(Für die Berliner Zeitschrift Arranca und die Wiener Volksstimme geführtes Interview mit Elmar Altvater Professor für Politikwissenschaften an der FU Berlin.)

In einem Interview mit dem Neuen Deutschland wurden Sie vor einiger Zeit gefragt, wie „man die Globalisierung stoppen könne“. Die Fragestellung ist drollig. Warum sollte man technologisch-ökonomische Entwicklungen stoppen?

Ich habe auch nicht behauptet, daß man die Globalisierung stoppen soll. Der Titel des von Brigitte Mahnkopf und mir verfaßten Buchs zu dem Thema heißt „Grenzen der Globalisierung“. Darin vertreten wir, daß, wenn man nur der ökonomischen Logik folgt, nicht nur die Umwelt, sondern soziale Systeme zerstört werden, die in Hunderten von Jahren in Kämpfen entstanden sind. Das heißt, daß - um es vorsichtig auszudrücken - auch demokratische Beteiligungsmöglichkeiten beschränkt werden.

Um das zu verhindern, muß man die ökonomischen Globalisierungstendenzen, wie es der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi gesagt hat, wieder in ein Bett sozialer und politischer Regulierung einfügen.

Globalisierung ist ein Begriff, der für alles und nichts verwendet wird. Was beschreibt er überhaupt?

Globalisierung ist die Kehrseite der Deregulierung. Das heißt die Abschaffung von Grenzen, und zwar nicht nur territorialer Art, sondern aller Arten von Schranken, die den ökonomischen Prozessen gesetzt sind: z.B. Zölle, Steuern, soziale Sicherungssysteme etc. Seit Mitte der 70er der Jahre haben wir in allen kapitalitischen Ländern der Welt einen solchen Deregulierungsprozeß, seit 1989 auch in den osteuropäischen Staaten, die bis dahin sehr hoch reguliert waren. Damit jedoch wird zerstört, was in den letzen 200 Jahren in heftigen Auseinandersetzungen errichtet wurde. Und das ist der Hintergrund, wenn zum Beispiel die Lissabon-Gruppe heute wieder davon redet, daß internationaler Sozialpakt geschlossen werden muß.

Also ist Globalisierung nicht allein die Tatsache, daß der internationale Warenaustausch zugenommen hat...

Die Zunahme des internationalen Warenhandels ist in diesem Zusammenhang tätsächlich völlig unwichtig. Schon Anfang des Jahrhunderts gab es in den kapitalistischen Ländern ähnlich hohe Exportquote wie heute. Das wird im Moment ja auch oft als Argument dafür benutzt, daß es gar keine Globalisierung, sondern bestenfalls eine „Triadisierung“ (1) gebe.

Aber Globalisierung ist eben nicht die Tatsache, daß heute mehr internationaler Warenhandel stattfindet. Eine solche Zahl ist ja nur davon abhängig, wie ich messe. Wenn ich die EU als Zollbereich betrachte und an den Außengrenzen messen würde, dann müßte ich feststellen, daß es keine Globalisierung, sondern nur eine Europäisierung gibt. Der Großteil der international gehandelten deutschen Waren bleibt in der EU. Wahrscheinlich würde ich sogar, wenn ich an den Grenzen Kreuzbergs messen würde, merken, daß 50-60% der Wirtschaftsaktivitäten Kreuzbergs auch dort bleiben, z.B. sämtliche Dienstleistungen.

Aber darum geht es nicht. Den Begriff „Globalisierung“ gibt es seit den 70er Jahren, davor sprach man in Anlehnung an Lenin von „Imperialismus“ - und das mit gutem Grund. Das Hinausstreben von Waren und Kapital über die Grenzen hinweg erschien damals als Expansion des Nationalstaats. Zu Beginn des Ersten Weltkrieg z.B. gerieten die Nationalstaaten miteinander in Konflikt, weil sie ihre Kapitalakteure unterstützen wollten.

Heute wäre das undenkbar. Nicht die Nationalstaaten unterstützen nationales Kapital, sondern die global operierenden ökonomischen Einheiten machen sich Steuersysteme und Staaten allgemein zunutze, um Regulierungsdifferenzen profitlich auszunutzen. Das ist etwas grundlegend anderes als vor 100 Jahren und wer das nicht begreift, der hat nicht verstanden, um was es heute geht.

Sie zeichnen in ihrem Buch ein sehr fortschrittsskeptisches Bild. Wenn man sich aber anschaut, welche technischen Entwicklungen der Globalisierung zugrundeliegen, dann muß man doch zu einer widersprüchlicheren Einschätzung kommen. Immerhin bieten die Kommunikationswege das Internet auch gewaltige emanzipatorische Chancen.

Ich habe nicht behauptet, daß diese Entwicklungen grundsätzlich schlecht sind. Es ist wunderbar über das Internet kostengünstig, schnell und sicherlich auch demokratisch miteinander kommunizieren zu können - zumindest solange das Netz noch öffentlich zugänglich ist, was sich ja durchaus ändern kann. Aber wir müssen diese Möglichkeiten demokratisch-partizipatorisch regulieren, wir müssen sie - nennen wir es ruhig so - der Kontrolle unterwerfen, damit die Globalisierung ihre demokratischen Funktionen erfüllen kann. Momentan dient sie nämlich nicht der Erweiterung demokratischer Rechte oder der Wohlstandsmehrung aller Menschen, sondern sie trägt dazu bei, daß das Reichtumsgefälle zunimmt.

Ein wesentlicher Punkt Ihrer Globalisierungskritik ist die Frage nach dem Geld. Sie haben unterstrichen, daß heute nur noch 1% der auf den Weltwährungsmärkten umgesetzten Geldmenge für die Abwicklung von Güteraustausch notwendig sei. Zum anderen haben Sie immer wieder betont, daß sich das Geld verselbständigt, daß Kapital angehäuft wird, das keine Entsprechung mehr in Gebrauchswerten findet. Welche Funktion hat Geld heute überhaupt noch?

Nach Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich werden täglich 1600 Milliarden US-Dollar auf den Weltdevisenbörsen umgesetzt. Davon werden höchstens 5% als Zirkulationsmittel verwendet, der Rest dient als Zahlungsmittel - eine Funktionsunterscheidung des Geldes, die man bei Marx nachlesen sollte.

Diese 95% Spekulation darf man sich allerdings nicht so vorstellen, daß dort schräge Vögel oder Halbkriminelle mit Geld spielen. Spekulieren müssen alle und wo spekuliert wird, gibt es auch immer Leute, die Risiken loswerden wollen, die also genau das Gegenteil von dem machen, was der Spekulant tut. Ein unauflöslicher Widerspruch jeder Geldwirtschaft.

Was wir heute auf den Weltwährungsmärkten beobachten können, ist tatsächlich die Herauslösung des Geldes aus materiellen Prozessen. Dies findet in den Derivaten (2) seinen höchsten Ausdruck, wo Geld von Geld von Geld in vielen Stockwerken abgeleitet wird. In Deutschland haben diese Derivate von 1987 bis 97 um das 23-fache zugenommen. Bei einigen dieser Papiere betragen die Zuwachsraten das 500-fache. Das hat offensichtlich nichts mehr mit realen ökonomischen Prozessen zu tun. Ein solches Wachstum entsteht ausschließlich aus der Eigendynamik des Geld.

Andererseits darf man sich diese Angelegenheit aber auch nicht so vorstellen, daß das Geld nun von der materiellen Welt völlig losgelöst wäre. Letztlich müssen die Erträge, die das Geld erwirtschaften soll, auch real da sein, und wenn sie es nicht mehr sind, wird das Geld entwertet.

Früher vollzog sich das in Form von Inflation. Da man diese aber heute unterbindet, kann nur noch durch Finanzcrashs entwertet werden. 1994 haben wir in Mexico und 1997/98 in den südostasiatischen Länder genau das beobachten können. Solche Crashs sind also Mechanismen, die immer wieder die Anpassung der Geldsphäre an die reale Sphäre besorgen. Nur daß dabei die Lebens-und Arbeitsbedingungen der Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Diese Crashs stellen also keine grundlegende Gefährdung des Kapitalismus dar?

Das ist schwer vorherzusagen. Bislang hat bei allen Crashs die internationale Regulation eingesetzt, sobald große Geldvermögen gefährdet waren. 1994 machte der IWF gemeinsam mit den USA in wenigen Tagen um die 50 Milliarden Dolars locker, um die Krise in Mexico zu stoppen. Was dann auch gelang.

Diese Maßnahme war notwendig, weil sonst Pensionsfonds mit pleite gegangen wären und einigeHunderttausend Rentner in den USA auf einmal ohne Rente dagesessen wären. Die Pensionfonds müssen heute nämlich wie wild in der Welt herumspekulieren, um die Renten finanzieren zu können. Das heißt, die Alterssicherung wird von der Funktionsweise des globalen Finanzsystems abhängig gemacht - eine außerordentlich gefährliche Angelegenheit, wie man sich vorstellen kann.

Genau deswegen läßt sich aber auch so schwer vorhersagen, wie die Auswirkungen in der Zukunft aussehen werden. Wenn es bei einem Finanzkrach nicht mehr gelingt, Pleiten zu verhindern, könnten Rentensysteme in den entwickelten Ländern aus den Fugen geraten, vor allem in den USA, aber auch in Europa. Und welche Konsequenzen das wiederum haben würde, kann man sich ausmalen. Es wäre nicht nur eine ökonomische Krise, sondern hätte auch politische Konsequenzen; ich befürchte, nicht nur positive, sondern vor allem negative.

Also auch wenn der Zusammenbruch des Kapitalismus nicht unmittelbar bevorsteht, so werden weitere Finanzcrashs die bestehenden Verhältnisse doch grundlegend verändern.

Nein, der Kapitalismus steht nicht vor seinem sofortigen Ende. Bislang ist es immer noch gelungen, mit gewaltigen Finanzspritzen - im Fall Asiens 80 Milliarden Dollar - den Zusammenbruch abzuwenden. Aber ob das auf Dauer gelingen kann, ist die große Frage.

Sie schlagen in „Grenzen der Globalisierung“ vor, die Diskussion über Staatsschulden in eine Diskussion um Geldvermögen zu verwandeln...

Natürlich, wenn man öffentliche Schulden verringern will, muß man auch private Geldvermögen reduzieren. Genau das geschieht heute auch in Form von Privatisierungen. Öffentliches Eigentum wird als „Debt-for-public-equity-swap“ in privates Eigentum verwandelt. Dadurch werden öffentliche Räume in private Hand übergeben und sind - wie zum Beispiel das Bildungswesen - nicht mehr für alle zugänglich. Wenn der Zugang zu solchen Räumen über den Markt geregelt wird, bedeutet das auch einen erheblichen Demokratieverlust.

Aber nun ist es ja so, daß die öffentlichen Schulden in den Industriestaaten nicht dadurch zustande gekommen sind, daß private Geldvermögensbesitzer den Staat angebettelt haben, ihnen ihr Vermögen abzunehmen, sondern umgekehrt haben die keynesianistischen Regierungen „deficit spending“ betrieben: mit kreditfinanzierten Staatsausgaben sollte die Volkswirtschaft angekurbelt werden...

Die Keynesianische Strategie zielte darauf ab, die in schlechten Konjunkturzeiten gemachten Schulden während einer Hochkonjunktur durch höhere Staatseinnahmen wieder ausgleichen und abbezahlen zu können. Das hat lange funktioniert. Die große Verschuldung begann erst Mitte der 70er Jahre, als die Nachkriegsprosperität zu Ende ging.

Man kann sich nun darum streiten, woran das lag. Die Neoklassiker werden behaupten, daß sich der Staat durch ein „crowding out“, durch Verdrängung der Privaten, selbst um Einnahmen gebracht hat. Man könnte aber auch ganz einfach saldenmechanisch argumentieren: Der private Sektor hat die Kreditangebote nicht mehr aufgesaugt, weil die produktive Investitionen nicht mehr rentabel genug erschienen. Die Geldvermögensbesitzer mußten sich also woanders Schuldner für ihr Geld suchen und haben das zum Teil in der Dritten Welt gemacht, wo sie Billigstkredite zu sehr günstigen Konditionen vergeben haben. Das hat in den 80ern, als die Zinsen stiegen und die Rohstoffpreise fielen, zur Schuldenkrise geführt. Die Länder der Dritten Welt waren nicht mehr in der Lage, ihren Schuldendienst zu bedienen. Einen ähnlichen Effekt führte zur Verschuldung der öffentlichen Hand in den Industrieländern.

Letztlich ist eine überflüssige Frage, wer den Anfang gemacht hat - die Privaten oder der öffentliche Sektor. Es waren beide.

Die Beschäftigungsverhältnisse werden im Rahmen der Globalisierung prekärer, was heute auch als Bestandteil der „Feminisierung der Arbeit“ begriffen wird. Immer mehr Frauen lohnarbeiten und übernehmen mehr als Dreiviertel der Zeitarbeitsjobs. Wie erklärt sich dieser Widerspruch, daß die Globalisierung einerseits einen universalistischen Anspruch formuliert, andererseits jedoch geschlechtsspezifische und rassistische Trennungskriterien spürbar verschärft?

Die Bielefelder Schule um Claudia von Werlhof hat schon vor langer Zeit von der „Hausfrauisierung der Arbeit“ in der Dritten Welt gesprochen - also von ungarantierten, völlig abhängigen Arbeitsverhältnissen, die mit dem klassischen Lohnproletariat, wie es in Europa vorherrschte, nicht viel zu tun haben.

Für diese These spricht einiges. Die Lebensbedingungen eines 5 Milliarden Menschen umfassenden Weltproletariats tendieren dazu sich anzugleichen, und zwar nicht nach oben, sondern nach unten. Dabei spielen die internationalen Kapitalbewegungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auf dem globalisierten Weltmarkt strebt man nach Produktivitätssteigerungen, die am Standort begrüßt werden, weil sie die Exportfähigkeit erhöhen. Insgesamt gesehen führen die Produktivitätssteigerungen jedoch weltweit zu einem Arbeitsplatzabbau. So wächst - in den Weltregionen zwar sehr ungleich verteilt, aber doch im globalen Maßstab - das Heer der Arbeitslosen.

Die Internationale Arbeitsorganisation spricht von 700 Millionen Menschen, die arbeitslos oder prekär beschäftigt sind. Eine erschreckende Zahl, wenn man berücksichtigt, daß jeder und jede dieser Arbeitslosen Familienangehörige zu versorgen hat. Es sind also Milliarden von Menschen von dieser Situation betroffen. Das beweist noch einmal eindringlich, daß die Globalisierung die Lebensverhältnissen eben keineswegs angleicht.

Wo der Begriff gerade gefallen ist - inwieweit macht es überhaupt Sinn von „Weltproletariat“ zu reden, wenn immer mehr Leute außerhalb des Wertschöpfungsprozesses stehen und nur noch Dienstleistungen anbieten, die von den Kapitalbesitzern und Besserverdienenden konsumiert werden?

Man kann natürlich den Begriff „Weltproletariat“ in Frage stellen, weil die Arbeitsmärkte nicht so globalisiert sind, wie das bei den Finanzmärkten der Fall ist. Das liegt in der Natur der Arbeit, die ihre kulturellen Bindungen hat; Sprachen sind Grenzen der Globalität, und Arbeit ist deutlich weniger flexibel als Kapital.

Aber auch die Arbeit wird allmählich mobiler. Insofern kann man in der Tendenz von einer Art Weltproletariat reden, auch wenn es noch nicht hergestellt ist.

Außerdem muß man den Begriff richtig verwenden: Zum Proletariat gehören immer auch diejenigen, die keinen Job haben. Es sind alle, die ihre Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft oder aus sozialen Versicherungssystemen beziehen müssen. Und dazu gehören natürlich auch die Dienstboten. Wenn man sich etwa den Bericht der Zukunftskommission von Sachsen und Bayern anschaut, dann gibt es ganz offensichtlich die Absicht, wieder eine Dienstbotengesellschaft herzustellen. Die Löhne sollen so stark abgesenkt werden, daß es sich für Besserverdienende, also auch höhere Arbeitnehmer und Mittelschichtsfrauen, lohnt, wie im vorigen Jahrhundert Dienstboten einzustellen. Das bringt eine Spaltung in die Gesellschaft, von der wir geglaubt hatten, daß sie durch die sozialstaatlichen Regelsysteme überwunden sei.

Sie haben den internationalen Abbau von Arbeitsplätzen erwähnt. Stehen wir damit vor dem Ende der Lohnarbeitsgesellschaft oder vielmehr vor dem Anfang einer neuen Niedriglohnarbeitsgesellschaft?

Das Ende der Lohnarbeitsgesellschaft ist ein völlig irreführendes Schlagwort. So wie man bei den Schulden auch an Geldvermögen denken muß, so muß man bei der Lohnarbeit auch vom Kapital reden. Wenn Leute heute vom Ende der Lohnarbeitsgesellschaft sprechen, müßten sie eigentlich vom Ende des Kapitalismus reden. Nur das tun sie nicht. Infolgedessen ist das eine nicht besonders schlüssige Sprachregelung.

Tatsächlich machen sich heute wieder Tendenzen bemerkbar, die im Kapitalismus immer wirksam waren, nämlich die Freisetzung von Arbeitskraft. Der Kapitalismus ist eine sehr widersprüchliche Gesellschaft. Auf der einen Seite braucht er die Arbeit, um Wert überhaupt produzieren zu können, auf der anderen macht er sich von der Arbeit immer wieder frei. Das heißt, man findet im kapitalistischen dominierten Sektor keine Arbeit mehr. Dagegen könnte man natürlich sagen, wir müssen den nicht-kapitalistischen Sektor ausweiten und Leute dort beschäftigen, aber ob das möglich ist, ist eine völlig offene Frage. Um so etwas möglich zu machen, muß gekämpft werden.

Ansonsten wird es auf globaler Ebene eine Spaltung zwischen den Beschäftigten und denen, die keine Arbeit mehr finden, geben. Man muß sich daran erinnern, was Rosa Luxemburg gesagt hat: Unter kapitalistischen Bedingungen ist es schlimm, ausgebeutet zu werden, aber noch schlimmer ist es, nicht ausgebeutet zu werden, also arbeitslos zu sein. Weil davon alles abhängt: Einkommen, Identität, Würde. Der Kapitalismus ist Arbeitsgesellschaft, aber gleichzeitig eine Gesellschaft, die diese Arbeit immer wieder abschafft.

Wenn man Gramsci darin folgt, daß Herrschaft nicht vorrangig offene Unterdrückung, sondern Konsens ist, dann verändert sich gerade einiges. Der Klassenkompromiß, wie er in den westlichen Industriestaaten 40 Jahre lang bestand, wird seit Ende der 70er Jahre von Kapitalseite aufgekündigt. Muß bürgerliche Herrschaft jetzt durch Ideologie und Repression das ausgleichen, was sie an Konsens verliert?

Nein, es bieten sich ja durchaus noch Rückzugsmöglichkeiten und Alternativen. Wenn es beispielsweise 1997/98 an der Hochschule keinen erfolgreichen und machtvollen studentischen Streik gab, dann deswegen, weil die einzelnen Studis die Möglichkeit hatten, ihr Problem individuell zu lösen. Viele sind jobben gegangen, andere fanden es auch gar nicht tragisch, Gebühren zu zahlen, weil ihre Eltern das Geld dazu haben. Der Markt wird es schon richten, denken sich viele, denn das, was der Markt tut, gilt in irgendeiner Weise als gerecht. Diese Akzeptanz findet man auch immer stärker in Europa. Der Neoliberalismus als Ideologie ist sozusagen der entwickeltste Ausdruck dieses Sachverhalts.

Bei solchen Vorstellungen braucht man keine Repression mehr einzusetzen. Die Leute sind zwar mit der Entwicklung nicht glücklich, aber sie können in irgendeiner Weise überleben. Das ist eine Perspektive, die möglicherweise überraschend stabil sein wird, und den Gedanken an soziale Reformen oder sogar eine soziale Revolution völlig unrealistisch erscheinen lassen. Natürlich kann es auch passieren, daß Krisentendenzen die Überhand gewinnen. Daß beispielsweise nach einem finanziellen „melt down“ nicht nur die Schuldner aufgepeppelt werden müssen und nicht nur die Menschen in Mexico oder Asien Reallohnsenkungen zu erleiden haben, sondern daß dieser Crash auf die Pensionsfonds und Rentensysteme durchschlägt. Was dann passiert, wage ich nicht vorherzusagen. Ich hoffe auch nicht, daß es dazu kommt. Selbst wenn man der Meinung ist, daß das kapitalistische System abgeschafft werden muß, ist es keine gute Perspektive.

Natürlich sind in der Zukunft durchaus wieder autoritäre Lösungen vorstellbar, aber diese würden ganz anders aussehen, als wir das aus der Vergangenheit kennen. Das hat damit zu tun, daß die Nationalstaaten nicht mehr die entscheidenden Akteure sind, sondern die großen ökonomischen Akteure: Unternehmen, Banken, internationale Institutionen etc. Diese können durchaus autoritär regieren, aber eben nicht, wie wir das vom Faschismus kennen.

... der würde als nationalstaatliche Option nur dann Sinn machen, wenn die Weltwirtschaft zusammenbricht...

Ja, wenn alle in einer globalen Krise als letztem Notanker zu den Nationalstaaten zurückkehren, wäre auch Faschismus wieder vorstellbar. Aber das ist eher unwahrscheinlich.

Die destruktive Kraft des Kapitalismus ist unübersehbar. Sie haben in der Vergangenheit sehr radikale Kritik geleistet, aber strategisch schlagen sie dann doch immer wieder nur eine bessere Regulation des Kapitalismus vor. Sie reden von einem neuen globalen Gesellschaftsvertrag und der Bedeutung einer ökologischen Reformpolitik.

Warum ist das ein Widerspruch? Selbst wenn man noch so radikal ist, ist im Moment keine Alternative zum Kapitalismus realistisch durchsetzbar. Es gibt keinen Konsens in der Bevölkerung über Alternativen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Selbst die Elendesten sind nicht zu einer Revolution bereit. Vielleicht später einmal, aber ich weiß nicht, wann dieses „später“ sein soll.

Es gibt also nur irgendeine reformistische Lösung. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen und dabei Konsens erzeugen, denn ansonsten wäre Veränderung wieder nur ein autoritäres Projekt, das - wie die realsozialistischen Staaten eindringlich gezeigt haben - dem Untergang geweiht ist.

Aber man erzeugt dadurch die Illusion, daß das bestehende System gar nicht so schlecht ist, wenn es nur richtig reguliert wird...

Sicher, aber Illusionen schafft man auch, wenn man sagt „laß es laufen, wie es läuft, danach wird schon etwas anderes kommen“. Man muß mit einer Perspektive leben können. Es ist schizophren zu sagen, daß man revolutionär, links und radikal ist, aber dann nichts macht, um die Zustände jetzt sofort zu verändern. Wenn ich nichts zu tun beabsichtige, brauche ich auch nicht zu denken.

(1) Als „Triade“ werden die drei großen Wirtschaftsblöcke Nordamerika, Westeuropa und Japan mit seinen asiatischen Partnern bezeichnet.

(2) Derivate sind eine besondere Form von an der Börse gehandelten Papieren. So wird zum Beispiel das Kaufrecht, eine Ware zu einem bestimmten Preis erweben zu können, als Derivat gehandelt. Ein solcher Berechtigungsschein (der mir z.B. erlaubt am 1.9. ein Kilo Orangen zu 2,50 DM zu kaufen) schützt mich vor unvorgesehenen Preisentwicklungen. Steigt der Orangenpreis wegen Frost auf über 2,50 DM, vermeide ich durch meine Vorvereinbarung Verluste. Das Problem an diesen Kaufberechtigungen ist, daß sie, wenn der Orangenpreis unter 2,50 DM fällt, völlig wertlos sind. Extreme Gewinne und völlige Kapitalvernichtung liegen als ganz nah beieinander, und das ist auch der Grunde, warum der Derivatenhandel für so viele Pleiten von großen Börsenmaklern verantwortlich waren.

 

 

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien