Dieser Text erschien zuerst am 23. März, wurde aber privat gestellt und um einige Zeile verändert. Das ist die neue Version. Ich veröffentliche den Text erst nach der Demonstration, weil ich Nasser, dem Veranstalter, meine Solidarität nicht entziehen möchte. Ich möchte mich keineswegs gegen Nasser, sondern gegen die Demonstration und die Mehrheit der weißen Personen, die zu dieser Demonstration gegangen sind, positionieren.
Ganz populär und voller Zusagen auf meiner Facebook Timeline: Eine Demonstration durch den Berliner Bezirk Neukölln, der zwischen Gentrifikation und Kanackenhochburg schwankt. Das Ziel? Gegen Homophobie ankämpfen, denn Begehren sei keine Entscheidung. Was mir hier Bauchschmerzen bereitet? Alles. Erst Mal frage ich mich, warum es zufällig ein Bezirk mit vielen Moscheen, People of Color, Schwarzen Personen und von Klassismus betroffenen Menschen ist. Und nicht, sagen wir, Wilmersdorf, Mitte, Spandau oder Dahlem. Beim letzten Betreten dieser Bezirke hatte ich nicht das Gefühl, viel Sensibilität für die Diskrimierung von LGBTQI-Personen vorzufinden. Tatsächlich war die Atmosphäre größtenteils homo- und transfeindlich, vermischt mit einer unangenehmen Portion Rassismus. Eigentlich perfekte Orte, um gegen Homophobie zu demonstrieren, oder?
Wer so auf der Demo war?
Der Grund, weshalb die Demo in Neukölln stattfindet, ist Nasser El-Ahmads Geschichte. Er traf auf massive homofeindliche Gewalt vonseiten seiner Herkunftsfamilie und möchte nun dort, wo seine Angehörigen leben, den Protest aufmarschen lassen. Solidarität mit Nasser, das ist für mich selbstredend. Diese Solidarität zeigt sich für mich aber nicht darin, in einem See von Mayonnaise mitzulaufen und anti-muslimischen Mist zu rufen. Das Problem sind nämlich diejenigen, die Nasser für ihre eigenen rassistischen Argumentationen instrumentalisieren. Nein, es ist nicht Solidarität, Nassers Kampf zu tokenisieren. 99% der Personen aus meiner Friendlist, die der Demo zugesagt haben, sind weiß. Viele von ihnen sind zugezogene in Neukölln. Das plötzliche Aufbegehren, hier gegen die vermeintliche Homofeindlichkeit zu kämpfen, impliziert, dass vor der Gentrifizierung durch unter anderem weißen Queers nur heterosexuelle Cispersonen dort gewohnt hätten. Es deutet tatsächlich auf sehr viele problematische Zuschreibungen des Bezirks hin: Dass Neuköllner_innen das höchste Maß an Homofeindlichkeit in der deutschen Dominanzgesellschaft seien. Dass es keine Awareness in Neukölln gäbe – an die Neubesiedlung durch queere, mehrheitlich schwule, Räume wird wenig gedacht. Ja, Nassers Täter_innen leben in diesem Bezirk, so what? Die Demo hätte trotzdem in jedem anderen Bezirk stattfinden können.
Der Beschreibungstext hört mit schwierigen Zuschreibungen nicht auf, so steht dort:
Bezirke in Berlin wie Neukölln, Marzahn,… sind nicht wirklich offen gegenüber der Toleranz für Homosexuelle…
Neukölln, einer der Bezirke mit den meisten rassifizierten Person, und Marzahn, wo viele Personen von Klassismus betroffen sind. Liberales Pinkwashing ahoj! Und selbst, wenn die Demo nicht rassistisch und klassistisch wäre, so wäre sie immer noch von queerer Praxis weit entfernt.
Es wird dazu aufgefordert, Akzeptanz aufzubringen, weil Heterosexualität „ja auch“ keine Wahl sei. Erstens ist die These falsch, denn sehr viele Menschen entscheiden sich dazu, heterosexuell und –normativ zu leben. Oder zu performen. Jede PDOA (Public Display of Affection, also öffentliches Zeigen von Zusammengehörigkeit) ist eine Entscheidung. Jedes Knutschen, jedes Händchenhalten, jede Performance wird täglich entschieden und durchgeführt.
Zweitens entfacht es einen Haufen biologistischer Scheiße: Begehren kann durchaus eine Entscheidung sein. Begehren kann manchmal mit Gewohnheiten zusammenspielen. Gewohnheiten sind veränderbar. Kann nur mit einer Pathologisierung à la „die können ja nichts dafür“ argumentiert werden, um einen legitimen Grund für Toleranz zu haben? Toleranz für wen? Wer will diese Toleranz überhaupt haben? Wie wäre es zur Abwechslung damit, Menschen dazu aufzufordern, Entscheidungen zu respektieren anstatt nur biologistische Opferpositionen zu konstruieren?
Ich lehne mich jetzt auch mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass es für die Mehrheit der Teilnehmenden ein Warm-Up für den CSD/Stonewall und weniger eine differenzierte Auseinandersetzung mit Homofeindlichkeit in muslimischen Communities war. Weil scheiße sind immer die anderen.
Außerdem ein kleiner Life-Hack in Punkto Wahrnehmung: Wer [von den zugezogenen weißen Middleclass-Queers] die meiste Zeit in Neukölln verbringt, zum Beispiel weil hier gelebt wird, und hier die meisten Übergriffe erlebt, könnte ja auch 1 und 1 zusammenzählen und kapieren, dass die Übergriffe auch in Prenzlauer Berg oder Pankow passieren könnten, wenn dort viel Zeit verbracht würde. Und ein Fun-Fact zum Schluss: Homofeindlichkeit ist nicht typisch Islam, sondern typisch weißer Westen. Erst nachdem Kolonialismus und Orientalismus, welche muslimischen Communities Promiskuität und Lüsternheit zuschreiben, Einflüsse auf Glaubensreformen hatten, wurde Heteronormativität gepredigt. Auch das Kategorisieren von Identitäten, Begehren und Praxis durch Definition ist eine vom Westen initiierte Norm. Hätten eure Scheißvorfahren mal den Satz „stay in your lane“ ernstgenommen, würde das alles jetzt nicht stattfinden müssen. So vieles würde jetzt nicht stattfindet. So check yourself before you wreck yourself!
Zu diesem Thema gibt es auch viel Literatur, die Azadê T. recherchiert und mit mir geteilt hat:
„Türken raus“ in der Siegessäule
El-Tayeb, Fatima (2011): European Others. Queering Ethnicity in Postnational
Europe. University of Minnesota Press: London.
El-Tayeb, Fatima (2012): Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa. In: Steyerl,
Hito, Gutiérrez Rodríguez, Encarnatión (Ed.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration
und postkoloniale Kritik. Unrast-Verlag: Münster, pp. 129-145. Haritaworn, Jin: (2005) : Der Menschheit treu: Rassenverrat und Multi-
Themenpolitik im derzeitigen Multikulturalismus’. In Eggers, Maisha et al. (eds.), Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Berlin: Unrast, pp. 158-171.
Haritaworn, Jin (2005) : Queerer als wir? Rassismus, Transphobie, Queer Theory. In:
Haschemi Yekani Elahe; Michaelis, Beatrice (Ed): Quer durch die Geisteswissenschaften.
Perspektiven der Queer Theory. Berlin. pp. 216-237.
Haritaworn, Jin, Erdem, Esra, Tauqir, Tamsila, Petzen, Jen (2007): Internationalismus oder
Imperialismus? Feministische und schwullesbische Stimmen im ‚Krieg gegen den Terror’“,
Frauensolidarität, Nr. 100, pp. 8-9.