greece

Keine Woche ist seit den Wahlen in Griechenland vergangen, und schon wird von vielen gefragt, ob Syriza durch das Bündnis mit den rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen den Kredit nicht bereits wieder verspielt hat. Von einer Regierung, die so wenig Prinzipientreue an den Tag lege, so heißt es, sei nichts zu erwarten. Doch bestand die Bedeutung des Syriza-Wahlsiegs wirklich darin, dass danach besser regiert werden sollte?

In den letzten Monaten von Pegida und Islamischem Staat, fundamentalistischen Anschlägen und rassistischem Wahn beherrschten Monaten haben wir das Drama des 21. Jahrhunderts in seiner ganzen Hässlichkeit zu Gesicht bekommen. Serge Halimi, Herausgeber der Le Monde Diplomatique, hat die Lage in seinem Editorial für die aktuelle Ausgabe der Monatszeitung treffend beschrieben: Während die Welt zerbricht, Ungleichheit und Marginalisierung immer erdrückender werden, diskutieren wir, ob man Mohammed zeichnen darf. Umso größer die Probleme, desto belangloser die Auseinandersetzungen: Weihnachtsbaum und Koran als Antwort auf Abstiegs- und Versagensängste.

Halimi hat recht – Diskurs und Realität haben kaum noch miteinander zu tun. Der Neoliberalismus hat die demokratischen Strukturen zur leeren Hülle werden lassen, neue transnationale Regierungsformen sind entstanden, die von niemandem mehr legitimiert werden müssen; die Manipulation durch Medienkonzerne und Kulturindustrie wird immer absurder, und der kapitalistische Ökonomisierungszwang reißt jede gesellschaftliche und ökologische Schranke nieder. Doch wir streiten darüber, ob Fischesser Angst vor Fleischessern haben, ob Linkshänder Rechtshänder fürchten sollten. Gesellschaftliche Widersprüche werden nur noch als Karikatur verhandelt: „abgehobene Politik“, „Brüssel“, „Lügenpresse“, „Gier“ – das sind die Begriffe, mit denen das aufgeklärte Europa seine Krise zu erklären versucht.

Die Bedeutung des Syriza-Wahlsiegs ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Viele Intellektuelle, die sich für Regierungspersonal ansonsten wenig interessieren, haben in den letzten Wochen über die Bedeutung der anstehenden Wahlen geschrieben. Slavoj Zizek behauptete, nur die „von Syriza repräsentierte Häresie“ könne retten, was am europäischen Erbe verteidigenswert sei: Demokratie, Vertrauen in die Bevölkerung, egalitäre Solidarität. Und die radikalen italienischen Philosophen Toni Negri und Sandro Mezzadra sprachen von der „fundamentalen Chance, neue politische Räume in Europa zu eröffnen“.

Ihre Hoffnung stützt sich nicht darauf, dass Alexis Tsipras etwas „besser machen“, diese oder jede Maßnahme ergreifen könnte. Sie interpretieren den Augenblick, wie es der griechische Autor Akis Gavriilidis in seinem lesenswerten Aufsatz Grexodus: elections, debts, and the ghosts of post-self-colonialism formuliert hat, weniger „anhand der Widersprüche und Konflikte“ als anhand seiner „Fluchtlinien“. Das Entscheidende ist der Akt der kollektiven Verweigerung: Der griechische Wahltag war ein „voting as exodus“ – eine Flucht, ein Ausbruch aus den Verhältnissen. Er eröffnet ein neues Feld.

In den vergangenen 3 Jahrzehnten beruhte die Stabilität des neoliberalen Regimes darauf, dass die strukturellen Gewaltverhältnisse (vulgo: „Sachzwang“) als alternativlos erschienen. Es war unwesentlich, ob Konservative oder Sozialdemokraten regierten, weil die grundsätzlichen Entscheidungen außerhalb der Politik gefällt wurden. Der Syriza-Wahlsieg stellt diese Logik in Frage. Dem „it’s the economy, stupid“ hallt ein „it’s the democracy, stupid” entgegen.

Denn mit der Niederlage der Sachzwangsverwalter eröffnet sich auch die Möglichkeit eines konstituierenden Prozesses. Von der Peripherie Europas ausgehend stellen Menschen die Grundlagen des neoliberalen Regimes in Frage. V.a. daran wird die Syriza-Regierung zu messen sein: ob sie die Situation offen hält, ob der griechische Wahlausgang weiter ansteckend wirkt.

Im Mai finden in den meisten Regionen Spaniens Autonomiewahlen statt, im Herbst wird die neue Zentralregierung gewählt. Die erst vor einem Jahr gegründete linke Bürgerbewegung Podemos ist in den meisten Umfragen heute stärkste Partei. Im Fall eines Wahlsiegs will sie einen konstituierenden Prozess in Gang setzen: eine breite gesellschaftliche Debatte über einen neuen, nicht-neoliberalen contrat social, wie es sie vor einem Jahrzehnt in Venezuela, Bolivien und Ecuador gab.

Das ist das Entscheidende des Augenblicks: Dass er das demokratische Aufbegehren gegen die Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse denkbar macht und damit wieder den Blick auf die realen gesellschaftlichen Probleme freigibt. Es ist dieser sich öffnende Raum, über den wir reden müssen, nicht über Tsipras und seine Verwaltungsmaßnahmen.

Raul Zelik

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien