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Diese Woche jährt sich der Putsch gegen die Linksregierung in Chile zum vierzigsten Mal. Zwar hat das Chile von 1973 wenig bis gar nichts mit dem Europa der 2010er Jahre zu tun – in Europa gibt es keine starke Arbeiterbewegung, keine Welle von Landbesetzungen, kaum (wahrnehmbare) kritische Intelligenz. Aber immerhin zeigt der Putsch von ’73 doch, dass die alte Parole „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“ so ganz nicht stimmen kann. Wenn Wahlen nie etwas verändern würden, müssten Eliten nicht versuchen, Wahlergebnisse auf die eine oder andere Weise zu korrigieren. Wenn schon, müsste der Spruch lauten: „Wenn Wahlen was zu verändern beginnen, werden sie verboten.“

Ganz unterschiedliche Autoren haben in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, dass sich der Kapitalismus rasant von der Demokratie entfernt. Slavoj Zizek spricht vom „Ende der ‚ewigen‘ Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus“, Negri / Hardt oder Miguel Abensour fordern, die Demokratie ins Zentrum eines neuen kommunistischen Projekts zu rücken, und die eher sozialdemokratischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch und Wolfgang Streeck werden nicht müde zu betonen, dass Demokratie gegen den Kapitalismus historisch erkämpft werden musste und dementsprechend auch weiter gegen ihn verteidigt werden muss.

Mitte-Links-Regierungen, die rechte Politik machen

Nun haben parlamentarische Wahlen mit Demokratie zugegebenermaßen zunächst mal wenig zu tun. Wenn bei Wahlen wirklich grundlegende Richtungsentscheidungen getroffen würden, dann müssten Mitte-Links-Regierungen auch Mitte-Links-Politik machen. Wir alle wissen es besser: In Westeuropa waren Mitte-Links-Regierungen in den letzten Jahrzehnten von Rechtsregierungen kaum zu unterscheiden. Ob nun spanische oder griechische Sozialisten in den 1980er Jahren oder Rot-Grün ab 1998 – die Mitte-Links-Regierungen haben immer wieder für eine Modernisierung im Interessen der Eliten gesorgt. Never forget Schröder / Fischer: Hartz IV-Reformen, Kriegseinsätze der Bundeswehr, Senkung der Steuersätze für Großverdiener, Privatisierung öffentlicher Güter.

Aber wenn es nicht die Zusammensetzung der Regierung ist, die über die Politik der nächsten Jahre entscheiden wird, was ist es dann? Linke, die vielleicht schon einmal von Gramsci oder Poulantzas gehört haben, kommen in dem Zusammenhang gern mit dem Begriff der „Kräfteverhältnisse“. Das ist sicher nicht falsch: Wenn das gesellschaftliche Klima stimmt, können auch eher rechte Regierungen tendenziell linke Reformen machen, also Reformen, die die Gesellschaft demokratisieren, Arbeits- und Wohnverhältnisse menschenwürdiger gestalten, Solidarität erleichtern, Rassismus bekämpfen, Geschlechteridentitäten aufweichen usw. – und zwar nicht, weil diese Regierung das unbedingt möchte, sondern weil sie sich dazu gezwungen sieht.

"Kräfteverhältnisse"? - Von Bruce lernen, heißt ...

Doch der Begriff „Kräfteverhältnisse“ ist selbst ein schwammiger Begriff. Denn was macht Stärke aus? Die Größe linker Fraktionen im Parlament? Die Mitgliederzahl von Gewerkschaften? Die Anzahl von Demonstrationen? Die Häufigkeit von Streiks? Die Militanz von Revolten? Oder ist es einfach die Aufsummierung solcher Faktoren?

Mein Kampfsportlehrer betont gern, dass Kämpfe weniger durch Kraft, als durch Richtungswechsel entschieden werden. Bei Bruce Lee heißt das, „wie Wasser sein“: Wenn der Gegner lästig wird, muss man ihn umfließen. Der Witz an dieser Strategie ist meiner Ansicht nach nicht die schnelle Anpassung an die Situation, wie die Kampfsportler behaupten; der Witz besteht in der Überraschung. Herrschaftliche Politik- und Gesellschaftswissenschaften beschäftigen sich heute v.a. mit Governance, also Techniken des Regierens und Kontrollierens. Wenn das den Kern regierender Politik ausmacht, dann müsste sich soziale Macht von unten im Umkehrschluss vor allem als Unberechenbarkeit äußern.

Was meine ich damit? Ich behaupte, dass emanzipatorische Veränderungen oft dadurch zustandekommen, dass Herrschende antizipierend darum bemüht sind, die Kontrolle zu bewahren. Sie ‚fliehen‘ sozusagen vor dem Entstehen gesellschaftlicher Macht. Als der Kommunismus noch als revolutionäre Drohung im Raum stand, plädierten selbst Christdemokraten für die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien und den Ausbau von Genossenschaften. Als Anfang der 1980er Jahre immer mehr Jugendliche Häuser besetzten, schuf der Senat von Berlin erstaunliche Spielräume für selbstverwaltete, gemeinschaftliche Wohnformen. Wenn Landlose heute in Brasilien eine Agrarreform von unten machen, steigt die Bereitschaft der Regierung, ein staatliches Gegenprogramm zu verabschieden. In dieser Dynamik sind Linksregierungen keineswegs immer hilfreich. Sie wirken demobilisierend, weil die Menschen ihre Belange delegieren, die Regierbarkeit dadurch zunimmt und die Furcht der Eliten vor dem Kontrollverlust schwindet.

Nicht alles, was verboten ist, ändert etwas

Es müsste also vielleicht darum gehen, den Spieß umzudrehen und die Regierenden von unten vor sich her zu treiben – oder bescheidender ausgedrückt: vor sich her zu drängeln. Was aber könnten solche Ansätze sein, die die Regierbarkeit unterhöhlen und Möglichkeiten eröffnen?

Erinnern wir uns noch einmal an die Parole mit den Wahlen: Es stimmt, dass vieles, was etwas verändern würde, verboten ist. Der politische Generalstreik ist nicht zuletzt deshalb verboten. Aber im Umkehrschluss ist nicht alles, was verboten ist, auch politisch subversiv. Auch der radikalste, militanteste Widerstand kann Teil der herrschenden Verhältnisse werden – weil er eben nicht überrascht, er leicht antizipiert werden kann. Ein ordentlicher Feind kann in diesem Sinne genauso in die Ordnung integriert sein wie die zahnlose reformistische Opposition.

Was bringt die Verhältnisse dann aber zum Tanzen? Ich würde behaupten: Bewegungen, die offen bleiben, von vielen getragen werden können und damit einen Vorstellungshorizont eröffnen. Direkte Aktionen, die nicht in erster Linie ein abstraktes Ziel, sondern konkrete Verbesserungen vor Augen haben und damit zum Nachmachen einladen. Jede Form von gesellschaftskritischer Einmischung, die die öffentliche Meinung durchlöchert und die herrschende Erzählung („Wir Deutschen“, „wir alle entscheiden“, „wir müssen den Gürtel enger schnallen“ usw.) instabil macht.

Vielleicht sind es also nicht so sehr „die Kräfteverhältnisse“, sondern die Dynamik von Situationen, die Veränderung ermöglichen. Nicht die „Stärke“ von Bewegungen, Organisationen und Parteien ist entscheidend, sondern die Frage, ob eine Situation Möglichkeiten aufweist, „Potenzialität“ besitzt, überraschen kann.

Die südamerikanischen Linksregierungen, die – bei aller Kritik – das Fenster der Veränderung wieder ein Stück weit aufgestoßen haben, waren in diesem Sinne nicht das Ergebnis „linker Stärke“, sondern der Unberechenbarkeit von Situationen. Nicht die linken Wahlsiege, sondern die von neuen Akteuren und Bündnissen getragenen Revolten, die Venezuela ab 1989, Ecuador ab 1990 und Bolivien ab 1998 erschütterten, haben den anti-neoliberalen Politikwechsel ausgelöst. Es war der Überraschungsmoment, der den Erfolg ermöglichte und letztlich auch über die meisten Linken in den betreffenden Ländern hinweggefegt ist.

Die Kritik des Politikbetriebs als neue Spießigkeit?

Das Alles könnte man jetzt als Plädoyer verstehen, sich nicht weiter für Wahlen zu interessieren – besonders in Deutschland, wo das politische Feld ja insgesamt ziemlich gehegt und kontrolliert daherkommt. Mir widerstrebt dieser Bartlebyismus auch deshalb, weil er genau jener Feuilletonhaltung entspricht, die sich wohlwollend mit den Revolten in Istanbul oder den USA beschäftigt und gelegentlich ein bisschen Sympathie für den neuen Antikapitalismus à la Negri oder Zizek zum Ausdruck bringt, sich ansonsten aber aus allem heraushält. Man kokettiert mit der Kritik, um nicht für blöde gehalten zu werden, will sich gleichzeitig aber auch nicht nass machen. Eine antispießige Variante neuer Spießigkeit.

Vielleicht geht es im Moment v.a. darum, sich den Begriff der Politik anders anzueignen. Unsere Chance könnte in den unerwarteten Verbindungen liegen, und da finde ich DIE LINKE – wie schon an anderer Stelle gesagt – nicht so uninteressant. Ihre Stiftung ist ein wichtiger Ort der Gesellschaftskritik, bei ihr verbinden sich unterschiedliche soziale und politische Milieus (was in der identitären deutschen Linken keine Kleinigkeit ist), sie ist eine wahrnehmbare Stimme gegen den herrschenden neoliberalen Konsens.  Blockupy, Streikerfahrungen, Re-Kommunalisierung von Wasser, kritische Theorie, queere Politik, Kampagnen gegen Zwangsräumungen – wo bilden sich Verknüpfungen zwischen diesen unterschiedlichen Praxisformen und Sprachen?

Ja, es stimmt, dass politische Grundsatzentscheidungen nicht von Regierungen getroffen werden und die Bedeutung von Wahlen viel geringer ist, als gemeinhin erzählt wird. Doch auch denjenigen, die wissen, dass Kämpfe und Gesellschaftskritik entscheidender sind als Wahlen, kann das Ergebnis der LINKEN am nächsten Sonntag kaum egal sein.

Raul Zelik

 

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien