Ich las gerade, zufällig, den Songtext von "I kissed a girl" (Katie Perry) und dazu fallen mir zwei kleine Geschichten ein:
Das ist die Geschichte von Wanja, einer 16-jährigen "Einwanderin" aus Russland, die sich so gut wie mit jedem gut und bestens verstand. Ein richtiger Wirbelwind, und von einer freundlichen Lebendigkeit, die mich noch heute schwärmen lässt. Sie stieß zu uns im Rahmen eines Schülerpraktikums. Nun, wir waren damals Teil eines Theaterprojektes ("Arbeitsgelegenheit") und Wanja und ich befreundeten sich ziemlich schnell. Was nicht unbedingt viel hieß, weil sie sich im Grunde genommen mit jedem Menschen schnell anfreundete - obwohl, so ganz stimmt da auch nicht. Wir waren schon wirklich sehr dicke miteiander, ich der ältere Mann - und sie, das junge Mädchen - und immerhin so sehr, dass wir es irgendwie bedauerten, nicht "füreinander gemacht" zu sein. Weil, Altersunterschied, außerdem hatte sie schon einen Freund, und ob mir nicht vielleicht ihre ältere Schwester gefallen würde, diese sei ihr ja ziemlich ähnlich? Nunja, das stimmte zwar, aber der Charakter, das Lebendige - das ging der guten Schwester eben ab. Wie auch immer, jedenfalls wurde ich wie ein älterer, väterlicher Freund regelmäßig ins Vertrauen genommen - und wir hatten wirklich viel Spaß. Ach, und nicht zuletzt, ich habe von ihr ganz wertvolle Dinge lernen können. Darauf komme ich noch.
Jedenfalls, eines Tages fragte mich Wanja, reichlich verunsichert und irritiert, was es denn mit dem "I kissed a girl" auf sich hätte. Irgendwie fühlte sich sich von dem Lied, das im Rundfunk rauf und runter dudelte, ein gutes Stück weit unter Druck gesetzt: Es mal auch mit Mädchen versuchen zu müssen. Zu allen Überfluss war Katie Perry in gewisser Weise eine Art Familiendoppelgängerin von Wanja, da sie sich - äußerlich - bemerkenswert ähnlich waren. Also, da saß sie also am großen Gemeinschaftstisch, der gerade verwaist war, und wartete wie gebannt auf meine Antwort. Was also hat es damit auf sich? Meine Antwort, zumal ich mich da etwas unvorbereitet fühlte, bestand nur aus einer Handvoll oder maximal sieben Silben. Vermutlich war das tatsächlich eher eine Art Gegrunze, das sich da leicht zögerlich den Weg aus meinem Mund bahnte. Sinngemäß sagte, bzw. grunzte ich ihr, dass es erstens völlig okay ist, wenn sie sich nichts aus Mädchen mache, zweitens, dass ein Kuss einfach nur ein Kuss sei, so irre dramatisch ist das ja nicht, und drittens, dass das ganze Stück sowieso marktschreierischer Humburg sei, vorgetragen von einer ziemlich zwanghaften Sängerin, die wenige Jahre zuvor ausschließlich christliche Lieder sang. Wie gesagt, ich grunzte diese Antwort in maximal sieben Silben.
Was für eine Erleichterung brandete da auf! Ja, ein ganzer Albdruck fiel von dieser lebenslustigen 16-Jährigen ab. Das war dann also genau die Antwort, die sie wirklich weiter brachte. Und mensch hörte geradezu, wie sie in ihrer inneren Checkliste den Punkte "mit Mädchen rumknutschen" äußerst erleichtert durchstrich. Gendertrouble mal anders herum... Äußerst spannend war aber, was ich von Wanja lernte. Lernen durfte! Teil unseres Theaterprojektes war eine ältere Italienerin, welche sich mit den Stoffen und Kleidern beschäftigte, ihre Zeit meist sehr abgeschieden in der Kleiderkammer verbringend, wenn sie sich nicht gerade sehr laut und bösartig mit jemanden herumstritt. Isabella. Fast alle in unserem Projekt fürchteten sich vor dieser verbitterten Italienerin, und umgekehrt, es gab abgesehen von gelegentlichen Streits keinerlei Kontakt zu ihr. Außer, dass ihr gelegentlich Kleider zum flicken gebracht wurden. Mit Wanja änderte sich das. Wanja stellte nämlich fest, dass man sich mit der Italienerin ganz vorzüglich unterhalten könnte, und außerdem, dass es einen Heidenspaß macht, mit der Italienerin gemeinsam Kuchen zu backen. Was dann konsequenter Weise täglich stattfand. Wanja kommt es nämlich einfach nicht in den Sinn, auf irgendeinen Menschen reserviert zuzugehen. Irgendetwas Schönes kann man mit jedem anfangen! Das war ihre Devise, und sie sorgte dafür, dass sie sich bewahrheitete. Ich begriff dann ein paar Tage später, immer noch etwas vom "Isabella-Wunder" beeindruckt, warum die ältere Italienerin oft so wütend und streitsüchtigt auftrat. Sie fühlte sich durch das ganze Drumherum (Eineurojob, schäbige Sitzgelegenheiten, ausbeuterische Tendenzen) massiv zurückgesetzt und gekränkt als Person. Mit Wanja stieß sie dann endlich auf jemand, der sie achtete und behandelte wie eine gute Freundin. Ist es nicht erstaunlich? Der Unterschied, wie Tag und Nacht, liegt nicht etwa in der Person, mit der du zu tun hast, sondern in der Art und Weise, wie du ihr entgegen trittst. Okay - was natürlich nicht immer stimmt - telefoniert man mit einem Versicherungsunternehmen, dessen Mitarbeiter darin ausgebildet werden, dich als Kunden konsequent anzulügen, dann ändert sich das fundamentale Verhältnis nicht zum Guten, indem du durch dein Verhalten die Möglichkeit dazu aufmachst. Du wirst selbstverständlich immer noch angelogen. Gegen die kapitalistische Zurichtung des Menschen ist eben kaum ein Kraut gewachsen. Denke ich. Aber ich sollte vielleicht noch einmal Wanja fragen.
Also, so richtig viel Gedanken habe ich mir da noch nicht gemacht. Ich finde aber, dass das Faß “Identitätspolitik” riesengroß ist, und in diesem Faß schwimmen die unterschiedlichsten Dinge. Sicher ist es eine gute Idee, dabei danach zu fragen, inwieweit konkrete Identitätspolitiken (bzw. Zuschreibungen und Konzeptionen von Gruppenidentitäten) a) aus Machtverhältnissen resultieren und b) Machtverhältnisse und c) Ausschlüsse erzeugen/unterstützen. Klingt erst mal gut – und finde ich auch erst mal gut, zumal ich mich selbst als ausgesprochen machtkritisch verorte.
Es gibt nur drei Haken an der Sache – jedenfalls für mich:
1. Das Faß ist so riesengroß, dass ich es nicht überschaue. Identität ist ohnehin (sei es nun auf der individuellen Ebene oder auf der Gruppenebene, oder interdependent) ein schwieriges Ding, dass einerseits auch als Inanspruchnahme von Autonomie (z.B. Selbstkonzeption), andererseits auch als Ab- und Ausgrenzung gelesen werden kann. So Pi mal Daumen würde ich sagen (etwas im Nebel stochernd, sorry – ich weiß es nicht besser), dass es bei Identitätskonzepten sehr darauf ankommt, inwieweit diese a) ab/ausgrenzend oder anderen gegenüber abwertend wirken b) als Machtmechanismus wirken und c) dialogisch sind oder Dialog zu Personen außerhalb der Identitätsgruppe behindern. Ich nehme hier einfach mal die Identitätskategorie “Familie”, um mit diesem einzelnen Wort zu verdeutlichen, wie sehr es auf das Wie ankommt.
2. Machtstrukturen und -gefälle verlaufen nicht trennscharf anhand der Umrandungen von Schlagworten. So kann ein politisch hochaktiver Schwuler innerhalb seines Kontextes, aber auch darüber hinaus, gleichzeitig (!) marginalisiert sein, als auch (!) privilegiert bzw. Inhaber formaler oder informeller Macht. Was ich damit sagen will: Die Dinge sind nicht so einfach, und Schlagworte (z.B. zur Kennzeichnung marginalisierter Identitätskategorien) können als Denkhilfe funktionieren, zugleich aber auch relevante Fragestellungen verdecken.
Zum Beispiel: Wenn ein “gemischt Marginalisierter/Privilegierter” auf einen anderen “gemischt Marginalisierten/Privilegierten” trifft (imho: der Normalfall!), zum Beispiel ein wohlhabender schwuler Filmemacher aus großbürgerlichen Haus auf einen psychisch kranken weißen Cis-Mann und Flaschensammler aus prekärer Arbeiterklassenherkunft: Wer von beiden repräsentiert im Umgang mitenander dann eine marginalisierte Gruppe, wer von beiden stiehlt dem anderen mit seinen “Performances” den Raum, wer von beiden ist tendenziell der “Machtausübende”, wer von beiden hat Anspruch darauf, gehört zu werden, und wessen Identitätspolitik sollte bevorzugt kritisch hinterfragt werden?
Ich persönlich tendiere sehr stark dazu, erstens, das Wie sehr wichtig zu finden, und zweitens, Menschen in erster Linie als Individuen zu betrachten – und höchstens zu , ich sage mal: 15 Prozent als Ausdruck/Repräsentant identitärer Konzepte. Das heißt für mich im Umkehrschluss, dass wechselseitige Rücksichtnahme und Achtung wesentlich sind, und eben weniger die (taktisch missbrauchbare) Verortung von Identitäten. Auch glaube ich, dass Machtverhältnisse (z.B. konkrete Marginalsiierungen oder Privilegierungen) nicht allein auf Basis identitäter Konzepte adäquat dargestellt werden können.
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3. Mein Ideal von Empowerment ist im Wesentlichen individuell. In meinem Blümchen-Weltfriedensideal gehen die Menschen wechselseitig (!) empowernd um (ich finde das sogar sehr wichtig) und beurteilen sich nicht so sehr anhand der Frage, ob/inwieweit jemand_in PoC, Hetero, weiß, arm, alt, Bildungsbürger, Erbe einer Eigentumswohnung, klein, modisch, belesen, urlaubsgebräunt, stylisch oder “gut frisiert” ist.
Ich werde also, zumal im täglichen Umgang mit den unterschiedlichsten Menschen, den Gedanken nicht los, dass Gruppenidentitäten bzw. deren Bedeutung allzu leicht überschätzt werden können, sei es nun aus einer eher konservativ-reaktionären Grundhaltung heraus oder aus einer vermeintlichen oder tatsächlichen Progressivität heraus.
Schlusswort:
Ich hoffe, du fühltst dich durch mein Posting nicht irgendwie belästigt oder gar geschulmeistert. Ich habe einfach nur die Gedanken aufgeschrieben und zu ordnen versucht, dir mir bei diesem Thema durch den Kopf geistern bzw. als diskussionswürdig gehalten werden.
(ich verfolge dein Blog übrigens schon – sporadisch jedenfalls – seit vielen Jahren)