anderemoeglicheweltenIn den 1980er Jahren sprachen deutsche Medien über die bundesrepublikanische Politik ganz ähnlich wie in den 2000er Jahren über Lateinamerika. Sie unterschieden zwischen einer ‚realistischen Linken‘, die mit umsetzbaren Projekten eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft voranbringen wollte, und einer ‚Fundi-Linken‘, die angeblich Opfer ihrer ideologischen Postulate war und nur Hass und Illusionen schürte. Dieser Diskurs begleitete v.a. die Entwicklung der Grünen, die gerade als politisches Sprachrohr der außerparlamentarischen Bewegungen entstanden und in zwei Lager zerfallen waren. Den Realos, angeführt von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, ging es in erster Linie um das Zustandekommen einer Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten, was sich in dem unablässigen Bemühen ausdrückte, „Politikfähigkeit“ unter Beweis zu stellen. Die vermeintlichen ‚Fundamentalisten‘ hingegen bestanden darauf, dass Regierungswechsel nicht zwangsläufig emanzipatorische Veränderungen nach sich ziehen, und setzten daher auf die Stärkung außerparlamentarischer sozialer Bewegungen.

Die großen Medien, die aus auf der Hand liegenden Gründen in solchen Konflikten weder neutral noch objektiv sein können, trugen wesentlich zum Erfolg des Realo-Flügels bei. So konnte der Ex-Radikale und Ex-Steinewerfer Joschka Fischer 1998 endlich den ersehnten Koalitionsvertrag mit dem nicht minder geläuterten Ex-Juso Gerhard Schröder unterzeichnen. In den darauffolgenden Jahren trieb die rotgrüne Regierung, die von ihren Anhängern als historischer Erfolg gefeiert wurde, dann auch tatsächlich eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation voran. Diese jedoch stand in diametralem Widerspruch zu den Programmen der Regierungsparteien und den Wünschen ihrer Wähler. Die Mitte-Links-Regierung machte genau das, wofür sie nicht gewählt worden war: Sie führte Deutschland in den ersten Angriffskrieg seit 1945 und demontierte mit Hartz IV das Sozialsystem; ihre Steuerreform entlasteten die besitzenden Klassen und verschärften die Widersprüche; dank Schröders Nähe zur Industrie und der gleichzeitigen Anbindung der Gewerkschaften an die Sozialdemokratie gelang es, die Unternehmerseite dauerhaft und strategisch zu stärken.

Deutschland ist nicht der einzige Fall, der darauf verweist, dass ‚Realpolitik‘ häufig, vielleicht sogar in der Regel, eine miserable „Performance“ besitzt. In den vergangenen Jahrzehnten haben Mitte-Links-Regierungen in Europa fast überall für technokratische Modernisierungen im Interesse des Kapitals – und eben nicht für emanzipatorische Politik – gesorgt. Im von der Nelkenrevolution bewegten Portugal der 1970er Jahre erfüllte die sozialistische Regierung Mario Soares die Funktion, die in der Revolution entstandenen rätedemokratischen Bewegungen zu beseitigen und das Terrain für eine ökonomische und soziale Modernisierung, wie sie die Europäische Gemeinschaft zur Bedingung ihrer Unterstützung gemacht hatte, zu bereiten. Ähnlich auch der französische Fall: Dort setzte die von Sozialisten, Kommunisten und bürgerlichen Radikalen gebildete Koalitionsregierung unter Präsident Mitterand nach einem kurzen Intermezzo alternativer Politik ab 1983 schließlich jene neoliberalen Reformen im Land durch, an die sich die Rechte nicht herangetraut hatten. Die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) ging unter dem Technokraten Felipe González noch einen ganzen Schritt weiter. Sie führte das Land in die NATO, übernahm die Zerschlagung der Stahl- und Werftindustrien und fügte den im Widerstand gegen Franco erstarkten popularen und Arbeiterbewegungen im Land eine strategische Niederlage zu. Darüberhinaus baute die sozialistische Regierung mit Hilfe der Geheimdienstapparate, von Rechtsradikalen und Organisierter Kriminalität sogar Todesschwadronen auf. Angeleitet aus dem Madrider Innenministerium ermordeten die parapolizeilichen Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) – die identisch funktionierten wie die Todesschwadronen in Lateinamerika – mehr als 30 Menschen auf französischem Staatsgebiet und zwangen Paris damit, ihre traditionell liberale Asylpolitik gegenüber ETA-Anhängern zu revidieren.[1]

Man kann also festhalten, dass viele der neoliberalen und autoritären Veränderungen in Europa auf das Konto von Mitte-Links-Regierungen gehen. Das ist weitaus weniger paradox, als es auf den ersten Blick wirkt. Da fortschrittliche Parteien größere Integrationsfähigkeit gegenüber sozialem Widerstand besitzen, können sie Modernisierungen effizienter umsetzen als die konservative Rechte. Dass sie das tun, hat weniger mit „Verrat“ zu tun, als mit dem verkürzten Politikverständnis von sozialdemokratischen, grünen, sozialistischen und teilweise auch kommunistischen Parteien zu tun, die in ihrer Fixierung auf Wahlprozesse, Regierungszusammensetzungen und den Staatsapparat die faktischen Machtmechanismen bürgerlicher Gesellschaften weitgehend ignorieren. Man könnte das als eine Verbindung von politischer Naivität und klientelistischer Bequemlichkeit bezeichnen. Die Mitte-Links-Parteien übernehmen gesellschaftlich hegemoniale Politikkonzepte, unterwerfen sich neoliberalen Dogmen, die als ‚Sachzwänge‘ daherkommen, und verkennen die Notwendigkeit, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Konstellationen zu verändern.

Man könnte hieraus nun ableiten, dass es aus emanzipatorischer Perspektive immer erfolgversprechender sein müsste, Rechtsregierungen mit einer gesellschaftlichen Mobilisierung unter Druck zu setzen. Doch so einfach ist der Zusammenhang auch wieder nicht. Die große neoliberale Wende wurde Anfang der 1980er Jahre von den ultrakonservativen Regierungen Maggie Thatcher und Ronald Reagan durchgesetzt. In Lateinamerika, wo die strategische Niederlage der popularen und Arbeiterbewegungen und die Durchsetzung einer neuen Politik blutig mit Militärputschen erzwungen wurde, ist der Fall noch eindeutiger.

Es ist also offensichtlich auch nicht egal, wer regiert. Trotzdem kann man umgekehrt auch nicht schlussfolgern, dass emanzipatorische Politik durch die Bildung von (Mitte-) Linksregierungen zwangsläufig vorangebracht wird.

Um dieses scheinbare Paradoxon der bürgerlichen Demokratie zu verstehen, drängte Johannes Agnoli (1990 und 1995) uns, die wir bei ihm studierten, immer wieder dazu, die Erzählungen des liberaldemokratischen Systems zu hinterfragen. Agnoli betonte die Grenzen der Volkssouveränität in der Demokratie. „Die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen kann nicht als Gesetzesantrag weder oppositioneller noch regierender Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden“ (ders. 1990: 225), lautete eine ebenso ironische wie zutreffende Bemerkung von ihm. Obwohl die Feststellung offensichtlich ist, wird sie im politikwissenschaftlichen Betrieb doch geflissentlich ignoriert: Selbst wenn eine große Mehrheit das repräsentativ-demokratische politische System durch eine Rätedemokratie oder die kapitalistische Marktwirtschaft durch ein auf Gemeineigentum und kooperativer Arbeit beruhendes System ersetzen wollte, könnte diese Entscheidung nicht umgesetzt werden. Der Staat würde, repräsentiert vom seinen Zwangsorganen und dem Justizapparat dafür sorgen, dass der Volkswillen nicht realisiert wird. Denn in den Staat sind Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben, die der Demokratie strukturelle Grenzen setzen.

Das hat mit der Geschichte des Staates und dem Charakter des liberalen Systems zu tun. Die zentrale Funktion des bürgerlichen Staates besteht, auch wenn er wichtige demokratische Elemente beinhaltet, eben nicht in der Materialisierung des Allgemeinwohls, wie die idealistische Staatserzählung behauptet. Historisch geht Staatlichkeit, wie bei Tilly (1992) und Gerstenberger (2006) kompetent nachzulesen ist, aus einer komplexen Dynamik von kriegerischer Konkurrenz zwischen Feudalmächten, dem Prozess der Kapitalbildung, der Ausdifferenzierung und Professionalisierung von Machtpraktiken sowie der Institutionalisierung von Konflikten (v.a. zwischen Adel, Krone und aufstrebendem Bürgertum) hervor. Auch wenn die bürgerliche Revolution und der Liberalismus diese Form grundlegend modifizieren, bleibt auch der liberale Staat eine Herrschaftseinrichtung, die das Fundament bürgerlicher Macht – den ungleichen Zugang zu den Produktionsmitteln – zu gewährleisten hat.

In diesem Sinne gilt es, dem britischen Politologen Colin Crouch (2005) zu widersprechen, der in „Postdemokratie“ einen Verfall der europäischen Demokratien beklagt und diesen Prozess mit dem Erstarken von Lobby-Gruppen und dem kollektiven Suizid der Sozialdemokratien erklärt. Zwar scheint offensichtlich, dass sich die Entscheidungsmacht in den letzten Jahrzehnten in den Händen technokratischer und ökonomischer Machtgruppen konzentriert hat. Doch anders als Crouch unterstellt, beruht der liberale Staat eben nicht erst seit Ende der sozialdemokratischen Ära, sondern seit eh und je auf der Konzentration des Eigentums von Produktionsmitteln und damit auch auf gesellschaftlicher Macht. Hier hat der strukturelle Widerspruch des Liberalismus seine Ursache, der eine politische Gleichheit proklamiert, die von der eigentumsbedingten, realen Machtverteilung jedoch ad absurdum geführt wird.[2]

Die Darstellung Agnolis (1990), der die Legitimationsfunktion der bürgerlichen Demokratie hervorkehrt, scheint in diesem Zusammenhang weitaus plausibler als Crouchs Lamento. Die Hauptfunktion des liberalen politischen Systems, so Agnoli, besteht nicht darin, einen Volkswillen festzustellen und umzusetzen, sondern die dem Kapitalismus eigenen sozialen und politischen Widersprüche in institutionelle und kontrollierbare Bahnen zu lenken. Die Existenz einer parlamentarischen Opposition macht es möglich, dass antagonistische Gesellschaften einen Konsens bilden. Der Wechsel der Regierungsparteien garantiert dabei die Kontinuität der zugrundliegenden Ordnung. „Obrigkeitliche Machtzentren gehen in sich zirkulierend ein Konkurrenzverhältnis ein“, schreibt Agnoli (ebda: 51), das heißt, die großen Parteien kreisen um einen Konsens, der durch die sozioökonomischen Machtverhältnisse der liberalen Gesellschaft letztlich bereits festgelegt ist.

Trotz der Austauschbarkeit der politischen Akteure entsteht so der Eindruck, es existierten politische Alternativen. Die Wahlkampagne 2008 in den USA ist ein gutes Beispiel dafür, wie das bürgerlich-demokratische System mit diesem Mechanismus immer wieder Kontinuität herstellt. Das politische System der USA befand sich 2008 aufgrund des Irak-Kriegs und des Umgangs der Bush-Regierung mit dem Finanz-Crash in einer tiefen Legitimationskrise. Zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerungsmehrheit tat sich eine Repräsentationskluft auf. Obama (dessen spektakulärer Aufstieg genau damit zu tun hatte, dass er nicht aus dem klassischen Establishment stammte) gelang es mit seiner Parole von Change, diese Repräsentationskrise zu artikulieren und ermöglichte damit eine breite soziale Mobilisierung. Dieser oppositionelle Impuls war jedoch ausgesprochen flüchtig. Heute unterscheidet sich die Obama-Regierung nicht wesentlich von den Vorgänger-Administrationen – allerdings mit der Besonderheit, dass es Obama gelungen ist, wieder integrierende und hegemoniefähigere Diskurse gegenüber den anderen imperialen Staaten zu entwickeln.

Wir können also festhalten, dass auch wenn der politische Wechsel in den USA von einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung erkämpft werden musste, er doch in erster Linie die Fortführung der alten Politik ermöglicht hat. Die entstehenden sozialen Widerstände wurden im Verlauf des Wahlprozesses wieder ins System eingegliedert, weil die in sich zirkulierenden „obrigkeitlichen Machtzentren“ sowohl das Feld der Macht als auch der Alternativen besetzt hielten. Dadurch dass der Regierungswechsel keinen Politikwechsel nach sich zog, wurden die Verhältnisse zusätzlich stabilisiert: Wenn reale Veränderungen unmöglich sind, lohnt es sich auch nicht, sich zu engagieren – eine Erkenntnis, die demobilisiert und entpolitisiert.

In den vergangenen Jahrzehnten haben soziale Bewegungen und Linke daraus die Notwendigkeit abgeleitet, alternative Parteien zu gründen, die mit dem Zweiparteiensystem und der ‚Kontinuität durch Wechsel‘ brechen. Die grünen und alternativen Parteien, die um 1980 in den meisten westeuropäischen Ländern entstanden, waren Ausdruck dieser Suche. Das erklärte Ziel der Parteigründungen war es, alternative Politik ins Parlament zu tragen und außerinstitutionellen, transformatorischen Bewegungen ein Sprachrohr zu verleihen. Dreißig Jahre nach dem Entstehen dieser neuen Formationen müssen wir jedoch konstatieren, dass diese Anstrengungen zwar das Parteienspektrum erweiterten, keine gesellschaftliche Emanzipation in Gang gesetzt haben[3]. Die Stimmen der alternativen Parteien gleichen den Regierungsdiskursen heute überraschend, während gleichzeitig die sozialen Bewegungen, aus denen die neuen Parteien hervorgingen, aufgrund der parlamentarischen Repräsentation an Mobilisierungsfähigkeit eingebüßt haben. Ein schillerndes Beispiel hierfür ist die Positionierung der Grünen gegenüber der NATO-Intervention in Libyen 2011. Ähnlich wie schon im Kosovo-Krieg 1999 gehörten die – sich auf die Verteidigung von Menschenrechten berufenden – Grünen zu den aggressivsten Befürwortern der deutschen Kriegsbeteiligung. Während Konservative und Liberale für militärische Zurückhaltung plädierten, forderten die Mitte-Links-Parteien den Luftkrieg. Die pazifistische Bewegung, aus der die Grünen hervorgegangen waren, wurde in der Debatte hingegen kaum noch wahrgenommen, da die Präsenz der Grünen als scheinbare Repräsentanten der Bewegungen diesen den politischen Raum nahm.

Die Metamorphose der alternativen und grünen Parteien kann nicht verstanden werden, ohne die Assimilationskräfte der repräsentativen Demokratie zu berücksichtigen. Agnoli besteht darauf, dass hier ein eigenes Verhältnis zwischen Form und Inhalt existiert. Die Art, wie eine Forderung artikuliert wird, präge – so Agnoli – auch ihren Inhalt, weshalb die Parlamentarisierung alternativer Parteien auch ihren Charakter veränderte. „Da das Petitionsrecht eine, wenn man so will, uralte Sehnsucht der Abhängigen stillt, sich bei den Mächtigen Gehör zu verschaffen, kann es in seiner manipulativen Bedeutsamkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden: Ein noch so radikaler Protest gegen Willkür und Machtmissbrauch wird in eine Anerkennung der bestehenden Ordnung umgemünzt, wenn er sich in eine Petition umsetzen lässt.“ (Agnoli 1990: 75)

Das bedeutet, dass das demokratisch-repräsentative Feld – und mehr noch jenes von Staat und Regierung – von Herrschaftsverhältnissen gehegt und durchzogen ist. Auf den ersten Blick ermöglicht das bürgerlich-parlamentarische System Vermittlungs- und Konsensbildung. Tatsächlich jedoch sorgt es vor allem für Einbindungsprozesse, die die Entwicklung radikalerer Alternativen unterbinden. Die Geschichte der europäischen Sozialdemokratien im 20. Jahrhundert beweist, dass alternative Parteien selbst dann zur Assimilation tendieren, wenn sie über eine eigenständige Klassenbasis und ein entsprechendes politisches Programm verfügen.

Diese enorme Kooptationskraft des politischen Systems hat natürlich viel mit den Klientelstrukturen der Berufspolitik zu tun. Durch die Integration ins parlamentarische System werden die neuen Parteien Teil des staatlichen Apparats und jener eigenständigen sozialen Gruppe, die gemeinhin als „politische Klasse“ bezeichnet wird. Das heißt, die Funktionäre der alternativen Partei bilden ein eigenes materielles Interesse an der Beibehaltung des existierenden Repräsentationssystems aus. Da das repräsentative System auf den Prinzipien a) der Professionalisierung der Politik, b) der hohen Entlohnung der Repräsentationstätigkeit und c) des indirekten Mandats (das nur alle vier Jahre in Wahlen bestätigt werden muss) beruht, erwächst aus der Zugehörigkeit zur politisch-repräsentativen Spezialistengruppe auch eine eigene soziale Identität.

Meine These wäre deshalb, dass die auf Parlamentarismus und Regierungsteilhabe beruhenden Strategien viel weniger zur gesellschaftlichen Emanzipation – die es zweifellos gegeben hat[4] – beigetragen haben, als gemeinhin angenommen. Das, was es an sozialen Fortschritt in Europa in der Zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben hat, geht in erster Linie auf das Konto sozialer Mobilisierung und verschobener gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse – und eben nicht von Regierungswechseln. Das kann man auch daran ersehen, dass progressive Reformen im Sozial- oder Bildungsbereich ebenso wie später der neoliberale Angriff auf den Wohlfahrtsstaat sowohl von Links- als auch von Rechtsregierungen „gestaltet“ wurden. Die Zusammensetzung der jeweiligen Regierungen spielte eine völlig untergeordnete Rolle.

Doch auch wenn die parlamentarischen Reformstrategien seit den 1970er Jahren nur bescheidene oder gar keine Erfolge vorzuweisen haben, kann man nicht ignorieren, dass auch die andere große Emanzipationsstrategie des 20. Jahrhunderts gescheitert ist – und in vieler Hinsicht sogar noch dramatischer. Der Leninismus, der der Neuen Linken, Kommunistischen Parteien und Befreiungsbewegungen des Südens gleichermaßen als theoretisches Fundament diente, hält die Machtübernahme im Staat für den Schlüsselmoment jedes Emanzipationsprojekts. Die Geschichte des Sozialismus im 20. Jahrhundert beweist jedoch, dass auch wenn die Übernahme der Staatsmacht eine Gesellschaft transformieren kann, sie abgesehen von kurzen Phasen revolutionärer Selbstermächtigung kaum zu einer sozialen und politischen Emanzipation führt.

Der portugiesische Theoretiker De Sousa Santos (2010c: 170) hat die liberal-bürgerlichen Staaten recht zutreffend als „Demokratien geringer Intensität“ bezeichnet, in denen „Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel despotischer (ökonomischer, sozialer, ethnischer, sexueller, religiöser) Verhältnisse“ angeordnet sind, „die das Leben der Bürger und Gemeinschaften effektiv kontrollieren“. Wir müssen allerdings zugeben, dass der Staatssozialismus nicht einmal über diese demokratischen „Inseln“ verfügte. Die Strategie der revolutionären Machtübernahme brachte nicht einmal „Demokratien geringer Intensität“ hervor; im Realsozialismus war alles Partei- und Staatsmacht.

Das ist nicht besonders überraschend. Dass das Marxsche Versprechen der allmählichen Aufhebung des Staates nach der Überwindung des Kapitalismus nicht so einfach Wirklichkeit werden würde, hätte man früher ahnen können. Mit Max Weber (2005) oder Robert Michels hätte man beispielsweise über die Reproduktion bürokratischer Apparate nachdenken können. Tatsächlich war das historische Entstehen des Staates maßgeblich durch die Herausbildung von Bürokratien geprägt, die sich mittels Spezialisierungsstrategien als eigenständige soziale Gruppe behaupteten (vgl. Gerstenberger 2006). Diese an der Aufrechterhaltung ihrer Macht und ihrer ökonomischen Teilhabe interessierten Gruppen werden – um ihr Überleben als spezifische Gruppe zu sichern – stets versuchen, existierende Strukturen zu reproduzieren. Man könnte in diesem Sinne behaupten, dass die stete Reproduktion bürokratischer Machtstrukturen durch eine spezifische Verbindung von soziologischer Trägheit und Dynamik sprechen, die die Erneuerung von Machtstrukturen ermöglicht wird.

Aus diesem Grund hat auch der sozialistische Staat – anstatt zu verschwinden – sich zu perpetuieren gesucht. Das Ergebnis war die Stärkung einer führenden politischen Gruppe und einer Staatsbürokratie, die immer mehr wie eine Proto-Klasse handelt. Auch wenn die sozialistischen Führungsgruppen keine Eigentümer der Produktionsmittel waren, verfügten sie doch über soziale und materielle Privilegien sowie eine faktische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, wodurch die Ausübung einer realen Demokratie unmöglich gemacht wurde.

Wir stehen in dieser Hinsicht vor einem Dilemma: Es scheint aufgrund der zugrunde liegenden sozioökonomischen Machtstrukturen unmöglich zu sein, den bürgerlichen Staat alternativ zu regieren. Dort, wo Arbeiter- oder Umweltparteien den bürgerlichen Staat transformieren wollten, ist es zu einer Transformation der Veränderer gekommen. Dort hingegen, wo der reale Staat durch einen revolutionären ersetzt wurde, entstanden neue Herrschaftsbeziehungen, die aufgrund der instabilen Machtverhältnisse eher noch autoritärer ausfielen als die im kapitalistischen Staat.

Was bleibt? Der Anarchismus hat stets die Forderung bekräftigt, es gelte, den Staat zu zerschlagen. Wenn man die neoliberale Wirklichkeit betrachtet, ist das aber auch kein besonders attraktives Projekt. Der Abbau der Staatsmacht, wie ihn die großen multinationalen Kapitale seit den 1970er Jahren befürworten, beweist, dass der Staat in einer bürgerlichen Gesellschaft, auch wenn er Machtverhältnisse verdichtet, weder die einzige noch die wichtigste Machtinstanz darstellt. Anders als der Anarchismus suggeriert, reproduziert und überträgt der liberal-bürgerliche Staat Herrschafts- und Klassenverhältnisse nicht nur, sondern er beschränkt sie auch. Daher geht die Schwächung des Staates, oder richtiger: seine Verwandlung in einen Wettbewerbsstaat (vgl. Hirsch 1998), mit dem Verlust von sozialen Errungenschaften und dem Abbau demokratischer Interventionsräume einher.

Aus diesem Grund ist in den vergangenen Jahren – in offenem Widerspruch zu den Prognosen der frühen Globalisierungstheorien (vgl. Bauman 1999, Castells 2001 und 2002, Beck 2004) – eine Renaissance des Nationalstaats in Lateinamerika zu beobachten gewesen. Die Links und Mitte-Links-Regierungen auf dem Subkontinent sind von der These ausgegangen, dass der Nationalstaat trotz der Globalisierung nach wie vor über erhebliche Gestaltungs- und Transformationsspielräume verfügt. Tatsächlich haben Venezuela, Bolivien und – in geringerem Maß – auch Ecuador ihre Steuer- und Einnahmepolitik maßgeblich verändert und sich auf diese Weise Mittel für die Finanzierung von Gesundheits-, Bildungs- und Erziehungsprogrammen erkämpft. Abgesehen von dieser „Demokratisierung der Erdölrente“ (Lander 2007) (bzw. – im bolivianischen Fall – der Erdgaseinnahmen (vgl. Moldiz 2007, Weisbrot et al. 2011)) hat man in Venezuela zudem versucht, den Finanzmärkten Grenzen zu setzen und der Volatilität des spekulativen Kapitals durch Devisenkontrollen einen Riegel vorzuschieben. Patricia Chávez und Pablo Ospina legen in diesem Buch dar, dass von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder einem „Staat der sozialen Bewegungen“ keine Rede sein kann und die Veränderungen seit den Regierungswechseln in Bolivien und Ecuador sogar eher stagnieren. Trotzdem zeigen die südamerikanischen Erfahrungen auch, dass der Staat, in Anbetracht der Dispersion der Lohnabhängigen, als Instrument zur Umverteilung von Reichtum und ökonomischer Teilhabe weiter zentrale Bedeutung besitzt.

Diese Renaissance des Staates von links steht im Widerspruch zu jüngeren theoretischen Beiträgen aus der eher antiautoritären Linken. Nach der zapatistischen Revolte in Chiapas ist dort viel über Alternativen zum Staat debattiert worden. Holloway (2005) propagierte beispielsweise in „Die Welt verändern, ohne die Macht zu ergreifen“ das Konzept der „Anti-Macht“. Dieser Perspektivwechsel schien sich in der zapatistischen Praxis zu materialisieren, die sich den Aufbau einer lokalen Selbstregierung aufständischer Gebiete zum Ziel setzte. Schon 1994 hatte der Zapatismus, nicht zuletzt als Eingeständnis seiner Schwäche gegenüber dem Staat, auf eine Strategie Machtübernahme verzichtet und das klassische Revolutionskonzept durch eine Politik ersetzt, in der die herrschende Macht durch selbstregierte Räume von unten verdrängt werden soll. Der uruguayische Raúl Zibechi hat das – wie Múnera ebenfalls in diesem Buch skizziert – am Beispiel der bolivianischen Aufstände 2003 neu theoretisiert und plädiert für die ‚Form Gemeinschaft‘ als strategischer Inhalt und Grundlage revolutionärer Projekte.

Doch auch wenn Manches an Holloways oder Zibechis Argumentation richtig ist, kann man zwanzig Jahre nach Beginn der zapatistischen Rebellion nicht länger ignorieren, dass lokale Selbstorganisation problemlos in eine mit dem Neoliberalismus kompatible Selbstverwaltung der Armut münden kann. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass die kolumbianische Rechtsregierung unter Álvaro Uribe (2002-2010) einen auf der dezentralen Verwaltung von Ressourcen beruhenden „kommunitären Staat“ propagiert hat.

Es gilt deshalb, die Anstrengungen der progressiven Regierungen Lateinamerikas, sich eine Transformation der gesamten Gesellschaft und des ganzen Landes zum Ziel zu setzen, bei aller Kritik zu würdigen. Das Dilemma wird dadurch noch unübersichtlicher: Auf der einen Seite werden die alternativen Bemühungen der Linksregierungen in Venezuela und Bolivien durch die dem Staatsapparat eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse – sowohl die übernommenen als auch die von der Linken neu geschaffenen[5] – kontinuierlich neutralisiert und konterkariert. Gleichzeitig verweist die ungewollte Komplementarität lokaler Selbstverwaltung mit den neoliberalen Subsidiaritätsdiskursen darauf, dass Emanzipation offensichtlich auch nicht ohne Staatlichkeit möglich ist.

Es scheint, als gäbe es keinen Ausweg für emanzipatorische Politik. Staaten sind Herrschaftseinrichtungen und stehen daher einer realen Demokratisierung der Gesellschaft entgegen. Eine Strategie, die sich auf nicht-institutionelle Praktiken beschränkt, verbleibt aber im Lokalen und lässt die sozioökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse unberührt.

In diesem Zusammenhang scheint es mir hilfreich, an zwei theoretische Beiträge der 1970er Jahre zu erinnern: die Reflexionen Nicos Poulantzas (1978), der den bürgerlichen Staat als Verdichtung von Machtverhältnissen und sozialen Konflikten interpretierte, und die von Deleuze / Guattari (1977 und 1992) angestellten Überlegungen zu Konstellation, Kontingenz und Gefüge (agencement), die ein eher kartografisches Verständnis der Politik nahelegen.

Der griechisch-französische Marxist und Neo-Gramscianer Nicos Poulantzas – dessen im marxistischen Wahrheitsdiskurs gefangener Stil auf seltsame Weise mit überraschend elastischen Überlegungen zur Staatlichkeit verschränkt ist – setzt sich in „Staat, Macht und Sozialismus“ zunächst von den Staatsvorstellungen der Linken ab. Er bekräftigt, dass der Staat von der Linken immer als Objekt betrachtet wurde, was zwei entgegengesetzte Interpretationen nach sich zog: Während er für die einen ausschließlich ein Instrument der herrschenden Klassen und somit eine homogene, konterrevolutionäre Einheit darstellt, hoffte die eher reformistische Linke auf eine Neutralität der Staatsmacht, also auf die Möglichkeit, sich des Staates zu alternativen Zwecken bedienen zu können.

Poulantzas hat, wie sich mittlerweile herumgesprochen haben dürfte, ein komplexeres Staatsverständnis vorgeschlagen. Ihm zufolge ist der Staat 1) eine Verdichtung sozialer Konflikte und Klassenbeziehungen, 2) eine spezifische und zeitlich begrenzte Festschreibung von Kräfteverhältnissen und 3) ein Terrain, auf dem um gesellschaftliche Hegemonie gerungen wird. Der bürgerliche Staat ist demzufolge nicht neutral und untersteht auch nicht dem demokratischen Volkswillen. Er hat die Funktion, sozioökonomische Machtverhältnisse gegen grundlegende Veränderungen abzusichern. Die Spaltung der Gesellschaft ist ihm derart eingeschrieben, dass er kontinuierlich an der Hegemoniebildung der Herrschenden mitwirkt.

Diese Funktion muss jedoch kontinuierlich neu entwickelt werden. Selbst die autoritärste und neoliberalste Regierung muss deshalb Anstrengungen unternehmen, die subalternen Gruppen zu integrieren, was nach Poulantzas (1978: 60) immer auch materielle Konzessionen impliziert. „Die Beziehung der Massen zur Macht besitzt in dem, was man insbesondere als Konsens bezeichnet, stets ein materielles Substrat“. Das heißt, Hegemonie wird nie nur von oben geschaffen, sondern konfliktiv von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren produziert – diese Perspektive verbindet Poulantzas im Übrigen mit Foucault, der etwa zur gleichen Zeit die Frage der Produktivität der Macht thematisierte (vgl. Jessop 2005).

Hieraus leitet sich eine zunächst widersprüchlich erscheinende Schlussfolgerung ab: Eine emanzipatorische Bewegung hat innerhalb der Institutionen nicht viel zu gewinnen; trotzdem handeln antiinstitutionelle Bewegungen – selbst wenn sie sich das Gegenteil zum Ziel setzen – zwangsläufig auf staatlichem Terrain und schreiben die institutionelle Form deshalb kontinuierlich um. Wie Múnera (vgl. in diesem Buch) in Anlehnung an Negri / Cocco vorschlägt, müsste es deshalb darum gehen, ein strategisches Verständnis für ein antagonistisches und doch konstruierendes Verhältnis gegenüber dem Staat zu entwickeln. In Europa fallen in diesem Zusammenhang häufig die Begriffe „radikaler“ oder „revolutionärer Reformismus“. Doch Negris / Coccos „gesellschaftliche Governance“ (wie Leopoldo Múnera in diesem Buch anmerkt) geht möglicherweise darüber hinaus – der Begriff verweist darauf, dass es sich nicht um einen staatlichen oder administrativen Prozess, sondern um eine Umgestaltung aus der Gesellschaft heraus handelt. Nicht die Regierungen ‚reformieren‘, sondern die soziale Mobilisierung.

Dabei ist Mobilisierung allerdings nicht einfach mit Massendemonstrationen zu verwechseln. Proteste – auch gewalttätige[6] – können von den herrschenden Verhältnissen problemlos absorbiert bzw. ignoriert werden. Die Bewegung 15M hat in Spanien Millionen auf die Straße gebracht, ohne dass das zur Rücknahme auch nur einer einzigen Sparmaßnahme geführt hätte. Eine gesellschaftliche Mobilisierung, die Kräfteverhältnisse verschieben will, muss die systemische Fähigkeit unterbrechen, Regierbarkeit zu produzieren. Sie muss herrschaftliche Hegung und Konsens durch überraschende Interventionen unterlaufen.

Damit bin ich bei einem zweiten theoretischen Beitrag, den ich für das Problem für produktiv halte und der in der politischen Linken deutlich weniger bekannt ist. Gilles Deleuze und Félix Guattari widersetzen sich in „Rhizom“ (1977) und „Tausend Plateaus“ (1992) dem dualen Denken der hegelianisch-marxistischen Linken. Sie behaupten, dass sich Geschichte nicht aus Widersprüchen herleiten lässt[7], sondern mit Differenz, Kontingenz und „Fluchtlinien“ erklärt werden muss. In diesem Zusammenhang entwickeln sie u.a. die Begriffe „Rhizom“ und „Gefüge“ (agencement; in manchen Übersetzungen auch ‚Verkettung‘), mit denen sie soziale Prozesse komplexer darstellbar machen wollen. Das „Rhizom“ (eine Bezeichnung von Wurzelgewächsen wie dem Ingwer) ist dabei als Alternative zur Baum-Metapher gedacht, die normalerweise das Denken von Geschichte und Wissenschaften strukturiert und dichotome Modelle mit klar definierten Evolutionslinien nahelegt. Das Rhizom hingegen wird als Netzstruktur verstanden, die auf Knoten und komplexen Verknüpfungen beruht und somit die Bilder genealogischer und evolutionärer Linearität unterläuft.

Das Gefüge wiederum ist ein Begriff, den Deleuze / Guattari in einer Schrift über Franz Kafka 1975 entwickelten, um ein Verhältnis von Heterogenität zu beschreiben, in dem ein Phänomen nicht unter ein anderes untergeordnet oder aus ihm abgeleitet werden kann. Auf diese Weise erhält die Beziehung von zwei (oder mehr) Ereignissen eine zusätzliche Ebene der Komplexität, die Raum für Kontingenz (anstelle von Ableitbarkeit) und gegenseitige Verschränkung eröffnet.

Meine These wäre nun, dass die Begriffe Deleuze / Guattaris es ermöglichen können, politische Prozesse offener und kartografischer zu denken. Betrachten wir etwa die Veränderungen in Venezuela (Zibechi hat in „Dispersar el Poder“ einen ähnlichen Versuch für Bolivien unternommen): Das Problem, die Entwicklung in dem südamerikanischen Land seit den 1980er Jahren zu verstehen, hat viel damit zu tun, dass das gängige politische Analysewerkzeug von klar definierten Akteuren ausgeht: Klassen (-widersprüche), Organisation / Parteien, Bewegungen, politische Führungspersonen. Das Irritierende am Beispiel Venezuela ist jedoch, dass der Prozess aus einer Verbindung inkompatibler Bestandteile hervorzugehen scheint und sich bei einer evolutionären Darstellung des Prozesses ständig Leerstellen auftun. Andrés Antillano hat das in seinem Aufsatz in diesem Buch skizziert: In Venezuela gibt es gesellschaftliche Mobilisierungen, aber keine sozialen Bewegungen oder bedeutenden Organisationen. Es gibt Ausbrüche der popularen Wut, die nicht im eigentlichen Sinne ‚spontan‘ sind, eine plebejische Macht, aber keine Arbeiterklasse, Unregierbarkeit, aber die Unterordnung unter einen Caudillo, der – ganz im Sinne Ernesto Laclaus – als „leerer Signifikant“ fungiert; und schließlich eine Selbstermächtigung subalterner Klassen, die mit tendenziell autoritären Sozialismus-und Antiimperialismuskonzepten einhergeht (für eine genauere Darstellung: Zelik 2006).

Der Chavismus lässt sich in diesem Sinne, so meine These, weder als politische Evolution noch als gegenhegemoniale „Machtakkumulation“ beschreiben. Es stimmt einfach nicht, dass die Linke im Verlauf der 1990er Jahren mächtiger geworden wäre oder dass Chávez den Prozess von langer Hand geplant und zu einer Kulmination geführt hätte. Am ehesten ähnelt der venezolanische Prozess einer gleichzeitig produktiven und problematischen Verkettung von widersprüchlichen Momenten. Subversive Praxen, sich eröffnende emanzipatorischen Möglichkeiten und neu segmentierenden Verfestigungen spielen darin gleichermaßen eine Rolle.

Entscheidend für den (relativen) Erfolg dieses Prozesses waren die überraschenden Übersprünge, durch die machttechnische Hegungen unterlaufen wurden. So war es ausgerechnet der ehemalige Contraguerilla-Offizier Chávez, der eine Artikulation der popularen Unregierbarkeit ermöglichte. Beim Putschversuch 2002 sorgte die kämpferische, aber nicht-militärische, die unorganisierte, aber auch nicht spontane Mobilisierung der Massen für eine Niederlage der Rechten. Die Unfähigkeit des Staates, ‚regulär‘ zu regieren, und die daraus folgende improvisierte Ko-Regierung mit Basisorganisationen (wie es sie anfangs bei den Sozialprogrammen gab) löste eine Organisierungswelle aus, die den politischen Prozess neu öffnete. Ohne diese überraschenden Verkettungen hätten die traditionellen Eliten die Kontrolle möglicherweise nicht verloren.

Mein Vorschlag wäre also, sich mit Deleuze / Guattari stärker auf die Produktivität von politischen Situationen zu konzentrieren. Es war – zumindest in Lateinamerika – nicht in erster Linie die gegenhegemoniale Macht, die radikale Veränderungen ermöglichte. Es waren Gefüge heterogener, subversiver Prozesse, durch die bestehende Segmentierungen (die wiederum Grundlage jeder Regierbarkeit sind) zersetzt wurden. Für eine klar definierte und verortete Gegenmacht stehen Herrschaftstechnologien zur Verfügung. Was die Verhältnisse in Venezuela und Bolivien in den 1990er und 2000er Jahren jedoch zum Tanzen brachte, waren die nicht-evolutionären Übersprünge und Mutationen der politischen Praxis: Militärs, die sich in Ermangelung eines bewaffneten Feindes dem politischen Establishment verweigerten und unerwartet die Seiten wechselten. Gescheiterte Stadtguerilleros, deren Agitationsarbeit erst dann plötzlich zu fruchten begann, als ihre Organisationen und Avantgarde-Ansprüche nicht mehr existierten. Oder im Fall Boliviens: Ehemalige Bergarbeiter, die als Koka-Bauern an klassisch gewerkschaftlichen Organisationsformen festhielten. Die kommunitären Netzwerke der Aymara-Indígenas, die gewachsene Sozialbeziehungen in der Stadt neu artikulierten. Gegenüber diesen Verbindungen waren die erprobten Herrschaftstechnologien plötzlich wirkungslos, die Diskurse von Ein- und Ausgrenzung funktionierten nicht mehr.

An diesem Punkt wird auch deutlich, warum ich einige Konzepte von Deleuze / Guattari für politisch produktiver halte als die gramscianischen Überlegungen zum Hegemoniebegriff, auf die ja auch Poulantzas zurückgreift. So wichtig Gramscis Denken ist, um die Beweglichkeit politischer Prozesse zu beschreiben, so bleibt es doch im evolutionären, dichotomischen Muster der Zweiten und Dritten Internationale gefangen. Für Gramsci ist die beständige Arbeit an der Gegenhegemonie weiterhin auf einer Entwicklungslinie angesiedelt und Teil einer großen dichotomischen Konfrontation – nicht zufällig wählt er die Kriegsmetaphern „Stellungs“- und „Bewegungskrieg“, um seine Thesen zu veranschaulichen.[8]

Emanzipatorische Prozesse beruhen aber wesentlich auf Momenten der Unterbrechung und Überraschung, in denen sich Räume für das Unerwartete, Noch-Nicht-Gedachte, Neue öffnen. Der Begriffsapparat von Deleuze / Guattari mit seiner nomadischen Manie zielt genau hierauf auf. Er erlaubt es, in ungeordneten Konstellationen zu denken und den irritierenden Auswegen nachzuspüren. In Anbetracht einer viel zu oft nach Auto-Affirmation und Identität lechzenden Linken könnte das ein interessantes Antidot gegen theoretische Verfestigungen sein.

Schlussfolgerungen

Autoren wie Arrighi (2010), Harvey (2010), de Sousa Santos (2010 b und c), Wright (2012) oder Hirsch (2005 und in diesem Buch) haben in den vergangenen Jahren immer wieder bekräftigt, dass die Revolutions- und Transformationsstrategien eines grundlegenden Perspektivwechsels bedürfen. Der Staat kann nicht länger im Zentrum des Projekts stehen. Auch wenn sich Befreiung notwendiger Weise auch im und durch den Staat materialisiert, eröffnen die auf die Eroberung der Staatsmacht abzielenden Modelle doch keine echte Emanzipationsperspektive.

Es scheint, dass wir radikal zu der Marxschen These zurück müssen, wonach Emanzipation nur als Selbstbefreiung der Unterdrückten möglich ist. Regierung und Staatsapparate können in dieser Selbstbefreiung eine Rolle spielen, wenn sie eine „gesellschaftliche Governance“ begünstigen, also die Verschiebung von Machtverhältnissen durch gesellschaftliche Mobilisierung. Regierung und Staatsapparate bleiben dabei jedoch, da sie naheliegender Weise nicht Akteure einer Selbstbefreiung sein können, stets sekundär.

Das bedeutet auch, dass sich produktive Konstellationen unter unterschiedlichen Vorzeichen ergeben können. Gesellschaftliche Mobilisierung kann Staatlichkeit auch dann erfolgreich modifizieren, wenn eine Rechte regiert.

Offensichtlich scheint mir weiterhin, dass der Demokratie – im Sinne Wrights verstanden als Ermächtigung der Gesellschaft gegenüber Staat und Kapital – eine entscheidende Rolle in jedem Emanzipationsprojekt zukommen muss. Es gilt, Demokratie als gesellschaftlichen Aneignungsprozess zu verstehen und auszuweiten. Das entscheidende Kriterium, um eine politische Situation und emanzipatorische Praxis zu bewerten, ist, ob eine solche Demokratisierung und Aneignung vorangebracht werden oder nicht.

Raul Zelik

Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in "Andere mögliche Welten. Krise, Linksregierungen, populare Bewegungen. Eine lateinamerikanisch-europäische Debatte" (VSA: Verlag).

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Fußnoten

1- Führende Mitglieder der GAL-Todesschwadronen bestätigten diese Zusammenhänge im März 2012 in einer im französischen Canal Plus ausgestrahlten Reportage. Ihren Aussagen zufolge wurden die GAL von der Regierung Felipe González gegründet, ausgerüstet und angeleitet. Der damalige französische Innenminister Charles Pasqua bekundete in der Reportage zudem, man habe der spanischen Regierung 1987 zugesagt, alle verdächtigen Basken auszuliefern, wenn Madrid im Gegenzug für ein Ende der GAL sorge. Aus Madrider Sicht hatten die Todesschwadronen damit ihre Aufgabe erfüllt (vgl. Interview mit dem Filmemacher Bruno Fay „Dès l’été 1984 Paris comprend que Madrid est derrière des GAL“, Le Journal du Pays Basque 16.3.2012).

2- Diese Inkonsistenz der bürgerlichen Demokratie zeigt sich am Beispiel der Meinungsfreiheit besonders deutlich. Dieses für demokratische Gesellschaften konstituierende Recht hat für Angehörige der subalternen Klassen einen reinen formalen Charakter, da diese nicht über die nötigen Mittel verfügen, um sich Gehör zu verschaffen. Die wohlhabenden gesellschaftlichen Gruppen hingegen können dank ihrer Finanzmittel die Meinungsfreiheit auch real wahrnehmen und eine politische Entscheidungsbildung massiv beeinflussen. Daran wird deutlich, dass großer Kapitalbesitz – dessen Schutz zu den zentralen Aufgaben des bürgerlichen Staates gehört – der realen Entfaltung der Demokratie radikal widerspricht.

3 - Die Öffnung gegenüber alternativen Lebensentwürfen und ökologischen Fragen stellt zweifellos eine wichtige Veränderung der westeuropäischen Gesellschaften dar. Meine These wäre jedoch, dass die Etablierung der Grünen diesen – gesellschaftlich getragenen – Prozess reflektiert und nicht ausgelöst haben. Anders ausgedrückt: Die Grünen existieren, weil eine gesellschaftliche Wende stattfand, nicht umgekehrt.

4- Es ist in dem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, dass die Veränderungen seit ’68 nicht nur emanzipatorischen Charakter haben – allerdings in ganz anderem Sinne als die Jan-Fleischhauer-Rechte das unterstellt. Tatsächlich hat 1968 aktiv zur Verflüssigung der Gesellschaft beigetragen und damit ungewollt auch neoliberalen Konzepten das Feld bereitet. Der Zersetzung autoritärer Muster oder die Zurückdrängung der Homophobie stehen die Ausbreitung von ich-unternehmerischen Selbstausbeutungsformen und größere soziale Unsicherheiten gegenüber.

5 - Es ist nicht sehr hilfreich, wenn Anhänger der Linksregierungen die Spannungen und Widersprüche in Venezuela und Bolivien mit dem Verhalten „alter Eliten“ im Staat oder dem „Verrat“ von Revolutionären zu erklären versuchen. Das Problem kann auch nicht einfach auf eine „endogene Rechte“ reduziert werden, die sich, wie in Venezuela oft behauptet wird, in den revolutionären Prozess eingeschlichen haben soll. Die entscheidende Frage müsste lauten, warum sich Herrschaftsmuster auch in ‚progressiven‘ Staats- und Regierungsstrukturen reproduzieren.

6 - Das französische Autorenkollektiv Tikkun vertritt die These, dass in Anbetracht der enormen Assimilationskraft der Gesellschaft nur der Bürgerkrieg einen Ausweg aufzeige. Der Blick nach Kolumbien zeigt, dass nichts falscher ist als das. Die FARC unterbrechen die Herrschaftsverhältnisse nicht mehr, sondern affirmieren die autoritäre Legitimation der Eliten und die Militarisierung des sozialen Konflikts. Das Beispiel, dass auch eine antagonistische Politik gehegt und in Machtverhältnisse integriert sein kann.

7 - Bekräftigen ließe sich diese These am Beispiel des Staates: Die politischen und bürokratischen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft sind nicht in erster Linie als Ergebnis von Klassenkämpfen entstanden – auch wenn die Existenz des Staates mit diesen zu tun hat –, sondern aus Kontingenzen, d.h. aus der Überlagerung von sozialen Kräften und produktiven historischen Verbindungen.

8 - Gramsci entwickelt seine Hegemonietheorie als Antwort auf die Niederlage der westeuropäischen Arbeiterbewegung 1918-20. Er kommt zu dem Schluss, dass die bürgerliche Gesellschaft Westeuropas komplexere Machtstrukturen besitzt als das feudale Russland. Daraus folgert er, dass moderne Macht nicht in erster Linie als Gewaltherrschaft, sondern als ein Prozess konstanter Hegemoniebildung zu verstehen ist. Die bürgerliche Gesellschaft wird in diesem Sinne von „Schützengräben“ durchzogen, die die bürgerliche Herrschaft absichern. Die Revolutionsstrategie Lenins, die Gramsci als „Bewegungskrieg“ bezeichnet, müsse demzufolge in Westeuropa durch einen langfristig angelegten gegenhegemonialen Prozess, d.i. einen „Stellungskrieg“, ersetzt werden.

 

 

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien