hotelplazaWer die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der LINKEN bislang einigermaßen zu verstehen glaubte, sieht sich in diesen Tagen eines Besseren lehrt. Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern.


Demgegenüber fordern andere, die bislang als „Pragmatiker“ galten und eine Regierungsbeteiligung für das Maß aller Dinge hielten, jetzt Prinzipientreue ein. Die LINKE sei eine Partei der Solidarität, und die Rechte der Flüchtlinge dürften nicht wahltaktischen Erwägungen geopfert werden. Gegen den Vormarsch rechter Positionen helfe nur entschlossenes Dagegenhalten.

Das Merkwürdige an der neuen Konstellation ist nicht nur der unerwartete Rollenwechsel zwischen „Gesellschaftskritikern“ und „Realisten“, sondern auch die Auflösung der Lager. Parteilinke werden sich von Parteilinken ab, Kapitalismuskritikerinnen attackieren die Parteivorsitzenden mit Argumenten, die zumindest ich nicht als besonders links erkennen kann, als „Neoliberale“, während andere, die bis vor ein paar Monaten an allen Flügelstreits aktiv beteiligt waren, diesmal auffallend still bleiben.

Dass diese Debatte etwas Abstoßendes hat, weil es letztlich mindestens so sehr um innerparteiliche Machtkalküle geht wie um inhaltliche Differenzen, lässt sich wohl kaum leugnen. Aber vielleicht kann man die Mikromachtdynamiken am Besten aushebeln, wenn man die vorgetragenen Argumente ernst nimmt.

Richtiges und Falsches

Mein Eindruck ist, dass in der Auseinandersetzung um Migration Richtiges und Falsches munter durcheinander geht. So finde ich beispielsweise den Einwand, dass Zuwanderung für die hier lebenden Menschen je nach Klassenzugehörigkeit sehr unterschiedliche Dinge bedeutet, ziemlich berechtigt: Für die Putzkraft oder den ungelernten Arbeiter auf dem Bau erhöht Zuwanderung den Druck auf das Lohnniveau – weswegen man in diesen Tagen auch so manche türkische Migrantin über die Einwanderung stöhnen hören kann. Für den urbanen Akademiker, der trotz seiner Projekt-Prekarität eigentlich ganz gut über die Runden kommt (falls der Hedonismus nicht zu teuer wird), stellt Migration hingegen sicher, dass die frisch zubereitete Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant auch in Zukunft für 5 Euro zu haben ist. Im Segment der Medienkreativen wird die Konkurrenz durch ZuwandererInnen erst einmal überschaubar bleiben.

Überzeugend ist im Übrigen auch der Einwand, dass man nicht gleichzeitig die EU abfeiern (die als Erbin der Kolonialherrschaft und als neoimperialer Protostaat die globale Ungleichheit maßgeblich mit produziert) und sich als Gerechtigkeitskosmopolit präsentieren kann. Und ja, es stimmt drittens auch, dass das AfD-Wahlergebnis von über 30% unter Erwerbslosen in Sachsen-Anhalt nicht nur als Votum für Rassismus, sondern auch als Votum gegen den Neoliberalismus zu interpretieren ist. Das AfD-Programm mag zwar noch kapitalfreundlicher sein als das der (von CDU bis Grüne reichenden) neoliberalen Front, aber gewählt wird die AfD bislang v.a. deshalb, weil sie Anti-Establishment ist. Besonders attraktiv ist dabei, dass es sich bei ihr um eine Opposition handelt, bei der man nichts riskiert, weil Teile der Eliten, des Staatsapparates und der Polizei für das rassistisch-nationale Projekt leicht zu erwärmen sind. In diesem Sinne ist die AfD eine ermächtigende „Opposition“, während man sich bei der Linken in erster Linie Ärger und Konflikte einhandelt.

Das ist im Übrigen auch der Grund, warum die Linkspartei durch den (von Gregor Gysi ins Gespräch gebrachten) „demokratischen Schulterschluss“ mit Union und SPD die extreme Rechte nur noch weiter stärken wird. Notwendig wäre genau das Gegenteil: mehr Klassenorientierung, mehr Abgrenzung von den ökonomischen Eliten und ihrem politischen Personal – so ähnlich, wie es Bernie Sanders in den USA macht. Und es ist deshalb eben auch gerade nicht so, wie die Emanzipatorische Linke Berlin neulich behauptet hat: dass sich linke Politik „nicht in der Analyse ökonomischer Zustände erschöpfen darf“ und „in erster Linie für Menschlichkeit“ steht. Nein, vermutlich war eine ökonomische Verortung der Politik nie in der Geschichte der Linkspartei so wichtig wie jetzt.

Einwanderung: eine Forderung von Subalternen

Allerdings muss eine derartige Analyse meiner Meinung nach zu einer ganz anderen Position führen, als sie bei Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine anklingt (und im Übrigen von Slavoj Zizek ganz ähnlich vertreten wird). Das Argument, dass nicht alle kommen können, weil sich sonst die Lebensverhältnisse in der Unterschicht weiter verschärfen, unterschlägt ja mal eben geflissentlich, dass diejenigen, die da in Idomeni festsitzen oder im Mittelmeer ertrinken, Teil jener globalen Arbeiterklasse sind, um deren Interessen es linker Politik gehen muss – wenn diese mehr als ein Life-Style sein soll. Meiner Ansicht nach ist die Forderung nach Migrationsbeschränkung – auch wenn sie verklausuliert daher kommt – in etwa so, als würde eine Stammbelegschaft Leiharbeitern gegenüber vertreten, es könnten nicht alle feste Arbeitsverträge haben, weil ansonsten das Überleben des Konzerns gefährdet sei. Innerhalb der Konzernlogik möglicherweise „realistisch“, aus linker Perspektive trotzdem untragbar.

Vergegenwärtigen wir uns die Lage: Der Kapitalismus war zwar immer schon ein globalisierendes System, hat aber mittlerweile alle Lebensbereiche durchdrungen. Warenströme und Arbeitsprozesse sind transnationalisiert. Die Modernisierung des Südens, die immer auch Ausplünderung bedeutete, ist an ihren inneren Widersprüchen gescheitert. Die Weltordnung bröckelt, das atlantische Imperium torkelt von einem misslungenen Krisenmanagement zum nächsten. Und gleichzeitig sorgt die gewachsene Produktivität dafür, dass mehr als die Hälfte der Menschheit faktisch nicht mehr benötigt wird.

Dass Menschen ihr Land verlassen, ist gleichermaßen Ausdruck der neuen Mobilitätsmöglichkeiten, des globalisierten Charakters der kapitalistischen Moderne und von deren Krise. Anders als viele Bewegungslinke behaupten, haben diese Menschen, die ihr Land verlassen, aber wenig von einem politischen Subjekt. Sie handeln vereinzelt, suchen den individuellen Vorteil, sind entpolitisiert oder sogar offen reaktionär – wie ihre deutschen Klassengeschwister. Vor diesem Hintergrund scheint es mir wenig mit der Realität zu tun zu haben, wenn postoperaistische TheoretikerInnen die Migration als Klassenkampf von unten beschreiben. Überlebenstaktiken können sich zwar zu Massenphänomen summieren, aber haben deshalb noch lange nichts mit sich organisierender Solidarität oder gar einer Perspektive von Veränderung zu tun.

Und trotzdem bleibt richtig, dass die Vielen, die als „Schwarm“ der Migration ein besseres Leben suchen, Proletariat im Marxschen Sinne sind. Ihre Situation ist zu flüchtig und unsicher, als dass ein handlungsfähiges politisches Subjekt aus ihnen werden könnte, aber das ändert nichts dran, dass diese Vielen ein grundlegendes soziales Recht einfordern: die Teilhabe am längst global produzierten gesellschaftlichen Reichtum. Die einzige mögliche Antwort von links kann hier lauten: „Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben und das können wir nur gemeinsam und organisiert erkämpfen.“

Solidarität als Organisierung

Man fragt sich schon, warum Norbert Blüm aus moralischer Empörung auf den (richtigen) Gedanken kommt, in Idomeni zu zelten, es der Linken aber so schwer fällt, ihr Verständnis von Solidarität in Praxis zu verwandeln. Die Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts reagierte auf Zuwanderung (die auch damals schon Lohndruck bedeutete), indem sie die Zugezogenen organisierte, Solidarität anbot, aber auch einforderte: kein Lohndumping, Beteiligung an Arbeitskämpfen. Ist es wirklich so schwer, sich heute ähnlich zu positionieren? Warum haben europäische Gewerkschaften und linke Organisation kein Solidaritätscamp an der mazedonischen Grenze errichtet, in dem nicht nur Essen ausgegeben wird, sondern auch eine politische Position und soziale Forderungen artikuliert werden? Denn es stimmt ja schon, dass sowohl wir als auch die Zuwandernden begreifen müssen: Die ökonomischen Verhältnisse werden sich nur dann nicht weiter global verschärfen, wenn wir gemeinsam und solidarisch Kämpfe um soziale Rechte führen: Vermögenssteuer, Stärkung der öffentlichen Grundversorgung, Kampf dem Rassismus, internationale Umverteilung. Solidarität ist keine karitative Veranstaltung und schon gar keine Einbahnstraße, sondern Grundlage jeder Organisierung von unten.

Dass wir, damit meine ich in diesem Fall sowohl Linkspartei als auch Bewegungslinke, uns mit solchen Ideen eher schwer tun, hat wohl auch damit zu tun, dass es heute wenig politische Praxis im Sinne einer „verbindenden Partei“ gibt. Die Linkspartei ist bislang eher ein Wahlverein und Rekruturierungsapparat von Führungspersonal für die öffentliche Verwaltung, die Bewegungslinke in erster Linie eine biographische Spielweise, auf der wir uns ausprobieren.

Wenn es wirklich darum gehen soll, die Gesellschaft zu verändern, muss Politik mehr werden als Parlamentssitzung und Demo-Ritual, als Infotisch und das ewige Produzieren von Texten. Sprich: Wir alle müssen uns verändern. Eine politische Organisation, die mehr will, als die Verhältnisse fairer zu verwalten oder bunter zu machen, muss Ort und Organisatorin von Alltagssolidarität sein, muss dafür sorgen, dass Menschen zusammenkommen, sich etwas beibringen, Empathie füreinander entwickeln, Konflikte anzetteln, Kämpfe führen und zumindest gelegentlich auch mal Erfolge erzielen. Natürlich gibt es dafür überall Ansätze – und oft sind diese eher unscheinbar. Ein Ortsverband in einer kleinen, rechts dominierten Stadt wie Suhl (Thüringen) zum Beispiel: Die meisten hier sind ältere Frauen. Mit großen Zweifeln an sich selbst und ihrer Arbeit organisieren sie Erwerbslosenfrühstück, Ämterbegleitung, Flüchtlingssolidarität, Anti-Pegida-Proteste ... Mir scheint, dass die Genossinnen klarer erkannt haben, was die Zeichen der Zeiten sind, als es die Debatten der Partei glauben lassen. Kompromisslos auf der Seite derjenigen, die im Kapitalismus nichts zu lachen haben, sehr praktisch-konkret und doch widerständig.

So schwer wäre das eigentlich gar nicht.

Raul Zelik

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien