schorlauWolfgang Schorlau gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Krimiautoren. Mit "Die schützende Hand" hat er einen Roman über die Verbindungen zwischen der Terrororganisation NSU und den deutschen Geheimdiensten vorgelegt, der teilweise sehr nah an den Fakten bleibt, aber auch umstrittene Erklärungen über die Hintermänner des rechten Terrors in Deutschland konstruiert. Anlass mit ihm über den politischen Krimi, das Phänomen "Tatort" und den Fall NSU zu sprechen.


Herr Schorlau, schauen Sie Tatort?

Hin und wieder. Früher regelmäßiger, aber das hat etwas nachgelassen.

Ich frage, weil das Krimi-Genre in Deutschland eine seltsame Funktion hat. Gesellschaftliche Probleme scheinen hier nur zu interessieren, wenn Polizisten sich mit ihnen beschäftigen. Das stimmt nicht nur fürs Fernsehen, sondern auch für die Literatur: Die Leute brauchen den Ermittler – den Beamten oder zumindest Ex-Beamten –, um sich mit den sozialen und politischen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Warum eigentlich? Was kann der Krimi über die Wirklichkeit sagen, was der normale Roman oder Film nicht kann?

Ich glaube, der Kriminalroman hat verschiedene Genres abgelöst. Er ist der Gesellschaftsroman unserer Zeit. Mehr als andere Sparten der Literatur behandelt er soziale und politische Fragen, und die werden dort nicht einfach besprochen, sondern man hat über die Spannung noch eine zusätzliche Ebene, was die Beschäftigung mit manchmal eher trockenen Themen erleichtert. Imre Kertész hat einmal gesagt, dass Spannung das ist, was wir immer erwarten – von der Literatur und vom Leben. Und die, sagen wir mal, „höhere“ Literatur ist ja des Öfteren auch wirklich stinklangweilig.

Ihr neuer, vom NSU-Fall erzählender Roman „Die schützende Hand“ trägt in weiten Teilen dokumentarische Züge. Das ist interessant, aber birgt eine Gefahr – nicht, weil Informationen zu Fiktion, sondern umgekehrt, weil Fiktion zu Information werden kann.

Ich habe bei diesem Romanstoff ein ganz einfaches Problem gehabt: Es sind in diesem Fall so viele Dinge geschehen, die völlig unglaubwürdig wären, wenn sie fiktional daher kämen. Damit viele Leser die Geschichte nicht in Bausch und Bogen ablehnen, weil sie ihnen zu phantastisch erscheint, musste ich einen großen Teil der Zusammenhänge erst einmal dokumentarisch darstellen.

Der zweite Teil meiner Antwort ist, dass ich mich in den Dengler-Romanen bemühe, einem neuen Realismus Raum zu geben, um mich mit gesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Ich versuche das anders zu lösen als der skandinavische Kriminalroman, der das Böse ja immer in der Brust des Einzelnen verortet, also individualisiert. Und auch anders als bei dem Filmemacher Oliver Stone, bei dem das System eigentlich ganz gut ist, aber menschliche Auswüchse und böse Einzelne das System korrumpieren. In dieser Logik muss der Gute den Bösen zur Strecke bringen, und alles wird wieder gut.

Ich hingegen versuche den Blick darauf zu wenden, was das System als solches hervorbringt.

Das Krimi-Genre zeichnet sich in erster Linie ja durch seine Stereotypen aus. In 80 Prozent der Fälle ist der Ermittler ein trinkender, ein bisschen gescheiterter Mann mittleren Alters. Was ist an diesem Stereotyp so interessant? Und wie ist das eigentlich beim Schreiben: Wird das nicht langweilig, immer wieder auf Karikaturen zurückzugreifen?

Die Figur des Privatermittlers ist im Genre so festgeschrieben, dass man die Rolle brechen oder mit ihr spielen muss. Meinen Dengler würde ich nicht als Stereotyp sehen. Er trinkt zwar, aber nicht einfach so. Er ist ein wahnsinnig geselliger Typ. Er liebt den Wein und er liebt die Frauen, aber verzweifelt nicht an beiden. Ich denke, das ist schon ein Unterschied zu anderen Figuren, und man kann sich da als normaler Mensch einfacher in ihm wiederfinden.

Was das „Scheitern“ angeht: Privatermittler sind nun mal keine reichen Leute. Polizisten im Übrigen auch nicht. So jemand hat ökonomische Probleme.

Sie haben eine ganze Reihe politischer Fälle in Ihren Büchern verarbeitet. Aber am interessantesten ist sicherlich der Vergleich zwischen „Die schützende Hand“ und dem Roman über das Oktoberfestattentat („Das München-Komplott“). Das waren zwei sehr konkrete Fälle. Wie haben sich die Recherchen unterschieden?

Die Arbeit war sehr unterschiedlich. Obwohl das Oktoberfestattentat der größte terroristische Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, handelt es sich um ein vergessenes Verbrechen. In München erinnert man sich daran, aber sonst ist das regelrecht aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht. Bei dem NSU-Komplex habe ich das Buch sozusagen am „lebenden Fall“ geschrieben. Das heißt, in „Das München-Komplott“ musste ich, bevor ich anfangen konnte zu erzählen, den Fall als solchen wieder in Erinnerung rufen. Das ist bei dem NSU-Komplex natürlich anders. Hier war das Problem, dass es eine Vielzahl von Einzelinformationen gibt, die man als Zeitungsleser nur schwer zu einem Gesamtbild zusammenfügen kann.

Interessanterweise ist die offizielle Erzählung bei beiden dieselbe. Beim Oktoberfestattentat hat ein verwirrter Einzeltäter die Bombe gebastelt, finanziert und gezündet, beim NSU-Komplex haben wir es angeblich mit einem isolierten Trio zu tun, das keine organisierte Unterstützung aus seiner Szene oder aus dem Staatsapparat bekommen hat. Ich halte diese Einzeltäterdarstellung in beiden Fällen für falsch. Meine Bücher sind der Versuch, eine alternative Erzählung zur offiziellen beizusteuern. Ich sage nicht, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe und über die Wahrheit verfüge. Meine Aussage ist: Es könnte auch so gewesen sein, wie ich es darstelle.

Das mache ich auch, weil die liberale kritische Öffentlichkeit in dem Fall fürchterlich versagt hat. Die Süddeutsche Zeitung beispielsweise hat die offenkundig falsche Version des Verfassungsschutzes nicht nur übernommen, sondern der Entlastung des Kasseler V-Mann-Führers Andreas Temme auch noch eine ganze Seite 3 gewidmet.

Die Auflösung Ihres Buchs sollen Sie jetzt nicht liefern, aber das müssen Sie jetzt schon noch etwas ausführen: Was an der offiziellen Darstellung ist falsch und wie sieht Ihre Analyse aus?

Die Münchner Klageschrift und die Darstellungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz behaupten, es habe sich beim NSU um eine isolierte Gruppe ohne Vernetzung in der rechten Szene und ohne Kontakte zu Geheimdiensten gehandelt. Das erste ist erkennbar falsch, weil sie ohne logistische Unterstützung aus der Szene die Ziele nicht hätten identifizieren können. Sie hätten beispielsweise nicht gewusst, was die Keupstraße ist, was sie für eine Bedeutung in Köln hat.

Darüber hinaus besteht der große und begründete Verdacht, dass da auch die Geheimdienste mitgewirkt haben. Das beginnt beim Untertauchen vom Böhnhardt nach der Durchsuchung der Garage, und geht damit weiter, wie Hinweise auf die Existenz des NSU und seines Aufenthaltsortes unterschlagen wurden.

Okay. Aber wie weit reicht diese Beteiligung der Geheimdienste?Hat der VS über seine V-Leute am NSU dran gehangen, ohne zu wissen, was der treibt? Gibt es rechte Seilschaften in den Geheimdiensten, die rechte Gewalt ganz gut finden? Das wäre ja nicht besonders verwunderlich: Die bundesdeutschen Geheimdienste wurden nach 1945 von Nazi-Funktionären aufgebaut und wurden jahrzehntelang von ihnen dominiert. Oder steckt politisches Kalkül dahinter? Bei den rechten Anschlägen der 1960er und 1970er Jahre in Italien oder beim Münchner Oktoberfest ging es darum, das politische Klima zu polarisieren. Aber wäre das beim NSU plausibel?

Da komme ich an meine Grenzen. Ich bin ein Geschichtenerzähler. Und eine Geschichte ist erst dann zu Ende, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat – sagt Friedrich Dürrenmatt. Ich deute an, dass es auch heute so etwas wie eine Strategie der Spannung geben könnte. Und wenn man sich die aktuellen Ereignisse anguckt, kann man das nicht von der Hand weisen. Aber klar: Hier beginnt meine Fiktion. Da bin ich ohne konkrete Hinweise.

Das politische Interesse bei der „Strategie der Spannung“ der 1970er Jahre bestand darin, eine autoritäre Lösung der gesellschaftlichen Krise vorzubereiten. Aber wer im Staatsapparat hätte heute ein Interesse daran, die Situation zu eskalieren – und das gegen Einzelhändler mit türkischem Nachnamen?

Schauen Sie sich die Situation heute doch mal an. Bei Geheimdiensten geht es ja immer darum, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und wenn wir uns anschauen, wie sich die Öffentlichkeit hat, dann ist so eine Operation ja auch ein ganzes Stück vorangekommen. Es ist doch atemberaubend, was im letzten halben Jahr passiert ist. Die Rechte bestimmt den Diskurs. Das gab es in noch in diesem Ausmaß.

Entlastet es nicht die Gesellschaft, wenn man sagt, Rassismus und Faschismus werden vom Staat erzeugt? Ich bin im Moment ja ganz froh, dass Merkel und nicht die deutsche Mehrheitsgesellschaft regiert.

Das ist ein merkwürdiges Argument. Ich sage ja nicht, dass es sich ausschließlich um ein Geheimdienstprojekt ohne Basis in der Gesellschaft handelt. So will ich auch nicht verstanden werden. Neu ist aber, dass sich die rassistischen Strömungen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, so ungeniert äußern und so sehr ermutigt werden. Dass sie von den Medien zur Geltung gebracht und ihre Thesen ernsthaft erwogen werden. Ist es so unplausibel, dass so eine Entwicklung von rechten Netzwerken im Staat vorangetrieben wird?

Kommen wir noch mal zu Ihrer Arbeitsweise zurück: Sie sind bis Juni mit Lesungen ausgebucht. Erleichtert der Kontakt mit dem Publikum eigentlich manchmal auch die Recherchen? Kommen Polizisten oder Verfassungsschützer nach Lesungen auf Sie zu, um Ihnen ihre Sicht darzustellen? Als Autor hat man ja nicht immer den besten Einblick, wie Leute in den staatlichen Institutionen ticken.

Es ist natürlich total wichtig, dass man den Ton trifft. Bei dem neuen Buch gibt es z.B. eine Szene, in dem ein Gespräch beim Bundesamt für Verfassungsschutz geschildert wird. Da habe ich offensichtlich den Ton nicht richtig getroffen. Ich habe einige Rückmeldungen bekommen, in denen man mir gesagt hat, „so reden wir nicht miteinander, bei uns ist es viel hierarchisierter“.

Natürlich stimmt es, dass Recherchen das Schreiben enorm erleichtern, und natürlich gibt es bei einem Buch, das viel gelesen wird, auch öfter Rückmeldungen.

Auffallend fand ich, dass bestimmte Zusammenhänge dann aber wieder nicht auftauchen. Ich hab mich z.B. gefragt, warum eine Ex-Kollegin vom BKA dem Ermittler Dengler die Informationen zusteckt, wo doch in Wirklichkeit viele Informationen, die wir heute haben, aus den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen stammen. Das wäre eigentlich auch ein interessanter literarischer Stoff: Antifaschistische Journalistinnen, Mitarbeiter von Abgeordneten, Anwältinnen haben da recherchiert und Wissen zusammengetragen. Warum taucht so eine Ebene gesellschaftlicher Realität nicht auf im Roman?

Die Figur Dengler hat diesen Zugang zum BKA auch in den anderen Romanen gehabt. Er hat früher einmal dort gearbeitet und bekommt von dort immer noch Informationen. Das Figuren-Tableau kann man nicht endlos ausweiten, und deswegen funktioniert Denglers Recherche auch in „Die schützende Hand“ so.

Im Roman taucht auch die RAF am Rande auf. Dengler ist als Personenschützer bei einem Anschlag auf einen Bankier dabei gewesen – das RAF-Attentat auf Alfred Herrhausen 1989. Auch damals sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, sagt er. Damit setzen Sie die späten RAF-Anschläge mit dem NSU in eins und machen für beides eine Konspiration im Staat verantwortlich. Ist das jetzt nur Story oder tatsächlich Ihre Meinung?

Ich weiß natürlich über die Funktionsweise der Geheimdienste auch nicht viel mehr als alle anderen. Nur ab und an, wenn etwas schief geht, blitzt etwas auf. Und das lässt dann für Sekundenbruchteile die Tiefe des Raums erahnen. So scheint mir das auch beim Herrhausen-Attentat gewesen zu sein.

Beim NSU haben wir es nicht nur mit einem Blitz zu tun, sondern da gewittert es ganz gewaltig. Die Frage ist natürlich, ob man da nur eine Fata Morgana gesehen hat oder ob da etwas dahinter steckt. Aber ich habe es ja schon oben gesagt: Für Literatur gilt, dass die Geschichte erst dann zu Ende erzählt ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat.

Eigentlich haben Sie dem eben ja schon widersprochen, aber ich sag es trotzdem noch einmal. Läuft der politische Kriminalroman, der im Wesentlichen von Verschwörungen und den Verbrechen Einzelner lebt, nicht Gefahr, gesellschaftliche Probleme zu bagatellisieren?

Ich würde behaupten, dass man das den Dengler-Romanen am allerwenigsten vorwerfen kann. Denn mich interessiert ja gerade herauszufinden, wo und wie das System solche „Verschwörungen“ und Verbrechen hervorbringt. Und ich denke auch, dass der große Erfolg der Stieg-Larsson-Romane damit zusammenhängt. Das ist ein ganz untypischer Schweden-Roman.

Andererseits muss man aber auch jedes System an Personen festmachen. Die Verhältnisse treten uns als Personen gegenüber und nicht als System. Und Literatur braucht Figuren.

Was kommt eigentlich nach Dengler? Läuft sich so eine Figur für den Autor irgendwann tot?

Ich hoffe nicht, denn mir macht das viel Spaß. Gleichwohl muss ich allerdings zugeben, dass ich im Moment ein Problem habe, den Dengler auf einen neuen Stoff anzusetzen. Es gäbe schon Fragen und Zusammenhänge, über die ich schreiben könnte, aber im Moment habe ich keine rechte Ahnung, wie ich das dramaturgisch lösen soll. Da zerbreche ich mir gerade ziemlich den Kopf.

Interview: Raul Zelik

 

 

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