eu-grenzeDer französische Philosoph Etienne Balibar fragte vor wenigen Wochen in einem Beitrag für die Monatszeitung Le Monde Diplomatique: „Neuer Elan – aber für welches Europa?“ In den Medien bekommen wir in diesen Wochen vor allem zu hören, dass die EU bei allen Defiziten doch ein hohes Gut sei. Sie habe Europa nach dem 2. Weltkrieg Frieden und Wohlstand beschert, sei ein Garant für Menschenrechte und repräsentiere einen demokratischen und vergleichsweise sozialen Kapitalismus.

Aber stimmt das wirklich? War es die europäische Einigung, die alte europäische Feindschaften zu überwinden half, oder war es nicht eher der Konflikt mit der Sowjetunion, der die früheren Feinde in West- und Mitteleuropa zusammenwachsen ließ? Wer hat den Kapitalismus sozialer gemacht: die Arbeitskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts oder der europäische Einigungsprozess?

Geopolitik und Menschenrechte

Täuschen wir uns nicht – es gibt gute Gründe, als internationalistischer, antinationalistischer Mensch gegen die EU zu sein. Es stimmt zwar, dass Deutschland – mitverantwortlich für den ersten Weltkrieg, alleinverantwortlich für den zweiten – heute in Europa stärker eingebunden ist. Aber das macht die EU noch lange nicht zur Friedensmacht. In der Ukraine verfolgt die Europäische Union in erster Linie ihre eigenen ökonomischen Interessen und hat damit zur militärischen Eskalation beigetragen – ganz ähnlich wie auf der anderen Seite Russland unter seinem rechtsnationalistischen Präsidenten Putin. In Syrien hat die EU erst lange über eine Intervention diskutiert, im entscheidenden Moment dann aber doch den NATO-Verbündeten Türkei bei ihrer Blockade der demokratischen Aufständischen im kurdischen Nordsyrien unterstützt. Freiheit und Demokratie besitzen für Europa offensichtlich nur so lange Bedeutung, wie sie nicht im Widerspruch zu ihren geopolitischen und ökonomischen Interessen stehen.

Überhaupt die Menschenrechte: Mit welcher Legitimation tritt die EU als Richter in der Welt an? Der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl zufolge sind seit 2000 mindestens 23.000 Flüchtlinge an den Außengrenzen der Union gestorben. Diese Menschen waren nicht einfach Opfer „skrupelloser Schlepper“ geworden, wie es stereotyp im Fernsehen zu hören ist. Nein, ihr Tod ist vor allem Resultat der EU-Grenzpolitik, die Migrationsbekämpfung als polizeiliches und militärisches Geschäft versteht. Und diese Liste lässt sich weiter fortsetzen.

Europäische Solidarität?
Ja, in der EU mag es mehr soziale Rechte geben als in den USA. Aber hat nicht gerade die EU in den letzten Jahren alles dafür getan, den Neoliberalismus auch hier durchzusetzen – teilweise gegen nationalstaatliche Gesetzgebungen? „Europäische Solidarität“ hat dabei keine Rolle gespielt. Spanien beispielsweise wurde von der EU gezwungen, seine Privatbanken mit staatlichen Geldern zu retten. Als Folge davon stieg trotz radikaler Sozialkürzungen die Staatsverschuldung von 37 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (2007) auf 93 Prozent (2013). Die Bevölkerung ist verarmt, die Arbeitslosigkeit liegt bei mittlerweile über 25 Prozent, die soziale Ungleichheit hat sich drastisch verschärft. Als in der spanischen Autonomieregion Andalusien dann jedoch ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Zwangsräumung von zahlungsunfähigen Wohnungseigentümern verbieten sollte, meldete sich die EU-Kommission zu Wort und sorgte dafür, dass das Gesetz vom Zentralstaat blockiert wurde. Das ist das reale Europa: Gerettet werden spanische Banken, damit deutsches und französisches Kapital nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Die „europäische Solidarität“ gilt nicht den Spanier/innen, Griechen/innen oder Portugiesen/innen. Sie gilt den Vermögenden und Eliten – ob nun in Deutschland oder Portugal, Litauen, Griechenland oder der Slowakei.

Eine Neugründung Europas
Der Satz, man müsse „Europa gegen die EU verteidigen“, ist zwar eine Parole, aber trotzdem nicht falsch. Neoliberale, autoritäre und militärische Strukturen sind so tief in die EU-Institutionen und -Gesetze eingeschrieben, dass wir nicht weniger brauchen als eine Neugründung Europas. Aber wie soll das gehen: Die Institutionen neu gründen, die Politik auf den Kopf stellen?

In Lateinamerika hat der Neoliberalismus im vergangenen Jahrzehnt schwere Niederlagen erlitten. Möglich wurde das, weil Gewerkschaften und Bauernorganisationen, Landlose, Frauen und Indigene die Politik ihrer Regierungen über Jahre hinweg mit Protesten blockiert haben. Immer wieder kam es zu Aufständen gegen staatliche Spar- und Privatisierungsprogramme, bis die traditionellen Parteien schließlich von einem „Verfassunggebenden Prozess“ überrollt wurden. Die alten Verfassungen wurden außer Kraft gesetzt und neue erarbeitet – nicht einfach von Expertenkommissionen, sondern in einer breit geführten gesellschaftlichen Debatte und unter aktiver Beteiligung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

Die Demokratie neu erfinden
Auch in Südeuropa – in Spanien, Griechenland, Portugal und Italien – hat man angefangen, über einen solchen Ausweg aus der Krise zu diskutieren: Man will aus den alten politischen Systemen und ihren Verfassungen ausbrechen und die sozialen und demokratischen Inhalte der Politik neu bestimmen. Man will die Demokratie neu erfinden – als Beteiligungs- und Versammlungsdemokratie wie zuletzt 2011 in Spanien, als Hunderttausende Plätze und Straßen besetzten. Und man will die Demokratie erweitern: Wenn sich die Sozial- und Wirtschaftspolitik von Konservativen und Sozialdemokraten aufgrund der „Macht der Märkte“ immer weniger unterscheidet, dann muss die Ökonomie eben endlich der Demokratie unterworfen werden.

Ende März waren in Spanien erneut eine Million Menschen auf der Straße – aufgerufen von Basisorganisationen jenseits der großen Verbände und Parteien. In Griechenland sind die Massenproteste abgeflaut, aber Millionen Menschen hoffen auf einen Wahlsieg des Linksbündnisses Syriza. Und auch in Portugal verschiebt sich die politische Meinung. Bis jetzt kann man sich kaum vorstellen, dass aus diesen Aufbrüchen eine Kraft entstehen könnte, um Europa neu zu begründen. Aber wenn es uns ernst ist mit dem Diskurs von Menschenrechten, Frieden, sozialem Fortschritt und Demokratie, haben wir keine Alternative zu dieser Neugründung. Wir müssen die neoliberale Vorherrschaft in Europa brechen und etwas Neues schaffen.

Die Wahlen zum Europaparlament können hierfür ein Zeichen setzen - viel mehr aber auch nicht. Wenn wir dem Neoliberalismus ein Ende bereiten wollen, müssen wir schon mehr tun: Wir müssen uns die Politik zurückholen.

Raul Zelik

 

 

 

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