Raul Zelik

Buchmessen sind eigenartige Veranstaltungen. Unter Aufwendung größter finanzieller Mittel stellen sie unter Beweis, dass kulturelle Produktion im Kapitalismus trotz allen BildungsZivilisations-Blabla in erster Linie durch ihre Warenform bestimmt ist. In flughafenähnlichen Hallen werden Bilder, Geschichten und Personen so massenhaft und umfassend vermarktet, dass der Text an sich bedeutungslos, fast sogar hinderlich erscheint.

Die Buchmesse in Havanna ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme: Zwar findet auch hier Markt statt – schließlich wird wie anderswo gekauft und verkauft –, aber um den Warenabsatz geht es nur am Rande . Havannas Buchmesse ist kein Ereignis zur Steigerung von Sozialprodukt oder Unternehmensgewinnen, sondern ein Volksfest. Zehntausende strömen täglich über das Gelände auf der alten Militärfestung, die über der Bucht von Havanna thront und dem Atlantik die Stirn bietet. Schulklassen, Familien auf Wochenendausflug, hochrangige Militärs, jugendliche Rocker, die sich mit Charles-Manson-T-Shirts, Tätowierungen und einer lebenden Boa von der Staatskultur abzusetzen versuchen, Funktionäre, Rastas, Rentner. Die Buchmesse ist Stadtgespräch – ganz Havanna war schon da, ist gerade dort oder will noch hin. Dabei geht es auch um Bücher: Auf der Messe kommt man an Veröffentlichungen, die in den Buchhandlungen sonst nicht und schon gar nicht in einheimischen Pesos erhältlich sind. Doch mindestens ebenso wichtig ist das Unterhaltungsprogramm. Konzerte, Kinderspiele, Imbissbuden. Was in der Stadt sonst oft nur schwer zu finden ist, nämlich die nicht nur Devisenbesitzern zur Verfügung stehende gastronomische Infrastruktur, ist hier neun Tage lang überraschend gut organisiert.

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Havanna ist gewöhnungsbedürftig; selbst wenn man nicht das erste Mal hier ist. Eine Millionenstadt im Zwielicht: keine angestrahlten Werbeflächen, keine glitzernden Fassaden, nur sparsam eingesetzte orangefarbene Straßenbeleuchtung. Außerhalb der Hauptstadt, erzählt mir ein auf der Insel lebender Freund, breitet sich wirkliche Nacht aus, völlige Dunkelheit. Mir erscheint schon die für kubanische Verhältnisse großzügige Beleuchtung Havannas als Zeichen des Verfalls.

Dabei sind auf den Straßen spürbar mehr Fahrzeuge unterwegs als in den 1990er Jahren. Seit die Regierung Chávez Kuba mit Erdöl versorgt, hat sich die Lage spürbar entspannt. Entspannt: Die Straßen sind wieder voll mit stinkendem Individualverkehr. Der hier lebende Freund, der die Theorie vertritt, der spezifisch kubanische Beitrag zur Entwicklung des Sozialismus bestehe in der Umsetzung des von Marx’ kubanisch-französischem Schwiegersohn Paul Lafargue postulierten Rechts auf Faulheit, behauptet, Kuba sei zunächst jahrzehntelang von der Sowjetunion ausgehalten worden und werde heute von Venezuela finanziert. „Dazwischen lag der Periódo Especial.“

In der Altstadt stehen Jugendliche in großen Trauben vor verfallenen Fassaden und hören Songs der unsäglichen Shakira oder industriell gefertigten Reggaeton aus Puerto Rico. Entgegen allen Vorurteilen bekommt man in Havanna ziemlich oft schlechte Popmusik zu hören. Auch der Blick in die Hinterhöfe erweckt zunächst apokalyptische Assoziationen. Kein exotischer Charme des Ruinösen, wie das nächste gängige Klischee nahe legt, sondern graue, stickige Enge. Ich nehme Abwehrhaltung ein. Städtische Armut ist gewöhnlich mit Schmutz, Krankheit, Unsicherheit gleichbedeutend; die nächtliche Ansammlung von Jugendlichen in einer kaum beleuchteten Straße mit unmittelbarer Bedrohung.

Ein blödsinniger, vielleicht sogar sozialrassistischer Reflex. Selbst die ärmsten Teile Havannas sind nicht schmutzig, krank oder gewalttätig; die Jugendlichen, die hier rumstehen, sind Jugendliche, die hier rumstehen.

Die idiotischen Seiten Kubas werden dadurch nicht besser. Aber dass die Warenform nicht die zentrale ökonomische Figur in dieser Gesellschaft ist, hat denn doch in vieler Hinsicht große Bedeutung.

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Man tut sich als Ausländer auch deshalb in Havanna so schwer, weil hier die antrainierten Zeichensysteme versagen. Die Ruinen der Altstadt beherbergen überraschende Normalität. Während sich von der Straße aus der Zusammenbruch abzeichnet, hat man es sich in den Wohnungen im Inneren behaglich gemacht: das Bad gefliest, auf dem Dach ein Zimmer angebaut, neue Möbel gekauft. Woher die Materialien dafür kommen und vor allem woher die Leute das Geld dafür haben, kann oder will niemand so richtig erklären.

Der hier herrschende Zustand ist schwer zu beschreiben, vielleicht treffen es Begriffe wie ‚prekäre Grundsicherung’ oder ‚formal-informaler Armutswohlstand’. Zur Zeit werden in Kuba neue Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen an die Haushalte verteilt. „Das hat uns Fidel geschenkt“, erklärt mir eine junge Frau in dem Haus, in dem ich wohne. Mein Einwand, dass Konsumgüter verteilt werden, die sich die kubanische Bevölkerung kollektiv erarbeitet hat, und hier kein monarchistisches Geschenk vorliegt, wird nicht verstanden. Zu den idiotischen Seiten in diesem Land gehört beispielsweise, dass offensichtliche Fragen zwar gestellt, aber nicht diskutiert werden können.

Andererseits: Ein mit Neonlicht grell ausgeleuchteter Raum, in dem kaputte Gläser seit Jahren nicht ersetzt worden sind, morsche Fensterläden nicht schließen, die Farbe an den Wänden trübe abblättert, weist doch mehr Wohnkomfort auf als vergleichbare Wohnorte in anderen Teilen Lateinamerikas.

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Die Behauptung, dass in Havanna nicht alles Ware ist, muss wie alles, was man über die Insel sagt, Positives wie Negatives, sofort relativiert werden. Eine seltsame Doppelökonomie prägt das Land. Selbst auf der Buchmesse, immerhin die staatlich organisierte Unterhaltungsveranstaltung, ist das zu bemerken. Auch einheimische Buchproduktionen, für die es an Papier und verlässlichen Druckereien mangelt (das renommierte Verlagshaus Casa de las Américas lässt deshalb mittlerweile in Kolumbien drucken), sind an vielen Ständen nicht in kubanischen Pesos zu erwerben. Die konvertible Touristenwährung CUC ist unverzichtbares Zahlungsmittel. Wer ein illustriertes Kinderbuch – eindeutig der Renner dieser Buchmesse –, oder eine Dose kubanische Limonade kaufen will, wer mit dem Taxi fahren muss, weil die Busse überfüllt vorbeirauschen oder sich auf dem sozialen Ereignis Buchmesse mit neuen Schuhen sehen lassen will, muss an CUC kommen. Ohne diesen Zugang zur kapitalistischen Rest-Welt kann man im staatlich importierten chinesischen Reiskocher Kohlehydrate weich kochen, auf den einheimischen Agrarmärkten Gemüse kaufen, fernsehen, die illegale Kopie eines US-Films im Kino sehen, eine Schule besuchen, sich im Krankenhaus die ernsten Erkrankungen behandeln lassen... Alles Weitere findet im monetären Paralleluniversum statt. Eine absurde, manchmal auch grausame Doppelwelt: Der durchschnittliche Lohn liegt bei umgerechnet 8 Euro, das heißt: ein Bier - vier Tage durchschnittlicher einheimischer Arbeitslohn, eine Taxifahrt - zwei Wochen einheimischer Arbeitslohn, ein Paar Schuhe - ein halbes Jahr einheimischer Arbeitslohn. Selbst für die einfache Gesundheitsversorgung muss auf Kuba – informell – häufig gezahlt werden. Auch die Zahnärztin ist vom Zugang zur Welt des CUC abhängig und verschafft ihn sich durch informelle Zuzahlungen.

Die Behauptung von freundlich gesonnenen Kuba-Reisenden, es gebe doch wieder alles im Land, ist vor diesem Hintergrund einigermaßen zynisch. Wer in Havanna ausschließlich über Moneda Nacional verfügt, verhungert zwar nicht, am sozialen Leben teilnehmen allerdings kann er / sie auch nicht wirklich.

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Das Schattensystem, das die formale Ökonomie mit dem monetären Paralleluniversum verbindet, ist unüberschaubar. Ich trinke mit einer kolumbianischen Bekannten, einer Exilierten, die weiß, was sie dem kubanischen Staat zu verdanken hat, zwei Dosen Limonade – 15 Prozent eines monatlichen Durchschnittseinkommens. Die Freundin erzählt, dass die Bedienung in diesem Imbiss nicht vom Lohn, sondern von dem Käse lebt, den sie hier klaut, um ihn schwarz zu verkaufen.

Die Freundin erzählt weiter, dass der Staat diesem kollektiven Diebstahl einerseits machtlos gegenübersteht, ihn andererseits erzwingt und maßgeblich prägt. Wer keine Verwandten im Devisenausland hat, muss mitstehlen, um über die Runden zu kommen, und leitende Funktionäre üben häufig auch bei der systematischen Schattenprivatisierung gesellschaftlichen Eigentums leitende Funktionen aus. Die Freundin berichtet, dass die Staatsführung allerdings auch immer wieder die Handbremse zieht. Im vergangenen Jahr seien alle Tankstellenwärter im Land wegen Korruption gefeuert worden. „Das waren die reichsten Leute im Land“, behauptet die Freundin. „Die haben den Benzinverbrauch der offiziellen Fahrzeuge zu hoch angesetzt und den beiseite geschafften Kraftstoff schwarz verscheuert.“ Danach seien Studenten als Tankstellenwärter angestellt worden.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Auch Öffentlichkeit findet auf der Insel in einem eigenartigen Schattensystem statt, präsentiert sich dabei allerdings – wie gesagt: sowohl Lob als auch Kritik der Verhältnisse bedürfen der Einschränkung – in vieler Hinsicht als weniger manipuliert als die von Konzernen und bürgerlichen Repräsentationsformen dominierte Öffentlichkeit Westeuropas. Trotz offizieller Verlautbarungsprosa ist der Blick der Betroffenen auf die Realität dann doch oft sehr hellsichtig: „Die Planung in diesem Land ist weniger von Karl Marx inspiriert als von dessen Namensvettern Groucho, Chico und Harpo...“

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Das Zeichensystem Havannas folgt Prinzipien, die denen, an die wir uns in Europa gewöhnt haben, genau entgegengesetzt sind. Wird man im Kapitalismus gezwungen, einer Flut von Zeichen – Handlungsanweisungen, Lebensstilbotschaften, Lustversprechen – zu entkommen, so sucht man hier verzweifelt nach Orientierungspunkten. Außerhalb der Dollarökonomie gibt es keine Werbehinweise, und so irre ich zwei Abende lang hungrig durch die Altstadt und finde, abgesehen von CUC-Restaurants, CUC-Supermärkten, CUC-Hotels, in die ich nicht will, weil sie ein falsches Bild von der Stadt vermitteln, nichts zu essen. Erst am dritten Abend stelle ich überrascht fest, dass in meiner Straße in drei Hauseingängen Mahlzeiten verkauft werden. Die Imbisse scheinen nach dem Prinzip organisiert, dass was gebraucht wird, auch gefunden wird. Ein Organisationssystem von Zeichen, das auch in anderen Bereichen gilt: Die Bushaltestellen in Havanna sind zwar gekennzeichnet, aber Routen und Liniennummern müssen eigentlich immer wieder neu erfragt werden. Baumaterialien sind in Geschäften nicht erhältlich, werden aber dann doch von Privatleuten überall verbaut. Es gibt keine echte Ausgehmeile, in den Kneipen der Kubaner sind Getränke in der Regel nur recht zögerlich und für die Einheimischen zu teuer zu erstehen, und trotzdem ist der kaum beleuchtete Malecón nachts voll mit Jugendlichen, Liebespaaren, Schwulen, Transvestiten, die hier, von der Polizei zurückhaltend misstrauisch beäugt, scheinbar ohne Getränke und Musikanlage ausgelassen feiern.

Es gibt so vieles, das ich nicht verstehe.

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Prekäre Starre: Im Zwielicht von Havanna sind alle abgesichert und müssen sich doch alle ständig alles organisieren. Das Leben ist weniger von Idiotien beherrscht als die Laufradexistenz des kapitalistischen Kampfsubjekts und doch frustrierend. „Man gibt den Leuten hier Flügel“, formuliert die kolumbianische Freundin, „aber lässt sie nicht fliegen.“ Die meisten von denen, die studiert haben, wollen weg aus dem Land – was ihnen im übrigen nicht von der kubanischen Regierung versagt wird, sondern von den visumspflichtigen Wohlstandsstaaten im Norden.

Am letzten Tag meines Aufenthalts auf der Messe tritt bei einer Diskussion über die Veränderungen in Venezuela ein junger Afrokubaner ins Mikrofon. Er sagt, sichtlich nervös, dass er zum ersten Mal von basisdemokratischen Bewegungen in Venezuela höre und sich sehr darüber freue, denn so müsse eine Revolution sein. „Von unten nach oben. Hier ist es nicht so. Hier sagen die Leute, was ihnen von oben vorgegeben wird. Selbst die Sprache ist von oben vorgegeben.“ Der Afrokubaner gehört zu einem unabhängigen Kunstkollektiv, das Straßenaktionen macht und dabei, wie er erzählt, manchmal verhaftet, manchmal toleriert wird. Auf der Buchmesse in diesen Tagen wird er lesen, als Bestandteil des offiziellen Programms, Lyrik.

Wir unterhalten uns nach der Veranstaltung weiter. Der Aktivist trägt ein Greenpeace-Hemd; wie in der DDR scheint sich hier linke Dissidenz ausgerechnet durch die Annäherung an die bürgerliche Umweltbewegung des Westens zu artikulieren. Was der Aktivist dann aber erzählt, klingt weniger nach DDR-Opposition als nach venezolanischer Stadtteilbewegung. In ihren Straßenaktionen griffen sie, so der Aktivist, Elemente afrikanischer Kultur auf und lüden sie politisch auf. Der afrikanisch-katholische Umzug – selbst schon Ausdruck von Umdeutung und Besetzung, denn der offizielle katholische Heilige wird genutzt, um verbotene afrikanische Feiern zu begehen – wird ironisch in eine „Wallfahrt für die Gesundheit der Polizei“ umgewandelt. Der Aktivist erzählt, dass sie bei den Aktionen literarische Texte lesen, in denen der Alltag thematisiert und die offizielle Darstellung desselben durchbrochen wird.

Zu den unerträglichen Idiotien Kubas gehört es, dass das staatliche Fernsehen den ganzen Tag über die industrielle Filmmaschine Hollywoods laufen lässt, der Staat Leuten wie diesem Aktivisten, die letztlich das machen, was proletarische Literatur einmal sein sollte, aber zu sehr misstraut, um ihre Autonomie zu akzeptieren.

Wobei auch hier eine Relativierung nötig ist: Die US-Filme laufen nur deshalb im staatlichen Fernsehen, weil die Behörden in einem Akt kommunistischer Produktpiraterie, Master-DVDs auf dem kapitalistischen Ausland entführen und fernab kapitalistischer Wertrealisierung einfach vergesellschaften.

(Wochenzeitung Freitag Februar 2007)

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien