Der Bremer Sozialökonom Holger Heide hat das Phänomen Arbeitssucht untersucht

Es war der trostlose Höhepunkt eines trostlosen PDS-Wahlkampfs: »Arbeit soll das Land regieren«. Und frei soll sie machen, war die naheliegende Assoziation, und Fleiß und Disziplin könnte man auch wieder mehr Gewicht beimessen.

Die Fetischisierung der Arbeit, schlimmer noch: der Lohnarbeit, gehört zu den großen Erblasten der sozialistischen Bewegung. Lässt sich die Idealisierung handwerklicher Kompetenz im 19. Jahrhundert noch als Ausdruck eines erwachenden proletarischen Selbstbewusstseins interpretieren, so verbietet sich seit dem Nationalsozialismus jede positive Bezugnahme auf den Arbeitsbegriff. Die gesellschaftliche Durchorganisierung im Rahmen der Arbeitsfront, die Unterscheidung in »produktive« und »parasitäre« Existenzen, die Huldigung »deutscher Leistungsfähigkeit«, die Vernichtung von »ineffizientem« Leben und der millionenfache Mord durch Zwangsarbeit folgen einem gemeinsamen Prinzip.

Doch der Nationalsozialismus ist nicht das einzige Beispiel, wie Herrschaft und Arbeitsbegriff miteinander verknüpft sind. Thompson und andere haben gezeigt, mit welcher Brutalität zu Beginn der Industrialisierung vorgegangen wurde, um bäuerliche Unterklassen in die neuen Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Tatsächlich wäre die Industrialisierung nirgends auch in den sich heute als zivilisiert definierenden Gesellschaften nicht ohne Zwangsarbeit, grausame Repression gegen die Arbeitsverweigerer und den hunderttausendfachen Tod durch Erschöpfung möglich gewesen. Selbst die Tatsache, dass diese Phase gewalttätiger Unterwerfung in den Industriestaaten schließlich beendet wurde, hat weniger mit einem wachsenden sozialen Bewusstsein im Kapitalismus zu tun als vielmehr mit dem Entstehen eines Erziehungswesens, das schon Kleinkinder zu Selbstdisziplinierung und Leistungsbereitschaft dressiert. Konkurrenz, Versagensängste und Befriedigung durch Erfolg werden im Verlauf dieser Erziehung so stark verinnerlicht, dass niemand mehr mit Prügeln zur Arbeit getrieben werden muss.

Holger Heide, der in Bremen Sozialökonomie lehrt, beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit diesem Zusammenhang von Arbeit und Herrschaft und ist dabei mittlerweile beim Thema Arbeitssucht angelangt. Es lohnt, den von ihm dabei zurückgelegten Weg nach zu verfolgen. Heides besonderes Augenmerk galt lange einem Land, in dem die ursprüngliche Akkumulation erst Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzte: Südkorea. Mittlerweile dürfte sich herumgesprochen haben, dass der Sprung vom Agrarstaat zur Tigerökonomie nicht einem angeborenen ostasiatischen Fleiß, sondern der Militärdiktatur von Park Chung Hee und einer ganz und gar nicht freihandelsorientierten Planungspolitik der Regierung zu verdanken war. Heide hat darüber hinaus jedoch zu erklären versucht, wie die so genannte Entwicklungsdiktatur die kollektive Bewusstseinsstruktur für das Wirtschaftswunder schuf. Er geht dabei von der Frage aus, warum sich Menschen aktiv an der Reproduktion von Verhältnissen beteiligen, die sie letztlich immer weiter knechten und von ihren Bedürfnissen entfremden. Äußerer Zwang, so Heide, könne nicht der einzige Grund für ein solches Verhalten sein. Vielmehr müsse man untersuchen, wie Menschen aufgezwungene Wertvorstellungen verinnerlichten und sich somit in funktional handelnde Subjekte verwandelten.

Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage hat Heide in den vergangenen Jahren auf Erkenntnisse aus der Verhaltenspsychologie zurückgegriffen. Diesen zufolge versuchen Kinder, die zu Opfern sexuellen Missbrauchs werden, sich ihrer Ohnmacht durch »die Identifikation mit dem Aggressor« zu entziehen. Der fremde Willen wird zum eigenem gemacht und damit eine Teilhabe an der Allmacht des Angreifers vorgetäuscht. Heide behauptet nun, dass auch Gesellschaften häufig ähnlich reagierten, und bemüht sich dies am Beispiel Südkoreas nachzuzeichnen. Der Krieg in den 50er Jahren und die gewalttätige Unterwerfung der emanzipatorischen Bewegungen (bis zum berüchtigten Kwangju-Massaker 1980) hätten die Bevölkerung dazu gebracht, jene grauenvolle Leistungsphilosophie zu übernehmen, für die die koreanische Gesellschaft heute so berüchtigt ist (Stichworte: »Number One-Ideologie«, »Tod durch Arbeit«). Da jedes Aufbegehren sinnlos erschien, wäre der ohnmächtigen Bevölkerungsmehrheit nichts geblieben als »die Introjektion des fremden Willens«.

Das Problem an solchen, kurzfristig funktionierenden Überlebensstrategien sei jedoch, so Heide, dass sich die Opfer dauerhaft von »ihrem Selbst« abtrennten und dabei Verhaltensmuster ausbildeten, die immer stärker Zwangshandlungen glichen. Die Verdrängung eigener Bedürfnisse (in diesem Fall durch die Identifikation mit einem zerstörerischen Konkurrenz- und Leistungsprinzip) führe dazu, dass der Umgang mit den eigenen Gefühlen immer angstbesetzter werde: Man ist den eigenen Empfindungen nicht gewachsen und schütze sich vor ihnen, indem man auf das antrainierte Verhaltensmuster zurückgreift. Genau dies jedoch sei auch das wichtigste Kennzeichen einer Suchtstruktur, denn: Sucht »drückt einen Zustand aus, der als Zwang ... oder Getriebensein erlebt wird bei der vergeblichen Suche, den Schmerz über die Realität, in der wir leben, nicht zu spüren«. Eine derartige Flucht kann zum Beispiel darin bestehen, in immer neuen Arbeitsaufgaben jene Befriedigung zu suchen, die im zwischenmenschlichen, emotionalen Dasein nicht gefunden wird.

Heide behauptet, dass Arbeitssucht in den Industriegesellschaften längst zum Massenphänomen geworden sei. Dass über sie dennoch wenig geredet werde, habe unter anderem damit zu tun, dass der ständig aktive, nie abschaltende Manager als gesellschaftliches Ideal gilt. Arbeitssucht sei eine Abhängigkeit, die nicht nur akzeptiert, sondern sogar bewundert werde.

Tatsächlich dürften allen vor allem den Protagonisten jener Arbeitsverhältnisse, die die Hartz-Kommission in euphemistischem Neusprech »Ich-AGs« getauft hat jene Symptome bekannt sein, die von den Anonymen Arbeitssüchtigen als Kennzeichen ihrer Krankheit benannt werden: extreme, in immer längere Selbstblockaden umschlagende Begeisterung für die Arbeit, Ungeduld und sogar Aggressivität gegenüber »fauleren« Mitmenschen, Versagensängste, permanenter Stress, Vernachlässigung von nicht-funktionalen menschlichen Beziehungen.

Der von Heide aufgezeigte Zusammenhang ist erhellend. An der Schnittstelle von Produktionsweise, Ideologie und Krankheit zeigt sich, dass die in letzter Zeit wieder verstärkt eingeforderte »andere mögliche Welt« nicht nur mit Verteilungsfragen zu tun hat. Auch in den Wohlstandsgesellschaften breitet sich zerstörerisches Elend aus, allerdings in anderer Form als man es aus den Ländern des Südens kennt. Auf dem Weg zu einer anderen Gesellschaft wird es auch darauf ankommen, unser ganz persönliches Verhältnis zu Arbeit, Leistung, Mitmenschen und damit auch zu uns selbst auf den Kopf zu stellen.

Holger Heide (Hg.): Massenphänomen Arbeitssucht historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit, Atlantik, Bremen 2002, 300 S., 15 EUR

Holger Heide (Hg.): Südkorea Bewegung in der Krise. Atlantik, Bremen 2000, 247 S., 15 EUR

Kultur | Identifikation mit dem Sieger | 10.01.2003 | Raul Zelik

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