Der Staat, das unbekannte Wesen

Oder warum ein wenig Staatstheorie der linken Debatte gut tun würde

Sammelbesprechung: Wochenzeitung Freitag April 2007

Dass die Linkspartei, noch nicht gegründet, sich bereits nach „Verantwortung“ sehnt, ist kaum zu übersehen. In Berlin beschafft sie auch weiterhin Legitimation für jene Umverteilung, die der CDU-Senat politisch nicht mehr durchsetzen konnte, in Thüringen sendet sie vorausschauend schon jetzt Signale an die SPD, und selbst im Westen, wo sie mit der Fünfprozenthürde zu kämpfen hat, sind Leute wie Klaus Ernst um ein staatstragendes, potenziell regierungsfähiges Bild bemüht.
Es scheint, als wachse mit WASG und PDS zumindest in einer Hinsicht tatsächlich zusammen, was zusammengehört: Sowohl die von der SPD vergrätzten Gewerkschaftsfunktionäre als auch DDR-sozialisierte Ex-Kommunisten sind der Meinung, dass Veränderung in erster Linie ein Regierungsprojekt ist. Unter Wandel verstehen sie Wohlfahrtspolitik, Arbeitsbeschaffungsprogramme und eine steuerpolitische Wende.
Das Problem an dieser Staatszentriertheit (die sich mit einer ziemlich penetranten Arbeitsideologie paart) ist nicht etwa, dass sie altmodisch wäre. Neu bzw. alt sind keine politischen Kriterien. Das Problem besteht vielmehr darin, dass man sich hier am Staat orientiert, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Staatlichkeit eigentlich auszeichnet. Denn immerhin das müsste in der politischen Praxis jeder/m Linken doch täglich klar werden: Der real existierende bürgerliche Staat repräsentiert eben keineswegs das in freier, demokratischer Meinungsbildung ermittelte Allgemeinwohl. Auch wenn an den Universitäten das Gegenteil behauptet wird, war und ist er eine Herrschaftseinrichtung. Er ist Bestandteil jenes gesellschaftlichen Verhältnisses, das immer wieder von neuem Ungleichheit und Ausbeutung herstellt und reguliert.

Was aber ist dann der Staat? Zunächst muss man wohl festhalten, dass er auf absehbare Zeit nicht verschwinden wird, wie in der Globalisierungsdebatte zeitweise etwas hyperventiliert erörtert wurde. Die suprastaatlichen Machtstrukturen, die Michael Hardt und Toni Negri als Gerüst eines sich konstituierenden Empires ausmachten, haben in den vergangen Jahren eher wieder an Bedeutung verloren. Die USA haben den Weg des Unilateralismus eingeschlagen, die Schaffung von internationalen Rechts- und Sanktionssystemen stockt, Nationalstaatlichkeit bleibt eine zentrale Kategorie in der globalen Ordnung. So vereinbaren Unternehmensführungen mit nationalstaatlich orientierten Gewerkschaften Stellenstreichungen in Brüssel, um das heimische Wolfsburg zu „schützen“. Und den Außenminister begleiten hochrangige Konzerndelegationen, wenn es auf Auslandsreisen um Ölvorkommen oder Absatzmärkte geht. Die ‚Heuschrecken’ tragen Landestracht und haben festen Wohnsitz.
Doch auch in anderer, vielleicht sympathischerer Hinsicht erweist sich der als Nationalstaat als hochaktuell: Ausgerechnet in Lateinamerika, wo politische Spielräume durch den IWF und die Außenpolitik der USA besonders eingeschränkt schienen, haben Reformregierungen bemerkenswerte Veränderungen eingeleitet. Die argentinische Regierung hat den Schuldendienst gegenüber Privatgläubigern eingestellt, dadurch Wirtschaftswachstum ausgelöst und den Verelendungsprozess gestoppt. Einer alternativen Entwicklung eröffnen sich neue Möglichkeiten – auch deshalb weil die Regierung Venezuelas die argentinischen IWF-Schulden übernommen hat und die internationalen Währungshüter kein Machtinstrument mehr an der Hand haben.
Lateinamerika zeigt aber auch, welcher Preis gezahlt werden muss, um solche Spielräume zu erobern. In Argentinien war es ein Volksaufstand, der zur Regierung Kirchner führte, in Venezuela wurden die (keineswegs radikalen) Sozialreformen in den letzten Jahren von quasi-revolutionären Klassenkämpfen und mehreren Putschversuchen begleitet.

Wie lässt sich jedoch erklären, dass der bürgerliche Staat einerseits eine Herrschaftseinrichtung sein soll, gleichzeitig aber offensichtlich auch Handlungsräume für alternative Politik eröffnet? Linke Hegemonie- und Staatstheoretiker haben sich – von Antonio Gramsci, über Louis Althusser und Nicos Poulantzas bis hin zu den französischen Regulationstheoretikern – immer wieder darüber den Kopf zerbrochen. Es gibt niemanden, der diese Debatten so gut zusammengefasst hat wie Joachim Hirsch.
Seine bereits 2005 erschienene „Materialistische Staatstheorie“ kann als Grundlagenwerk gelten, dessen Lektüre eine Menge Verwirrung ausräumen könnte. Hirsch greift auf die Arbeiten des französisch-griechischen Marxisten Nicos Poulantzas zurück, der den Staat in den 1970er Jahren als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ beschrieben hatte. Poulantzas zufolge ist der Staat weder „instrumentaler Verwalter einer Machtessenz“ (also im vulgärmarxistischen Sinne ein bürokratischer Apparat im Dienste des Kapitals) noch ein neutrales politisches Subjekt, das „über genauso viel Macht verfügt, wie sie den Klassen gewaltsam wegnimmt“. Der bürgerliche Staat stellt eine gesonderte Gewalt dar, die Bestandteil des kapitalistischen Akkumulationsprozess ist und doch keiner gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse untersteht.
Hirsch zeichnet auf – für ein gerade mal 250 Seiten dickes Buch überraschend – umfassende Weise nach, wie diese eigenartige Beziehung zwischen Ökonomie, politischen Konflikten und Institutionalität zu verstehen ist. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei wieder einmal den Bruchmomenten, mit denen er sich seit Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Die Krise des Fordismus (also einer auf Massenproduktion und -konsum fußenden Gesellschaft) und die Etablierung einer postfordistischen Regulationsweise kann als gut verständliches Beispiel für den Staat als Kräfteverhältnis gelten – und ist darüber hinaus auch deswegen interessant, weil sich viele staatsorientierte Linke nach konstituierenden Momenten des europäischen Fordismus (Vollbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat etc.) zurücksehnen.
Hirsch erinnert daran, dass auch der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ein Klassenstaat war: Dessen grundlegende Funktionen stellten den kapitalistischen Akkumulationsprozess sicher, die Einflussmöglichkeiten von Kapitalbesitzern blieben trotz gewisser Demokratisierungsmomente um ein Vielfaches größer als die von Lohn- oder Transferabhängigen. In dem Maße, indem man im Fordismus soziale Kämpfe (z.B. durch die institutionelle Einbindung der Gewerkschaften) abzuwehren versuchte, fand jedoch auch eine spezifische Einschreibung gesellschaftlicher Konfliktverhältnisse in den Staat statt. So gewährleisteten Institutionen und Gesetze größere Arbeitnehmerrechte. Dass durch die Sozialpolitik die Einkommen der Niedrigverdiener stiegen und damit der Massenkonsum angekurbelt wurde, fand – praktischerweise – seine Entsprechung in der fordistischen Produktionsweise. Die am Fließband massenhaft hergestellten Güter brauchten ja auch Käufer. Insofern haben sich im Fordismus soziale Konflikte, eine Produktionsweise (die „fordistische Fabrik“) und eine konkrete Form von Staatlichkeit kontingent miteinander verbunden.
Die Kräfteverhältnisse bleiben jedoch permanent umkämpft, gesellschaftliche Akteure ringen um Hegemonie. Wenn ein Gefüge in Folge von Auseinandersetzungen zerspringt, kann die Herausbildung von neuen, relativ stabilen Beziehungen lange Zeit in Anspruch nehmen. Die postfordistische Regulation etwa hat auch nach 20 Jahren Transformationsprozess in Deutschland immer noch kein eindeutiges Gesicht.
Hirsch beschreibt solche Dynamiken sehr anschaulich und setzt sich dabei ausführlich mit den aktuellen Veränderungen im Rahmen der Globalisierung auseinander. Er greift erneut auf den Begriff des „Wettbewerbsstaates“ zurück (mit dem er erklärt, wie Staaten miteinander um die Ansiedlung von Unternehmen konkurrieren, indem sie diesen möglichst optimale Standortfaktoren zu bieten versuchen) und skizziert dann, wie sich supranationale Regulation und Nationalstaatlichkeit miteinander kombinieren. Hervorzuheben ist schließlich auch, dass Hirsch handlungsorientiert schreibt. So fragt er nach den Spielräumen internationalisierter sozialer Kämpfe, um Kräfteverhältnisse wieder zu verschieben.

Dass Staatlichkeit, wie Poulantzas sagt, als strategisches Feld und Prozess diskutiert werden sollte, legt auch Heide Gerstenbergers neu aufgelegtes und überarbeitetes Monumentalwerk „Die subjektlose Gewalt“ (2006) nahe. Die Bremer Professorin zeichnet in dieser bereits 1974 begonnenen historischen Arbeit die Entstehungsgeschichte des modernen Staates nach. Dabei schenkt sie (ganz ähnlich wie Charles Tilly) dem Thema der Gewalt besondere Bedeutung. Sie fragt, warum Aneignung und Zwangsgewalt in der bürgerlichen Gesellschaft von der ökonomischen Herrschaft getrennt sind. Im Feudalismus nämlich war Aneignung ein unmittelbarer Bestandteil von Herrschaft, d.h. die ökonomischen Beziehungen zwischen Lehnsherr und Bauern fußten auf direkter Gewalt. In der bürgerlichen Gesellschaft entstand mit dem Staat eine gesonderte Instanz, die über die Beziehungen zwischen einzelnen Rechtssubjekten wacht. Personale Herrschaft wird auf diese Weise subjektlos, die Verhältnisse verrechtlichen sich, ohne dass dadurch Herrschaftsbeziehungen aufgehoben würden. Gerstenberger betont, dass diese Entwicklung keineswegs determiniert war. Die historische Herausbildung einer gesonderten Gewalt, die einen berechenbaren Handlungsrahmen für Wirtschaftskreisläufe schafft, war das relativ zufällige Ergebnis von Machtdynamiken, technisch-ökonomischen Entwicklungen und Krieg. Ein möglicher Erklärungsstrang könnte folgendermaßen lauten: Die Söldnertruppen, derer sich die Adelshäuser im Mittelalter bedienten, stellten für diese immer auch eine latente Gefahr dar. Zudem wurden die Militärapparate aufgrund technischer Entwicklungen immer kostspieliger. Die politischen Herrscher gingen in diesem Zusammenhang dazu über, eigene stehende Heere aufzubauen und ihre Steuererhebungen zu systematisieren. Dies wiederum trug zur Herausbildung einer verlässlichen Bürokratie mit bei. Die europäische Staatlichkeit ist in dieser Hinsicht ein kontingentes und doch zufälliges Ergebnis von Machtkämpfen, Ökonomisierungszwängen usw. Eine Erkenntnis von großer aktueller Relevanz – liefert sie doch eine Erklärung, warum Staatsbildung nicht einfach (im Zusammenhang von Krisenregionen wie Afghanistan immer wieder versucht) technisch eingeleitet und vollzogen werden kann.

Lesenswert ist schließlich auch der Sammelband „Poulantzas lesen“ (2006) von Bretthauer u.a. Sachkundig ordnen die Herausgeber Poulantzas Thesen in die aktuelle staatstheoretische Debatte ein und öffnen dann das Feld für die Erörterung spezifischer Fragen. Es geht um das Verhältnis Poulantzas’ zu Marxismus und französischem Strukturalismus, um die Verbindungslinien zu Foucault, die Bedeutung des Gesetzes, Poulantzas Beitrag zu einer Theorie des Raums und schließlich um politische Handlungsansätze. Im Band versammelt sind Beiträge von vielen Autoren, die in den vergangenen Jahren zum Themenkomplex Hegemonie, Staat und Emanzipationsbewegung geforscht haben: u.a. Bob Jessop, Alex Demirovic, Joachim Hirsch und Ulrich Brand.
In einer Hinsicht wird die Begeisterung für Poulantzas dem Projekt allerdings durchaus zum Problem. Die kryptische, extrem formalisierte Sprache Poulantzas’ ergreift auch von den meisten Aufsätzen Besitz. Das Problem mit dem Staatstheoretiker besteht nämlich darin, dass seine Begriffe zwar erhellend sind, die Lektüre seiner Texte jedoch ein ausgesprochen unerfreuliches Unterfangen darstellt. Poulantzas hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Staates geleistet, als er die Beweglichkeit und Umkämpftheit von Strukturen herausarbeitete. Als Marxismus-Exeget steht er sich jedoch oft selbst im Weg: Von der Beweglichkeit seines Ansatzes macht er durch Sprache und Argumentationsmethode viel wieder zunichte.

Abschließend kann man festhalten: Für linke Debatten wäre die Auseinandersetzung mit einigen staatstheoretischen Grundlagen sehr hilfreich. Man könne lernen, mit einer paradox erscheinenden Situation umzugehen: Der Staat ist zwar eine Herrschaftseinrichtung und insofern Gegner jeder grundlegenden Emanzipationsbewegung, gleichzeitig aber auch notwendigerweise ein Feld für Gegenbewegungen. Er organisiert herrschende Gruppen und damit jene Hegemonie, die es zu überwinden gilt, und ist doch zwangsläufig immer ein Raum, in dem die Konflikte ausgetragen werden. Das bedeutet nun allerdings keineswegs, dass man „in die Verantwortung“ müsste, um etwas zu bewegen. Gesellschaftliche Kämpfe schlagen sich nämlich immer im Staat nieder – völlig unabhängig davon, wer gerade die Regierung stellt. Die entscheidende politische Frage lautet deshalb nicht: Wer ist an der Macht? Sondern: Was mobilisiert eine gesellschaftliche Dynamik und verschiebt damit die Kräfteverhältnisse?

Raul Zelik

Joachim Hirsch: Materialistische Staatstheorie, VSA-Verlag 2005
Heide Gerstenberger: Die subjektlose Gewalt, Verlag Westfälisches Dampfboot 2005
Bretthauer / Gallas / Kannankulam / Stützle: Poulantzas lesen, VSA-Verlag 2006

 

 

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