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Spanien kommt nicht aus der Krise. Zwar wuchs die Wirtschaft Ende 2013 erstmals seit Jahren wieder leicht, doch die Verarmung von großen Teilen der Gesellschaft hält an. Auch die Korruptionsskandale reißen nicht ab: Anfang des Jahres wurde die Kronprinzessin Cristina wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche angeklagt, der Schatzmeister der regierenden PP sitzt bereits im Gefängnis. Doch am unkontrollierbarsten scheinen wieder einmal die Minderheitenkonflikte.

 

So protestierten Anfang Januar in Bilbao trotz eines Demonstrationsverbots durch die Madrider Justiz 130.000 Menschen für eine politische Lösung des baskischen Konflikts und eine Freilassung der ETA-Gefangenen. Es war die größte Kundgebung in der Region seit 1980. Noch dramatischer ist die Entwicklung in Katalonien, wo in den letzten Jahren eine Grassroots-ähnliche Unabhängigkeitsbewegung entstanden ist. Basisorganisationen wie die Assemblea Nacional Catalana (ANC) haben Millionen Menschen auf die Straße gebracht und treiben die etablierten Parteien damit regelrecht vor sich her. Die liberal-konservative katalanische Autonomieregierung sah sich in diesem Zusammenhang gezwungen, ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region für November 2014 anzukündigen.

Katalonien vor dem Unabhängigkeitsreferendum

 Anders als man erwarten könnte, geht das Erstarken des Regional-Nationalismus allerdings nicht mit einem Rechtsruck einher. Als der katalanische Ministerpräsident Artur Mas von der bürgerlichen Convergencia i Unió die Durchführung des Referendums öffentlich bekannt gab, wurde er von drei Linksparteien begleitet: der sozialdemokratischen Esquerra Republicana, der Iniciativa per Catalunya Verds (dem Regionalpendant der spanischen Vereinten Linken) und der Candidatura d’Unitat Popular (einer aus den sozialen Bewegungen hervorgegangenen antikapitalistischen Wahlplattform). Die vier das Unabhängigkeitsreferendum unterstützenden Parteien repräsentieren mit 58 Prozent der Wählerstimmen nicht nur eine klare politische Mehrheit. Das Bündnis steht auch erstaunlich weit links. ERC, ICV und CUP – als Parteien links der spanischen Sozialdemokratie – kommen zusammen auf 27 Prozent der Stimmen. Und es scheint, als könnte dieser Anteil noch weiter steigen. Bei Meinungsumfragen im Oktober 2013 lagen die drei katalanischen Linksparteien bei 39 Prozent.[1]

Die Geschwindigkeit, mit der sich Katalonien von Spanien entfernt, ist auch für die Beteiligten überraschend. Zwar wurde die katalanische Unabhängigkeitsbewegung (ähnlich wie im Baskenland und Galizien) durch die Franco-Diktatur antifaschistisch und republikanisch geprägt. Doch der regierende „Katalanismus“ trat lange Jahre eher gemäßigt auf. Die seit 1979 fast ununterbrochen regierende CIU, eine Allianz von Liberalen und Christdemokraten, nutzte die Nationalfolklore in erster Linie für eigene parteipolitische Interessen, ging echten Konflikten mit Madrid hingegen stets aus dem Weg.

Die gescheiterte Demokratisierung Spaniens

Dass sich die Situation seit 2011 so radikal verändert hat, ist vor allem drei Faktoren geschuldet:

Erstens – und das wird oft auch von Madrider Linken verdrängt – ist die spanische Mehrheitsgesellschaft von einem im Frankismus geformten zentralstaatlichen Nationalismus bestimmt. Die Transición, also der Demokratisierungsprozess nach Francos Tod 1975, beruhte auf einem Elitenpakt, der PSOE und Kommunistischer Partei zwar eine politische Teilhabe eröffnete, im Gegenzug jedoch grundlegende Machtstrukturen der Diktatur intakt ließ: Die Rechte wahrte sich Schlüsselfunktionen in Justiz, Wirtschaft und Sicherheitsapparaten; mit König Juan Carlos wurde, wie von Franco gewünscht, eine Monarchie installiert; die unter dem Säbelrasseln der Militärs zustande gekommene Verfassung setzte einer zukünftigen Demokratisierung enge Grenzen; vor allem jedoch verhinderte die Transición eine Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur.

Dieses Erbe bestimmt das politische Klima bis heute. Die spanische Mehrheitsgesellschaft hat keinen Begriff davon, dass der Frankismus eben nicht nur ein politisches Projekt gegen die Linke war, sondern auch eine ethnische Homogenisierung forcierte. Basken und Katalanen sollten als Kultur- und Sprachgemeinschaften ausgelöscht oder assimiliert werden. Francos Spanien beruhte somit auf einer doppelten Spaltung der Gesellschaft in Sieger und Besiegte: Faschisten und Linke, die spanische Mehrheitsgesellschaft und die Minderheiten.

Obwohl mit den Autonomiestatuten von 1978 wichtige sprach- und wirtschaftspolitische Kompetenzen an die Regionalregierungen abgetreten wurden, besteht diese Teilung der Gesellschaft im Prinzip bis heute fort. Da die Verbrechen der Sieger nie geächtet wurden, ist das Trauma der Niederlage im kollektiven Bewusstsein der Minderheiten präsent.

Zweitens scheint eine föderale und republikanische Reform, wie sie sich 40 Jahre nach Franco eigentlich aufdrängt, innerhalb des Systems unmöglich. Die PSOE-Regierung unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (2004-2011) kann hierfür als Beleg gelten. Zapatero repräsentierte den fortschrittlichsten Flügel der PSOE und unternahm nach seiner Amtsübernahme wichtige Anstrengungen, um eine zweite Phase der Transición einzuleiten. Der katalanischen Regionalregierung, die zu diesem Zeitpunkt von einer Dreiparteienkoalition aus PSC (dem Regionalverband der PSOE), ERC und ICV gestellt wurde, signalisierte er die Unterstützung bei der Reform des Autonomiestatuts. Gleichzeitig nahm er Verhandlungen mit der baskischen Separatistenorganisation ETA auf. Doch die zentralstaatlichen Kräfte – auch in der PSOE selbst – unterliefen diese Annäherungsversuche. Innenminister Rubalcaba, heute Vorsitzender der PSOE, blockierte jede vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der baskischen Unabhängigkeitsbewegung, die als PSOE-nah geltende Tageszeitung El País streute Geheimdienstberichte und Falschmeldungen, die das Klima bei den Gesprächen verschlechterten, und die von der Rechten dominierten Asociaciones de Víctimas del Terrorismo (Verbände der Terrorismusopfer) brachten Hunderttausende auf die Straße. Als das neue katalanische Autonomiestatut schließlich vom Parlament in Madrid blockiert wurde, zeigte sich, dass die republikanische und föderale Reform Spaniens offensichtlich nicht einmal unter einem PSOE-Regierungschef möglich war. Für die katalanische Gesellschaft war das eine frustrierende Erfahrung.

Drittens schließlich wirkte die ökonomische Krise ab 2008 wie ein Katalysator der Entwicklung. Obwohl die Staatsverschuldung Spaniens mit 42% des BIP deutlich unter dem deutschen Vergleichswert (65%) lag[2], zwang die EU das Land zu massiven Sozialkürzungen. Die freigewordenen Finanzmittel wurden zur Rettung spanischer Privatbanken eingesetzt, deren Konkurs in erster Linie von deutschen und französischen Großbanken gefürchtet wurde. Aufgrund des Spardiktats beschnitt Madrid auch die Autonomiehaushalte[3]. Obwohl Katalonien der wichtigste Nettobeitragszahler innerhalb Spaniens ist, wurde der Region vom Zentralstaat eine eiserne Austeritätspolitik aufgezwungen. Als die katalanische Generalitat daraufhin eine Reform des Transfersystems verlangte, reagierte das politische Madrid nur mit Spott über den sprichwörtlichen, vermeintlichen „Geiz“ der Katalanen.


Unabhängigkeit als konstituierender Prozess?

Das für November geplante Referendum sieht nun eine Doppelfrage vor: „Wollen Sie, dass Katalonien ein Staat wird?“ Für diejenigen, die die erste Frage mit „Ja“ beantworten, folgt die Anschlussfrage: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat wird?“ Mit dieser Formulierung wird versucht, das Plebiszit so integrativ wie möglich zu gestalten. ERC, CUP und die Mehrheit der bürgerlichen CIU halten mittlerweile jede Verständigung innerhalb Spaniens für unmöglich und plädieren für eine vollständige Loslösung. Teile der Zehnprozent-Partei ICV und eine Minderheit der sozialdemokratischen PSC hingegen wünschen sich zwar ein souveränes Katalonien, treten gleichzeitig aber auch für einen föderalen Verbund mit Spanien ein. Würde heute gewählt, würden sich wohl zwei Drittel der Katalanen für eine Souveränität (also das Recht auf Selbstbestimmung) aussprechen und eine knappe absolute Mehrheit für die volle Unabhängigkeit.

Doch ob es wirklich zum Referendum kommt, ist mehr als zweifelhaft. Die spanischen Parteien PP, PSOE und UPD haben bereits angekündigt, dass sie eine Volksabstimmung mit allen Mitteln verhindern wollen. Die PP hat offen mit dem Einsatz der Staatsgewalt und der Absetzung der Autonomieregierung gedroht, die PSOE den Konservativen ihre Unterstützung bei der Verteidigung der Einheit Spaniens angeboten. Es scheint, als wolle das politische Madrid die katalanische Skepsis erneut bestätigen: Eine demokratische Befragung der Bevölkerung ist nicht erwünscht. Was in Montenegro oder Schottland als Selbstverständlichkeit erscheint, wird vom spanischen Staat als Verbrechen bekämpft. Die Angst um den Verlust des industrialisierten Nordens ist dabei nur ein Motiv. Noch gewichtiger ist das nationalistische Erbe des Frankismus, das die spanische Mehrheitsgesellschaft untergründig nach wie vor prägt.

Die in Rest-Spanien so oft zu hörende These vom Wohlstandschauvinismus der Minderheiten greift deshalb zu kurz. Auch wenn so mancher Katalane darauf spekuliert, dass seine Region ohne die Transferzahlungen nach Andalusien besser dastehen könnte, geht es bei dem Konflikt nicht in erster Linie ums Geld. Mindestens ebenso wichtig ist der Wunsch nach einer Demokratisierung der Gesellschaft und nach politischen und sozialen Alternativen. Für viele katalanische Linke erscheint die Unabhängigkeit angesichts der Kräfteverhältnisse in Spanien heute einfach als realistischste Option, um mit der autoritären und neoliberalen Politik zu brechen.

Dass die Unabhängigkeit tatsächlich neue Möglichkeiten eröffnen würde, zeigt sich im Baskenland noch deutliche. Die baskische Gesellschaft wurde durch den fortgesetzten Konflikt mit Madrid so nachhaltig politisiert, dass sie den Rechtsruck, den Spanien und ganz Europa seit 1980 erlebt hat, nur sehr begrenzt mit vollzogen hat: Die baskischen Gewerkschaften LAB und ELA stehen deutlich links von den spanischen CCOO und UGT. Sozial-, innen- und migrationspolitisch hat die baskische Christdemokratie mehr Gemeinsamkeiten mit der PSOE als mit der PP. Und mit 25 Prozent der Wählerstimmen gehört die institutionenkritische und dezidiert linke Wahlkoalition EH Bildu zu den stärksten Linksparteien Europas. Dieser gesellschaftliche Druck eröffnet Möglichkeiten für eine andere Politik. So ist die von Bildu regierte Provinz Gipuzkoa die einzige Region im spanischen Staat, die Sozialkürzungen verhinderte, indem sie Unternehmens- und Spitzensteuersätze erhöhte.

In Katalonien hat die Unabhängigkeitsbewegung einer weniger klares Profil. Vom kleinbürgerlichen Katalanismus der CIU-Anhänger bis hin zu den antikapitalistischen Vorstellungen der CUP ist hier alles vorhanden. Doch eines sticht auch hier ins Auge: Die regionalen Unternehmerverbände haben kein Interesse an der Unabhängigkeit. Das Kapital des 21. Jahrhunderts schätzt zwar den mit Steuersätzen, Tarifverträgen und Subventionen ausgetragenen Standortwettbewerb zwischen den Regionen. Doch eine „Kleinstaaterei“, die die Gefahr birgt, die Bevölkerung gegenüber den Institutionen zu ermächtigen, ist ihm ein Gräuel.

So trägt die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens letztlich auch Züge eines konstituierenden Prozesses. Denn mit der Loslösung von Spanien müssten die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens neu verhandelt werden. Und genau das ist – obwohl die Grenzen für einen emanzipatorischen Prozess unter Weltmarktbedingungen eng gesteckt sind – für die meisten Linke in der Region heute entscheidend. Niemand in der Unabhängigkeitsbewegung schlägt ernsthaft einen Austritt Kataloniens aus der EU vor. Die Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik werden also die alten bleiben. Doch auch in Katalonien würde sich wohl eine demokratischere und wahrscheinlich auch sozialere Politik durchsetzen als heute in Spanien.

Es stimmt zwar, dass es auch in anderen Regionen Bemühungen gibt, sich von der Zwangsjacke der Transición zu befreien. So debattieren spanische Linke heute über einen verfassunggebenden Prozess wie in Lateinamerika. Doch die nationalen Minderheiten haben eben auch die Erfahrung gemacht, dass derartige Kämpfe innerhalb Spaniens selten zu gewinnen sind. Das Drängen nach einem eigenen demokratischen Raum ist aus dieser Perspektive durchaus verständlich.

Wenn das politische Madrid den legitimen Wunsch seiner Minderheiten nach einem Referendum wirklich mit Gewalt unterdrückt, wird der Bruch endgültig sein. Spanien steht am Abgrund, aber weder Madrid noch die Verbündeten in Europa scheinen zu verstehen, was im Gange ist.

Raul Zelik


[1]            Vgl. ERC confirma el ‚sorpasso’ a CiU, in: „El País“, 2.11.2013.

[2]            Vgl. den OECD-Bericht „Die OECD in Zahlen und Fakten 2011-2012“.

[3]            Die einzige Ausnahme sind die baskischen Provinzen Araba, Gipuzkoa und Bizkaia, die aus historischen Gründen 1979 eine Steuerautonomie erhielten.

 

 

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien