Geschichte als Lehrstück
Milo Raus fesselnder Text-Sampler „Die letzten Tage der Ceausescus“ (Verbrecher Verlag)
Rezension für die WOZ (Februar 2010)
Seit Herta Müller den Literaturnobelpreis gewonnen hat, wird in Deutschland fast täglich über Rumänien und die Jahre der Ceausescu-Diktatur berichtet. Das vermittelte Bild ist dabei von deutschtümelnden Tönen durchsetzt. Im Mittelpunkt steht das Schicksal der Minderheit, die vom Regime brutal unterdrückt und in die Flucht getrieben worden sei. Die Deutschen – wie so oft – als Opfer von Krieg, Diktatur und Vertreibung.
Die Wirklichkeit ist – wie man auch bei Herta Müller selbst nachlesen kann – komplizierter. So wurden die Deutschrumänen 1945 zwar einer ethnischen Kollektivbestrafung unterworfen und Zehntausende Menschen unterschiedslos in die Zwangsarbeit verschleppt. Doch zuvor war die Minderheit selbst recht empfänglich für Gewaltherrschaft gewesen. 64.000 (von insgesamt 550.000) Deutschrumänen sollen sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet haben. Und auch später war die Lage weniger eindeutig, als die Berichterstattung heute unterstellt. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Staaten war die Minderheit in Rumänien anerkannt; das Ceausescu-Regime leistete bis zuletzt eine deutschsprachige Tageszeitung mit dazu gehörigem Verlag.
Das Melodram um die Deutschrumänen verstellt den historischen Blick in vieler Hinsicht also eher. Der Schrecken des Ceausescu-Systems zeigt sich in anderen Fragen drastischer als im Umgang mit der Minderheit. Denn in diesem Punkt gibt es keinen Zweifel: Der rumänische Staatssozialismus war (neben Albanien) das paranoideste und repressivste System Osteuropas. Interessanterweise war es dabei gleichzeitig der wichtigste Ansprechpartner des Westens, denn mit seinem ausgeprägten Nationalismus stand das Ceausescu-Regime ab 1965 immer wieder in offenem Widerspruch zu Moskau.
Das Projekt, das die Gruppe International Institute for Political Murder um den Schweizer Regisseur Milo Rau dieser Tage international inszeniert und im Verbrecher-Verlag in Buchform vorgelegt hat, rekonstruiert nun das, was in der Berichterstattung um Herta Müller meist vergessen wird. In Form eines „Reenactments“, also einer Neuinszenierung, bringt die Gruppe um Rau „Die letzten Tage der Ceausescus“ auf die Bühne. Im Fokus steht der Sturz des sonnengottartigen Ehepaars im Dezember 1989. Dabei öffnet sich ein faszinierender Blick auf die Innendynamiken absolutistischer Herrschaft.
Die Vorgeschichte des Umsturzes wird im Buch folgendermaßen skizziert: Ceausescu tritt Mitte der 1960er Jahre zunächst als Erneuerer auf und erlangt durch seine Ablehnung des sowjetischen Einmarsches in der CSSR auch international Anerkennung. Diesen Popularitätsgewinn macht er sich in den Folgejahren zunutze, um einen extremen Führerkult zu etablieren. Der Bauernsohn Nicolae und seine Frau Elena werden als herausragende Intellektuelle, Strategen und Wissenschaftler, vor allem aber als „Vater“ und „Mutter der Nation“ inszeniert. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Reformbestrebungen, die das staatssozialistische Lager ab Mitte der 1980er Jahre erfassen, in Rumänien besonders vehement unterdrückt werden. Das Ergebnis schließlich ist ebenso dramatisch wie absurd: Der blutige Sturz der Ceausescus scheint auf der Akteursebene vor allem von Verfolgungswahn, Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen beherrscht.
Raus Buch zieht seine Kraft aus der Rasanz der Ereignisse – nirgends sonst in Osteuropa verlief der Umbruch so schnell wie in Rumänien. So kommt es erst am 15. Dezember 1989 zu kleinen Protesten im ungarischsprachigen Westen des Landes. Einen Tag später werden Demonstrationen in der Universitätsstadt Timisoara gewalttätig niedergeschlagen. Am 21. lässt das Regime noch einmal eine Million Menschen zur Huldigung der Ceausescus aufmarschieren. Doch die Inszenierung misslingt: Aus der Menge sind Buhrufe und regierungsfeindliche Parolen zu hören, die Fernsehübertragung muss unterbrochen werden. So fliehen der Sonnengott und seine Frau am Mittag des 22. Dezember in einem Hubschrauber aus Bukarest und werden 100 km nördlich in einer Militärgarnison festgesetzt. Diese Tage zwischen Flucht und Tod bilden nun den eigentlichen Schwerpunkt von Milo Raus Buch. Hier verdichtet sich Politik zu einem theatralischen Drama, zum Psychogramm, zur absurden Farce.
Den Beteiligten – sowohl den Ceausescus selbst als auch den Militärs, die sie bewachen / beschützen / gefangen halten – ist völlig unklar, welchen Status die gestürzten Staatsführer haben. In Bukarest hat sich die Armeeführung auf die Seite der Revolution geschlagen. Doch bestimmt ist die Entwicklung davon, dass um ihre Teilhabe an der Macht besorgte Fraktionen des Staatsapparates in unübersichtlicher Lage taktieren müssen. Zudem wird im ganzen Land gekämpft. Ein Vertrauter Ceausescus ist zum Verteidigungsminister ernannt worden.
In dieser Situation erweist sich die Bedeutung symbolischer Macht, aber auch ihre Grenze. Die Ceausescus erscheinen in Raus Texten als ein von der Außenwelt abgeschnittenes Seniorenehepaar, das nicht mehr begreift, was geschieht. Doch obwohl sie nur noch zwei alte Körper sind, repräsentieren sie nach 25 Jahren nach wie vor die Herrschaft. Und so zeigt sich bei den Untergebenen die emotionale Bindung an die Macht. Der Sturz der Ceausescus wird zum Vater- und Muttermord.
Am 25. Dezember wird den Ceausescus überhastet der Prozess gemacht, der nach wenigen Stunden in der Hinrichtung der beiden mündet. Die Transkription dieser Gerichtsverhandlung stellt – obwohl nicht neu – den faszinierendsten Teil von Raus Buch dar. Langjährige Stiefellecker der Macht – Staatsanwalt, Richter und Verteidiger stammen aus dem alten Machtapparat – müssen eine Anklage und ein Urteil formulieren. Doch das Ansprechen der gestürzten Herrscher fällt ihnen sichtlich schwer – es ist, als redeten sie tatsächlich mit den eigenen Eltern. Und so ist der Prozess gegen die Diktatur von Bemerkungen geprägt, die jahrzehntelang unterdrückt werden mussten. Die Ankläger machen sich über Ceausescus Grammatikfehler oder die gefälschten Akademikertitel der Ehefrau lustig, und man spürt, dass es hier nur noch um die emotionale Ermächtigung der Individuen geht. Auf der anderen Seite reagieren aber auch die Ceausescus wie Eltern, denen im Alter von 70 Jahren die Wahrheit gesagt wird. Hilflos stammeln sie Sätze wie: „Das ist eine Frechheit“ oder „ihr seid doch alles meine Kinder“.
Milo Raus Buch ist nicht nur großartig, weil es diese andere Seite von Politik rekonstruiert. Extrem lesenswert ist das Buch auch, weil es die Betrachtung der Ereignisse mit diskutiert. „Die letzen Tage der Ceaucescus“ dokumentiert rumänische Geschichte und einen Produktionsprozesses am Theater. In diesem Sinne diskutiert Rau mit dem Medientheoretiker Friedrich Kittler über den Begriff der „Telerevolution“, also die Rolle der Video- und Fernsehbilder beim Umsturz. Er spricht mit dem Historiker Heinz Bude über Interviewtechniken und die permanente Umschreibung von Geschichtserinnerungen. Und der als Kronzeuge gegen die Linke oft so unsägliche, in diesem Zusammenhang aber auch lesenswerte Gerd Koenen referiert über die Theatralik von Schauprozessen und weist auf die Absurdität des Ceausescu-Prozesses hin, der zwar inszeniert werden musste, aber nicht aufgeführt werden sollte: Die Prozessbilder blieben unter Verschluss, bis ein Mitarbeiter des rumänischen Fernsehens sie ins Ausland verkaufte.
Milo Rau wird seinem Anspruch, den Sturz der Ceausescus mit den geschichtsphilosphischen Begriffen Walter Benjamins, mit theoretischen Fragestellungen zu Wiederholung, Narration, Erinnerung, Bild und politischem Bruch zu verhandeln, nicht wirklich gerecht. Die von ihm in die Diskussion geworfenen Konzepte bleiben oft unscharf, ihre Verwendung beliebig. Rau wirkt hier – begrifflich wie auch politisch – konturlos, was den Gesamttext zwar offen hält, aber eben auch etwas gefällig erscheinen lässt. Es ist wohl nicht ganz zufällig, dass das Buch einerseits von der Konrad-Adenauer-Stiftung mit gefördert wurde, aber im linken Berliner Verbrecher-Verlag erschien.
Und doch handelt es sich um eine fesselnde, faszinierende Theaterdokumentation, die einen Innenblick auf die paranoide Dimension totaler Staatsmacht und die Produktionsbedingungen geschichtlicher Erzählungen (und darin auch eines Theaterprojekts) thematisiert. „Die letzten Tage der Ceausescus“ ist ein spannendes, facettenreiches, lehrreiches Buch über einen Umsturz, der dann doch keine Revolution wurde, weil sich die Machtstrukturen des alten Systems unter Marktverhältnissen schnell wieder konsolidierten.
Raul Zelik
Milo Rau: „Die letzten Tage der Ceausescus“ (Verbrecher Verlag)