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Bodo Ramelow ist der erste Ministerpräsident der LINKEN. Im Mai 2014, also noch einige Wochen vor der Wahl, durfte ich mit dem Parteivorstand der Linkspartei in Thüringen über die mögliche Regierungsbeteiligung der LINKEN im Bundesland diskutieren. In diesem Zusammenhang entstanden diese Thesen. Inhaltlich beruhen sie auf dem Buchbeitrag "Jenseits der Wahlarithmetik" aus dem - vom Institut Solidarische Moderne - herausgegebenen Sammelband "Anders Regieren" (siehe unten).

 

1.) Die Vorstellung, dass (Mitte-) Linksregierungen notwendig oder auch nur im Regelfall progressive Politik nach sich ziehen, ist falsch. Betrachtet man die jüngere europäische Geschichte, lässt sich eher das Gegenteil nachweisen: (Mitte-) Links-Regierungen haben in den vergangenen 30 Jahren in Europa häufig jene Modernisierung im Sinne des Kapitals durchgesetzt, an die sich konservative Parteien nicht herantrauten. Die rotgrüne Koalition in Deutschland beispielsweise steht für die Hartz-IV-Reformen, die Senkung der Spitzensteuersätze und den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945. Ähnliches lässt sich auch für die sozialistischen Regierungen Südeuropas konstatieren. So sorgte die PSOE in Spanien u.a. für den höchst unpopulären NATO-Beitritt, Strukturanpassungsmaßnahmen (die Hunderttausende  Jobs kosteten und die kämpferischsten Teile der Gewerkschaften zerschlugen) sowie den Aufbau einer rechten antibaskischen Todesschwadron.

 

2.) Selbstverständlich haben Mitte-Links-Regierungen auch progressive Reformen ermöglicht. In Deutschland etwa liberalisierte Rotgrün das Staatsbürgerrecht und beschloss den Atomausstieg. Und richtig ist auch, dass die neoliberale Wende ohne die Beteiligung sozialdemokratischer Parteien wahrscheinlich – wie in Großbritannien oder den USA – noch brutaler durchgesetzt worden wäre. Umgekehrt stimmt aber eben auch: Die Anerkennung von Migrationsrealitäten oder homosexuellen Lebensformen fand auch in konservativ regierten Ländern Eingang in die Gesetzgebung.


3.) Ganz offensichtlich hängen gesellschaftliche Transformationen also viel weniger von der Regierungszusammensetzung ab, als von Journalisten und Parteien vermutet. Was ist es aber dann, was zu Veränderungen führt?

Es sind die Verschiebungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Sprich: Emanzipation ist nicht das Ergebnis einer Reformpolitik der Regierung, sondern umgekehrt stellen Reformregierungen die institutionelle Antwort auf und den Ausdruck von gesellschaftlichen Hegemonie-Verschiebungen dar. Es sind die sozialen Kämpfe, kulturellen Aufbrüche, politischen Brüche und Revolten, die emanzipatorische Politik ermöglichen und erzwingen.

4.) Tom Strohschneider hat mit „Linke Mehrheiten. Über rot-rot-grün, politische Bündnisse und Hegemonie“ eine Flugschrift zu den Perspektiven einer Reformregierung in Deutschland vorgelegt. Strohschneiders Buch ist kenntnisreich und gut informiert, meiner Ansicht nach aber auch ein gutes Beispiel für den verengten Politikbegriff in Deutschland. Die Schrift beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Frage, wie sich eine rot-rot-grüne Koalition organisatorisch anbahnen lässt. Für eine Transformationsperspektive ist dieses Problem aber sekundär. Die strategische Frage lautet meines Erachtens: Wie lässt sich die neoliberale Hegemonie, durch die alle Lebensbereiche ökonomisiert und Gewinninteressen unterworfen und das soziale Leben fragmentiert werden,  unterlaufen und durchbrechen?

5) LINKE, die als Funktionsträger in Kommunen oder Landesregierungen praktische Erfahrungen mit Verwaltungsaufgaben gesammelt haben, weisen oft darauf hin, dass man sich in Anbetracht der finanziellen und rechtlichen Spielräume keine Illusionen machen dürfe und die Erwartungen herunterschrauben müsse. Sie haben mit dem ersten Teil der Aussage völlig recht. Dass die PDS in der rot-roten Koalition in Berlin so vieles gemacht hat, was mit linken Perspektiven nichts zu tun hatte, lag nicht am „falschen“ Personal. Es lag an jenen Machtverhältnissen, die sich als Sachzwang (Stichwort „leere öffentliche Kassen“) präsentieren.  

Linke in Regierungsfunktionen haben letztlich nur zwei Optionen: Entweder sie akzeptieren und unterwerfen sich diesen Machtverhältnissen und versuchen die herrschende Verteilungssituation ‚möglichst wenig schlecht‘ zu verwalten oder aber sie stellen die „Sachzwänge“ in den Mittelpunkt und versuchen jene Verhältnisse strategisch zu verändern, die den vermeintlichen Sachzwang produzieren.

Für mich liegt auf der Hand, dass eine Linke, die es mit dem sozialen Fortschritt ernst nimmt, den zweiten Weg einschlagen muss. Sie muss – um beim konkreten Beispiel zu bleiben – deutlich machen, dass öffentliche Kassen nicht leer sind, weil Mittel knapp wären, sondern weil zugunsten von Privatvermögen umverteilt wird, und dann strategisch darauf hinarbeiten, den gemeinschaftlichen Reichtum gegen den privaten zu stärken.

Das gelingt natürlich nicht, wenn man nur parlamentarisch und parteipolitisch agiert. Die Hegemonie des (neoliberalen) Kapitals formiert sich überall in der Gesellschaft: in Medien, Öffentlichkeit, wissenschaftlichen Diskursen, Alltagspraxis, dem Staat selbst und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital. Realpolitisch handelt hier nur, wer das Problem in seiner ganze Breite versteht und dementsprechend handelt.

6.) (Mitte-) Links-Regierungen wirken häufig kontraproduktiv, indem sie sozialen Widerstand demobilisieren: Menschen delegieren ihre Interessen an die regierende Linke. Die Situation in Thüringen und Deutschland ist heute allerdings ganz anders: Es gibt keine starken Bewegungen, die durch einen Regierungseintritt demobilisiert werden könnten. Gleichzeitig liegt die LINKE in Thüringen bei knapp 30%, und es ist klar, dass sich die Partei dem diffusen Wunsch nach einem Politikwechsel nicht einfach entziehen kann. Die Thüringer LINKE muss im Herbst versuchen eine Regierung zu bilden – wenn sie denn kann.

Doch unter welchen Voraussetzungen könnte diese Regierung trotz der oben genannten Einwände produktiv sein? Die Antwort scheint mir ziemlich simpel: Eine (Mitte-) Links-Regierung erfüllt eine positive gesellschaftliche Funktion, wenn sie die Bedingungen dafür verbessert, dass sich solidarische, basisdemokratische, feministische und antirassistische Erfahrungen und Praxis in der Gesellschaft ausbreiten können.

7.) Um das zu ermöglich, müsste die LINKE in der Regierung als erstes signalisieren, dass sie die Selbsttätigkeit ‚der Vielen‘ nicht ersetzen kann: Soziale und demokratische Errungenschaften müssen aus der Gesellschaft heraus und gegen Widerstände erkämpft werden. Eine gute Regierung kann das kritische Handeln ‚der Vielen‘ nicht ersetzen! Es wäre schon ein beträchtlicher Politikwechsel, wenn eine regierende Partei das vermitteln würde.

8.) Die LINKE in der Thüringer Regierung hätte  zwei konkrete Aufgabenfelder: Sie müsste da, wo sie kann, die Lebensverhältnisse der „einfachen Leute“ – also der Geringverdiener und Arbeitslosen, der Flüchtlinge und alleinerziehenden Frauen ... – verbessern. Zum Beispiel indem sie den spekulativen Immobilienmärkten mit Gesetzen und Steuern einen Riegel vorschiebt, Strategien einer fiskalpolitischen Umverteilung entwickelt und Flüchtlingen die Unterbringung außerhalb von Lagern ermöglicht.

Gleichzeitig muss sie die Bedingungen für solidarische und basisdemokratische Lebenserfahrungen ‚von unten‘ verbessern. Das Beispiel der sozialdemokratischen Wohnungspolitik im Wien der 1920er Jahre zeigt, dass eine derartige Politik auch auf regionaler und lokaler Ebene möglich ist. Länder und Kommunen können Wohn- und Produktionsgenossenschaften unterstützen, Mittel für soziale Zentren und alternative Medien bereit stellen, Schulen, Universitäten und die öffentliche Verwaltung radikal demokratisieren, gesellschaftskritische Wissenschaften gegen den neoliberalen Mainstream  fördern und die Überwachung sozialer Bewegungen durch die Geheimdienste stoppen. Anders ausgedrückt: Die LINKE in der Regierung könnte deutlich machen, dass sie sich in den Dienst eines gesellschaftlichen Transformationsprojekts stellen will.

9.) Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie, so wie sie heute existiert, sind genau für diese Emanzipationspraxis allerdings nicht geschaffen. Es ist ein Mythos, dass der bürgerliche Staat als demokratische Einrichtung entstanden wäre, wie der Liberalismus gerne behauptet. Sowohl das allgemeine, einkommensunabhängige als auch das Frauenwahlrecht mussten dem Bürgertum durch die Arbeiter- bzw. Frauenbewegung abgetrotzt werden. Und auch das Modell der politischen Repräsentation („der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet“) ist eher eine Restriktion der Demokratie als deren Ausdruck. Mit dieser Vermittlungsebene wollten die amerikanischen Staatsgründer verhindern, dass ‚die Massen‘ direkte politische Macht ausüben.

Die LINKE als Teil des parlamentarischen und medialen Betriebs, als Struktureinheit der Verwaltungs- und Regierungskörper, als Mitspieler einer entfremdeten, von den zentralen inhaltlichen Fragen weitgehend befreiten Politik wird von diesen Herrschaftsfunktionen natürlich durchzogen. Wer als Abgeordneter, Staatssekretär oder Mitarbeiter eines Politikers ein Einkommen bezieht und mediale Anerkennung erhält, entwickelt naheliegender Weise ein Interesse daran, seine spezifische Position zu bewahren. Er/sie muss es bis zu einem gewissen Punkt sogar, wenn er/sie bei den Wahlen nicht scheitern will.

Die LINKE muss allerdings in der Lage sein, diese Anpassungsmechanismen zu erkennen, sichtbar zu machen und Gegenstrategien zu entwickeln. Die massenmedial vermittelte Berufspolitik ist kein Kennzeichen der Demokratie.

10.) Um die Spaltung zwischen Regierenden und Regierten, zwischen „Politik“ und Bevölkerung zu durchbrechen, könnte die LINKE in der Regierung versuchen, sich transparenter der Kritik zu stellen. In der Logik der Berufspolitiker geht es stets darum, Erfolge hervorzukehren und damit die eigene Führungsrolle zu rechtfertigen. Im Sinne gesellschaftlicher Emanzipation könnte man einmal das Gegenteil versuchen. Die LINKE könnte die Grenzen ihres Handelns und ihre Misserfolge thematisieren und auf diese Weise eine breitere Debatte darüber anstoßen, wie Gesellschaften eigentlich verändert werden. Dazu würde auch gehören, dass die LINKE klarer definiert, was eine „Kümmerer-Partei“ im positiven Sinne des Wortes eigentlich ausmacht – nämlich, dass sie Betroffene bei der Artikulation von Interessen und bei ihrer Selbstorganisation unterstützt, und nicht, dass sie paternalistisch die Probleme der Bevölkerung löst.

11. Auch in diesem Punkt haben die „Pragmatiker“ durchaus recht: Es ist falsch, unerfüllbare Erwartungen zu wecken. Linke, kritische Politik braucht konkrete Erfolge – das stimmt für soziale Bewegungen ebenso wie für eine Regierungsbeteiligung. Das heißt, es bedarf der Ziele, die zwar auf der einen Seite den gesellschaftlichen Vorstellungshorizont erweitern, andererseits aber auch durchsetzbar sind. Das klingt ambitioniert, ist uns in der Praxis aber durchaus geläufig: Ein Streik, in dem sich Beschäftigte miteinander solidarisieren, vermittelt die konkrete Erfahrung, dass ein gemeinschaftlicheres Leben möglich ist, und strebt doch ein konkretes Ergebnis an.

Was die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Thüringen angeht, könnte man in diesem Sinne einige zentrale Kriterien definieren, die eine Transformationsperspektive sichtbar machen, aber eben auch nicht blind gegenüber den kleinen Erfolgen sind. Das könnten Fragen wie diese sein:

- Eröffnet die Fiskal- und Haushaltspolitik Ansätze für eine Umverteilung von oben nach unten?

- Trägt die Regierungspolitik dazu bei, Wohnraum und andere Elemente der Grundversorgung den Märkten zu entziehen und gesellschaftlicher Kontrolle zu unterstellen? Werden gemeinschaftlich-demokratische Eigentumsformen gegen privatkapitalistische gestärkt?

- Sind Antirassismus und Antifaschismus Kennzeichen des Regierungshandelns?

- Verbessern sich die Bedingungen für andere Formen von Arbeit und Ökonomie – für Genossenschaften, für die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, für die (Selbst-) Organisation von Arbeitslosen und Arbeitenden usw.?

- Wird die ökologische Transformation (Umgestaltung des Nahverkehrs, regenerative Energie ...) systematisch vorangetrieben?

- An welchen Stellen verändert die Regierungspolitik Geschlechterbeziehungen und fördert gleichberechtigte Beziehungen in der Lohn- und Hausarbeit?

- Demokratisieren sich gesellschaftliche Räume, z. B. Schulen und Universitäten?

Für diejenigen, die in Koalitionsverhandlungen stecken, sind solche Überlegungen wahrscheinlich weit weg. Doch andererseits ist ja auch genau das das Problem der professionalisierten Politik. Partei- und wahlstrategische Kalküle verstellen den Blick darauf, worum es aus gesellschaftlicher Perspektive doch eigentlich geht. Für uns Regierte ist eher belanglos, wer das staatliche Personal stellt. Uns interessiert, ob und wie sich die Lebensverhältnisse verändern bzw. verändern lassen. In diesem Sinne sollten wir nicht fragen, ob uns die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Thüringen einer rot-rot-grünen Koalition im Bund näher bringt, sondern ob und wie sie Umrisse einer ökologischen, demokratischen und solidarischen Umgestaltung der Gesellschaft sichtbar werden lässt.

Raul Zelik ist Fellow des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

 

 

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