Buchbesprechung aus Freitag (September 2009)

„2666“ eilte in den vergangenen Monaten der Ruf eines sensationell guten Buches voraus. Nachdem der mehr als 1000 Seiten starke Roman des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño 2008 den US-amerikanischen National Book Award erhalten hatte – eine Auszeichnung, die normalerweise nur englischsprachigen Originalen zuteil wird –, stürzten sich auch deutsche Medien auf dieses letzte Buch Bolaños, der 2003 im Alter von nur 50 Jahren an einer Leberzirrhose gestorben war. Feuilleton-Korrespondenten berichteten, der Roman sorge im englischsprachigen Raum für eine ans Hysterische grenzende Begeisterung. Kritiker wie Leserschaft seien gleichermaßen euphorisch.


Vor diesem Hintergrund gab es durchaus Anlass, dem Roman mit Skepsis zu begegnen. Nicht selten wird Geschmacks- und Massenkompatibilität mit Seichtheit erkauft. Doch tatsächlich sind bei „2666“ solche – vielleicht elitäre, vielleicht auch berechtigte – Abwehrreflexe unangebracht. Das Buch ist frei von tumben Zugeständnissen. Es ist eben kein „intellektueller Harry Potter“, wie es Bolaños US-Verleger Lorin Stein reichlich unpassend formuliert hat. „2666“ ist – man kann es eigentlich nur mit Phrasen ausdrücken – ein unfassbar guter Roman, ist wirklich atemberaubende Literatur. Derartiges hat man, hat zumindest der Autor dieser Zeilen, noch nicht gelesen.


Dabei setzt der Roman, der sich aus fünf voneinander unabhängigen, nur punktuell verknüpften Teilen zusammensetzt (Bolaño hatte im Nachlass angeordnet, die fünf Teile als eigenständige Bücher zu veröffentlichen), vergleichsweise behäbig an. Das erste Buch, das den Titel „Der Teil der Kritiker“ trägt, hat eines der ödesten Literatur-Sujets überhaupt zum Thema: die Literaturwissenschaft. Vier Kritiker – aus Turin, London, Paris und Madrid – finden über ihr gemeinsames Forschungsinteresse an dem Schriftsteller Benno von Archimboldi zusammen. Der deutsche Schriftsteller, der lange als Geheimtipp galt, auf seine alten Tage jedoch plötzlich als Nobelpreisanwärter gehandelt wird, ist verschollen. Die Wissenschaftler können also nur sein Werk umkreisen, begegnen sich in ihrer Sehnsucht, den Autor eines Tages doch noch persönlich befragen zu können, und entwickeln dabei ein seltsames Beziehungsgeflecht untereinander. Es entsteht eine unberechenbare ménage à quatre. Die drei männlichen Wissenschaftler und in ihre britische Kollegin verlieben sich ineinander – freundschaftlich als auch amourös.


Ein Beziehungsbuch, beginnt man zu vermuten. Doch darum geht es nicht. Einer ungewissen Spur Archimboldis folgend reisen die Akademiker ins nordmexikanische Santa Teresa, einer fiktiven Grenz- und Industriestadt, die leicht als Ciudad Juárez zu identifizieren ist. Dort treffen sie auf den chilenisch-spanischen Hochschullehrer Óscar Amalfitano, von dessen Geschichte das zweite Buch erzählt. Amalfitano, der lang in Spanien gelebt hat, wurde vor Jahren von seiner Frau mit dem gemeinsamen Kind sitzen gelassen und erzieht seither die mittlerweile 17jährige Tochter allein. Seine Geschichte ist die des Wahnsinns oder besser: einer Grenzwelt. Amalfitano leidet unter Schizophrenie und tut sich immer schwerer, den Faden zur Umwelt nicht gänzlich abreißen zu lassen.


Während man mit dem spanischen Chilenen noch in der Grauzone zwischen vermeintlichen Träumen und vermeintlicher Wirklichkeit wandelt, führt einen Bolaño unversehens ins dritte Buch, den „Teil von Fate“. Quincy Williams alias Oscar Fate ist afroamerikanischer Journalist und eigentlich auf politische Themen der Schwarzen-Bewegung spezialisiert. Seine Zeitschrift schickt ihn jedoch ins mexikanische Santa Teresa, um dort über einen Boxkampf zu berichten. Fate stellt bald fest, dass die Frauenmorde von Santa Teresa, die die Grenzstadt seit den frühen 1990er Jahre im Würgegriff halten, ein weitaus wichtigeres Thema wären. Die Identität der Täter bleibt – wie bei den realen Frauenmorden von Ciudad Juárez – im Verborgenen, die Mörder werden von einem Geflecht aus Politik, Polizei und Drogenmafia gedeckt. Fate begegnet Rosa, der 17jährigen Tochter Amalfitanos, und verliebt sich in sie. Auf einer kleinen Privatfeier dann verschränkt sich Fates Geschichte unheilvoll mit der Geschichte der Stadt: Rosas Freunde scheinen mit den Frauenmorden zu tun zu haben. Fate stellt Entschlossenheit unter Beweis, hält die Männer mit einer Waffe in Schach und flieht mit der jungen Rosa aus dem Haus, aus Santa Teresa, aus Mexiko.

Mit dem vierten Buch jedoch kehrt man als Leser über eben diese Grenze zurück. Über 340 Seiten lang wird von den ermordeten Frauen erzählt, die überwiegend in den Schwitzbuden der Exportindustrien arbeiten und zu Opfern eines entgrenzten, allgegenwärtigen und ebenso systematischen wie anonymen Sadismus werden, von Polizisten, die in den Fällen ermitteln oder zumindest zu ermitteln vorgeben, von einem deutschstämmigen Einwanderer, dem die Morde angehängt werden und einer selbstbewussten Politikerin, die aus Freundschaft eigene, am Ende folgenlos bleibende Ermittlungen über die Fälle anstellen lässt.


Das fünfte Buch endlich knüpft eine Verbindung zum Anfang des Romans. Davon zu sprechen, dass sich ein Kreis schließe, wäre übertrieben. „2666“ hat keine Geschichte – so wenig, wie der Titel einen nachvollziehbaren Sinn besitzt. Nein, „2666“ besteht aus unzähligen Geschichten, die sich aus Nebengeschichten innerhalb von Nebengeschichten entwickeln, teilweise Querverbindungen bilden, teilweise wie Pirouetten zur Vorgeschichte zurückführen oder einfach als lose Enden im Raum stehen. Nirgends wird dies so deutlich, wie im fünften Teil, der das Leben des preußischen Landarbeiterkindes Hans Reiter alias Benno von Archimboldi ausbreitet. In ihm stößt der spätere Schriftsteller, der als Wehrmachtssoldat an der Besetzung der Sowjetunion teilnimmt, in einem ukrainischen Bauernhaus auf die Aufzeichnungen des jüdischen Schriftstellers Ansky, die wiederum das Drama der russischen Revolution, die Rolle der literarischen Avantgarde und eine eigentümliche Science-Fiction-Geschichte erzählen.

Wer diese Zusammenfassung von „2666“ liest, könnte meinen, Bolaño habe nicht so Recht gewusst, wohin mit seinem Buch und seinen Geschichten. Interessanterweise hat man als Leser trotz der unzähligen Episoden, Fäden und losen Enden aber nie den Eindruck, den Überblick zu verlieren oder mit Belanglosem belästigt zu werden. „2666“ ist ein Feuerwerk der Erzählkunst, der Themen, der Stimmwechsel. In einem Parforceritt geht es durch die Weltliteratur. Ein paar Seiten glaubt man Döblin zu hören, der seinen Protagonisten ausnahmsweise nicht durch einen Asphaltdschungel, sondern durch ostelbische Landschaften irren lässt, dann plötzlich Bulgakow, Cortázar oder Bioy Casares, und landet schließlich wieder bei Bolaños nüchternem und doch bildreichem Stil, der einen immer die Nähe von Wahnsinn und Tod spüren lässt. Bolaño gelingt es dabei auf wundersame Weise, noch aus den Metaphern der Nebengeschichte einer Nebengeschichte eine eigene Erzählung zu machen.


Über den französischen Philosophen Gilles Deleuze wurde einmal behauptet, sein Denken werde eines Tages als „Philosophie des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet werden. Mit dem netzwerkartigen „Rhizom“ beschrieb Deleuze eine Denkfigur, die sich von gängigen linearen und evolutionären Konzepten der Entwicklung löst. Bei Bolaño wird Lesen zu einem rhizomatischen Vergnügen: „2666“ ist eine Verkettung assoziierter Erzählungen, bei der immer eine Story verfolgt wird, die sich ohne hierarchische Zuordnung in eine Gesamtgeschichte und auf jeder Ebene mit anderen Geschichten verknüpfen oder Knoten bilden kann.


Heraus kommt eine Form des Erzählens, die sprachlich ganz klar und doch in der Struktur berauschend ist. Für sich stehende Episoden ergeben in ihrer Gesamtheit ein Geflecht, eine Struktur, ein drei- und vielleicht sogar mehrdimensionales Gemälde. Die Frage ist belanglos, aber stellt sich unwillkürlich: Was hätte dieser Roberto Bolaño, der sich bereits als Schüler der surrealistischen Lyrik verschrieb, 1972 im Alter von 19 Jahren nach Chile ging, sich nach dem Pinochet-Putsch einige Zeit im revolutionär-literarischen Milieu in El Salvador bewegte und dann ab Ende der 1970er Jahre als Tellerwäscher und Nachtwächter in Spanien durchschlug, noch für eine Literatur erschaffen? „2666“ war ein Anschreiben gegen den drohenden Tod, dem Bolaño schließlich nicht entkam. Herausgekommen ist ein Roman, der das Konventionelle auf eindrucksvolle Weise zerbricht und doch massenhaft gelesen wird. Eine wahnsinnige Geschichte. Literatur wie aus der Zukunft.

Roberto Bolaño: „2666“, Roman (Hanser Verlag)

Raul Zelik

 

 

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