Im Suhrkamp-Verlag ist eine vom 1998 verstorbenen Kulturwissenschaftler Jean-Michel Palmier verfasste Benjamin-Biografie erschienen. Ein Monumentalwerk, das es erlaubt, Walter Benjamin zu entmystifizieren und theoretisch einzuordnen.
Wenige Autoren haben posthum so viel Debatten ausgelöst wie Walter Benjamin. Der 1892 geborene deutschjüdische Intellektuelle, zu Lebzeiten nur Kennern des Kulturbetriebs bekannt und stets von Existenznöten geplagt, verwandelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem durch die Studentenbewegung der 1960er Jahre, in eine Ikone von Kulturtheorie und undogmatischer Linken weltweit. Über Jacques Derrida und Giorgio Agamben ist Benjamin bis heute ein wichtiger Bezugspunkt der neueren Philosophie. Kuratoren, Regisseure und Autoren greifen auf ihn zurück, wenn es gilt, eigenen Arbeiten Bedeutung zu verleihen. Und selbst ökonomisch ist Benjamin 70 Jahre nach seinem einsamen Tod von Interesse. Die Inhaber der Autorenrechten – der Hamburger Publizist Jan-Philip Reemtsma und der Suhrkamp-Verlag – wachen argwöhnisch darüber, dass Benjamin-Schriften nicht im Netz zirkulieren.
Der große Verdienst von Jean-Michel Palmiers Monumentalwerk „Walter Benjamin“ besteht darin, diese Kultfigur zu entmystifizieren und theoretisch einzuordnen. Das 1300 Seiten starke und ebenfalls posthum erschienene Buch – der Kunstgeschichtler Palmier starb 1998 im Alter von 54 Jahren – besticht durch Kenntnisreichtum und Differenziertheit. Benjamin ist hier nicht einfach die intellektuelle Lichtgestalt, die von den Zeitgenossen verkannt wurde und der Neubegründung der Kulturwissenschaften den Weg bereitete. Benjamin erscheint hier vor allem als zerrissener Zwischengänger, dessen Bedeutung sich erst aus dem Rückblick auf das Gesamtwerk wirklich erschließt.
Dass Benjamins Denken ein produktives Missverständnis zwischen theologischem Messianismus und Marxismus sei, ist schon häufiger behauptet worden. Bei Palmier bekommt diese These jedoch einen tieferen Sinn. Palmier zeichnet nach, dass sich Benjamin in miteinander regelrecht verfeindeten Diskurskontexten bewegte. So pflegte Benjamin mit seinem Jugendfreund Gershom Scholem, der Anfang der 1920er Jahre nach Palästina ausgewandert war und als Religionshistoriker an der Universität Jerusalem unterrichtete, eine intensive und langjährige Brieffreundschaft. Gleichzeitig unterhielt er enge Beziehungen zu Theodor Adorno und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, für das er regelmäßig Aufsätze verfasste. Und schließlich war Benjamin ab Mitte der 1920er Jahre der kommunistischen Linken um Berthold Brecht verbunden.
Von einer "Aussöhnung" von Messianismus, kritischer Theorie, Brechtscher Ästhetik und der marxistischen Orthodoxie der Dritten Internationalen kann dabei allerdings keine Rede sein. Folgt man Palmier, dann repräsentierten Scholem, Adorno und Brecht ein persönliches und theoretisches Kräftefeld, in dem Benjamin auf Dauer zerrissen blieb. Erschwert wurde seine Positionierung auch dadurch, dass Benjamin aufgrund seiner ökonomischen Lage gezwungen war, sich verschiedene Optionen offen zu halten. Immer wieder spielte er mit dem Gedanken, der Aufforderung Scholems nachzukommen, nach Palästina auszuwandern und eine Anstellung an der Universität Jerusalem anzunehmen – obwohl Benjamin die zionistischen Überzeugungen des Freundes nicht teilte. Benjamins Verhältnis zum Frankfurter Institut für Sozialforschung war, trotz des für und von Adorno, von der einseitigen Abhängigkeit Benjamins geprägt. Die Publikationsaufträge des Instituts stellten für ihn eine der wenigen, mehr oder weniger verlässlichen Einkommensquellen dar. Und vermittelt über Brecht schließlich verstand sich Benjamin aber auch als kommunistischer Autor, wobei die theoretischen und ästhetischen Differenzen zum KP-treuen „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ augenscheinlich und unüberbrückbar waren.
Doch Palmiers Benjamin-Buch ermöglicht nicht nur einen besseren Zugang zu Benjamins bisweilen sehr abgeschlossenen Schriften. Das Buch ist darüber hinaus auch selbst bemerkenswerte Kunst: Palmier nähert sich Benjamin fast ausschließlich über Schriften und Briefe. Lebenssituationen vermitteln sich bei ihm immer über die Texte, die aus den jeweiligen Situationen hervorgingen. Zudem folgt Palmier einer inhaltlichen (statt einer chronologischen) Struktur. Er umreißt zwar zunächst den historischen und soziokulturellen Kontext, in dem sich Benjamin bewegte: die Assimilationsbestrebungen des deutschen Judentums, die Tragödie der Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Exil. Doch Palmiers Hauptaufmerksamkeit gilt den inhaltlichen Schwerpunkten bei Benjamin: Sprache, Literaturkritik, das deutsche Barockdrama (ein Thema, mit dem sich Benjamin in seiner gescheiterten Habilitationsschrift auseinandersetzte), das Projekt einer materialistischen Ästhetik und die Verschränkung von Messianismus und Marxismus, der Benjamins letzte Schrift, die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ gewidmet sind.
Da Palmier sich an diesen inhaltlichen Strängen entlang hangelt, legt er biografische Entwicklungen immer wieder in einem anderen Zusammenhang dar. Dabei kommt es bisweilen zu Redundanzen – Palmier konnte das Buch nie abschließend redigieren –, während gleichzeitig wichtige biografische Fragen ganz ausgespart bleiben. Die offensichtlich nicht besonders engen Beziehungen zur Familie oder dem eigenen Sohn, die bei Palmier kaum eine Rolle spielen, wären als Schlüssel zum Verständnis Benjamins schließlich durchaus von Belang. Zerrissenheit und Melancholie sind ja nicht einfach theoretische Positionierungen oder eine Abbildung von Ausschluss und sozialer Deklassierung, sondern haben auch mit individuellen Charakterzügen zu tun. Doch Palmier verweigert sich allem, was als Psychologisierung verstanden werden könnte.
Doch trotz dieser Einwände ist Palmiers Methode überzeugend und fesselnd. Das Buch wird ein Standardwerk für alle sein, die Benjamins Schriften lesen und verstehen wollen. Vor allem jedoch wirft es implizit die Frage auf, was an Benjamins Denken aktuell ist. Palmier liefert hier keine Antworten, doch mindestens drei Aspekte drängen sich auf: Da ist zum einen Benjamins Interesse an der Technik. Im Unterschied zum kulturpessimistischen Adorno bleibt Benjamin gegenüber den neuen Kulturtechniken offen. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ etwa diskutiert Benjamin, wie sich Ästhetik und Rezeptionsgewohnheiten mit neuen Kulturtechniken verändern – ein Problem, das sich heute in Anbetracht von digitaler Kommunikation und Computer Games unter ganz neuen Vorzeichen stellt. Zweitens ist da der Benjaminsche Begriff der Geschichte. Der stalinistische Determinismus, bei dem die gesellschaftliche Entwicklung einem mechanischen Prozess gleicht, hat sich schon vor Jahrzehnten selbst diskreditiert. Doch es ist auch kein historisches Verständnis an seine Stelle getreten, das dem herrschenden ‚Ende der Geschichte’ ein emanzipatorisches Projekt entgegen setzen könnte. Benjamins Denken, in dem materialistische und theologisch-messianische Elemente, auf verwirrende Weise verschränkt sind, mag selbst noch keine überzeugende Antwort bieten und lohnt doch eine Auseinandersetzung.
Und schließlich ist da drittens Benjamins Beschäftigung mit der Warenwelt. Das Bewegen durch Geschäftszonen beschrieb er schon früh als konstituierenden Moment bürgerlicher Gesellschaft. Heute, da Konsum zu einer lebens- und identitätsbestimmenden Tätigkeit geworden ist, sich gleichzeitig aber auch der physischen Räume entledigt, ist eine derartige Perspektive wohl noch berechtigter als zu Benjamins Zeiten.
Raul Zelik