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(veröffentlicht in: Zitty Dezember 2006)

Weihnachten in Berlin ist Scheiße. Egal wie sehr man sich zuvor über den konsumistischen Familienterror echauffiert hat, sehnt man sich am Heiligabend, spätestens wenn es auf der Straße gegen 17 Uhr allmählich leiser wird, dann doch nach Geselligkeit. Vom Freundeskreis ist in solchen Momenten in der Regel wenig zu erwarten. Der befindet sich bei Mutti (und welcher Berliner hatte seine Mutti schon in Berlin?), überbrückt die beschaulichen Stunden im Kino („4 Filme plus so-viel-essen-wie-Sie-wollen für 20 Euro“) oder bleibt seiner Rolle als Prekariat treu.
In meinem Freundeskreis war in den vergangenen Jahren vor allem letzteres der Fall: Die Daheimgebliebenen jobbten. Besonders beliebt beim nicht-abgehängten, nicht-digitalbohemen Praktikariat war dabei die Weihnachtsmann- und Engelsbörse des Berliner Studentenwerks. Wenn die kleinen Gören wüssten, wie es um den Rauschebart und seine Begleitung tatsächlich bestellt ist!
Die finanziell notleidende studentische Bevölkerung trägt sich zunächst recht unbürokratisch unter (http://www.studentenwerk-berlin.de/jobs/weihnachtsmann) als Arbeitswillige ein und muss sich dann im Anschluss selbständig um das passende Kostüm kümmern, welches die Arbeitsvermittlung auf einer „Vollversammlung der Weihnachtsmänner und Engel“ noch einmal gewissenhaft prüft. Nach einer zweistündigen Schulung, in der die alte Hasen die neuen WM’s / E’s in die Geheimnisse der Kinderbescherung einweihen, wird schließlich auch die Kundenliste ausgehändigt. Nun beginnt der komplizierteste Teil des Weihnachtsmanns- / Engelsdaseins: Ein detaillierter Ablaufplan muss erstellt werden. Die Termine bei den Familien wollen aufeinander abgestimmt, Fahrtrouten zwischen den Arbeitsstätten kalkuliert, Sonderwünsche der betreffenden Familien notiert und ins Repertoire eingearbeitet werden. Eine Probedurchlauf im Freundeskreis ist ebenfalls zu empfehlen.
Die Auftritte als Weihnachtsmänner hingegen gelten meist als interessant. Das nicht-abgehängte, studentische Praktikariat macht sich ein Bild davon, wie es ansonsten in den Berliner Unterschichten so aussieht – was natürlich für Sozialwissenschaftler besonders aufschlussreich ist. Für mich, der ich solche Jobs nie machen musste, weil ich tendenziell eher zum bohemen, begrenzt-digitalen Stipendariat gehöre, bestand der schönste Moment des Berliner Heiligabend denn auch immer darin, dass die Freunde und Freundinnen nach getaner Arbeit von zerrütteten Familien, rüpelhaften Halbwüchsigen und Wohnzimmereinrichtungen im so genannten „Gelsenkirchener Barock“ berichteten und wir im Anschluss daran – bei etwas Schönem zu essen – über die Situation der ganz und gar undigitalen Arbeiterklasse diskutierten. Und für einen Augenblick war dann auch die ganze Weihnachtsmelancholie wie weggeblasen.

Raul Zelik
veröffentlichte zuletzt den Roman „Berliner Verhältnisse“, der zur Zeit im Maxim-Gorki-Theater gespielt wird.. Im Frühjahr 2007 erscheint sein neuer Roman „Der bewaffnete Freund“ (beide im Blumenbar-Verlag).

 

 

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