Eine junge Frau schleppt sich mit letzter Kraft auf die Bühne. Sie ist erst 33 Jahre alt, doch schon vom Tod gezeichnet. Um das Konzert, das enge Freunde für sie organisiert haben, überhaupt durchstehen zu können, hat sie sich mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Sie nimmt noch einmal alle Kraft zusammen und singt ihre Version des Louis-Armstrong-Klassikers "Wonderful World". Das Publikum weinte. Wenige Monate später ist die junge Frau tot. Sie heißt Eva Cassidy - und dieser Name wäre wohl noch heute nur ihren Freunden und einem kleinen Kreis von Insidern ein Begriff, wenn sich nicht innerhalb der letzten Monate gleich mehrere Wunder ereignet hätten. Jede Vokabel scheint zu platt, zu abgegriffen, um das zu bezeichnen, was sich momentan in der Musikwelt abspielt. Man möchte von Wundern sprechen, von einem Märchen - doch auch diese Begriffe werden nicht einmal annähernd einem Phänomen gerecht, das in der jüngeren Musikgeschichte ohne Parallele ist, dem Phänomen Eva Cassidy. Menschen, die ihre Stimme zum ersten Mal im Autoradio hören, sind so ergriffen, dass sie den nächsten Parkplatz ansteuern müssen. Bei Radiosendern, die einen ihrer Songs spielen, brechen die Telefonleitungen zusammen, weil tausende von Hörern den Namen der Interpretin wissen wollen. In den englischen Charts verdrängte ihr Album "Songbird" binnen kürzester Zeit arrivierte Künstler wie Lionel Richie oder die Manic Street Preachers von den vordersten Plätzen und landet im März diesen Jahres sogar auf der Pole Position. Wer ist diese Frau, die zu diesem Zeitpunkt schon fast fünf Jahre tot ist? Wer ist Eva Cassidy, die am 2. November 1996 in einem kleinen Ort in Maryland an Hautkrebs starb, und die kaum einer Musikzeitschrift auch nur eine Zeile für einen Nachruf wert war? Die schüchterne, zu Depressionen neigende Landschaftsgärtnerin aus Washington D.C. wollte eigentlich Malerin werden. Weil ihre Eltern aber das Schulgeld für die Kunstakademie nicht aufbringen konnten, widmete sich die zerbrechliche Frau mit den langen blonden Haaren vor allem der Musik. Sie verschmolz verschiedene Stile - von Blues über Folk bis hin zu Jazz und Gospel - und sang dazu mit einer Stimme von unerhörter Eindringlichkeit. Dennoch konnte sie damit keinen Plattenvertrag bei einer größeren Firma an Land ziehen. So debütierte sie 1987 bei dem australischen Indie-Label "Hot". Bis zu ihrem frühzeitigen Tod sollten dann noch vier weitere Einspielungen sowie das Livealbum "Live At The Blues Alley" folgen. Ihre unglaubliche postmortale Erfolgsgeschichte begann vor gut einem Jahr in England. Auf Anraten eines Freundes nahm der DJ eines Radiosenders Cassidys Version des Judy-Garland-Hits "Over The Rainbow" in sein Programm auf, nicht wissend, was für eine Lawine er damit losgetreten hatte. Nachdem wenig später auch noch der Schwarzweiß-Mitschnitt eines Konzerts auftauchte, war es um die Grabesruhe der Eva Cassidy geschehen: 500.000 verkaufte Kopien des Albums "Songbird", auf dem "Over The Rainbow" enthalten ist, sprechen für sich. Nach einem raketenhaften Aufstieg in den englischen Charts schwappte die Erfolgswelle zurück in die USA. Auch dort schnellten die Verkaufszahlen in die Höhe. "Songbird" schaffte den Sprung auf Platz Eins der "Pop Album Catalog Charts". Und jetzt also Deutschland! Vorreiter in Sachen Eva Cassidy war hierzulande die Radiostation SWR3. Nachdem der Sender mehrere Beiträge über die Amerikanerin ausgestrahlt hatte, griff das ZDF den langsam anschwellenden Hype um die Frau mit der engelsgleichen Stimme auf und brachte am 31. Juli im "heute-journal" ein längeres Feature über die Sängerin. "Songbird" stieg daraufhin auf Platz 41 der Media Control Charts ein. Doch damit nicht genug. Zum aktuellen Zeitpunkt rangiert das Album auf Platz sieben. Ein Ende des Cassidy-Booms ist nicht abzusehen. Neben "Songbird" haben sich auch schon die anderen Alben in den Charts platziert. Die Frau, der zu Lebzeiten der Erfolg verwehrt war, erfährt nach ihrem Tod eine Würdigung, die ihresgleichen sucht. Tragisch ist nur, dass Eva Cassidy dies nicht mehr erleben darf.

• published: 19 Dec 2010
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