie haben kein spezielles „cooles Anarchisten-Gen“, mit dem sie Angst und Schmerz überwinden können. Es kann jede_r von uns sein, man braucht nur den Wunsch, Wissen über psychologische Tricks, Willenskraft und die Unterstützung von Genoss_innen. Anstatt zu versuchen, diejenigen zu verstehen und zu rechtfertigen, die hunderte Male den Verrat gewählt haben (man muss kein Raketenwissenschaftler sein, um Sympathie für eine_n Genoss_in zu haben, der unter Folter gebrochen wurde), versucht zu verstehen, warum andere Genoss_innen nicht mit der Untersuchung zusammenarbeiteten.

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