Rabbee ist Jordanier. Sympathisch, offener Typ. Ich begegne ihm auf einer Party. Er hält ein Bier in der Hand, wir kiffen zusammen. Es läuft HipHop, irgendwas von Taleb Kweli. Ich habe keine Lust mich zu unterhalten. Rabbee spricht nur Englisch, mein Englisch ist schlecht. Wir stehen eine Weile wortlos nebeneinander, dann geht er mit Freunden Salsa tanzen. Ich wundere mich, ich bringe das nicht zusammen.

M. lernt bei Rabbee Arabisch. Am Nachmittag haben sie über Kuba diskutiert, über Lateinamerika, den Che. Rabbee hat gesagt, dass es nur eine Kraft gebe, die den Süden befreien werde: den Islam. "Wir werden wiederkommen." 10.000 Jahre Kultur. Und natürlich hat er in diesem Zusammenhang auch Bin Laden genannt. Den Mann, der das Zeug habe, den Westen niederzuzwingen. "Endlich."

Ich verstehe das nicht, es ist mir ein Rätsel. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Leute, die ich als Sprayer kennen gelernt habe, als Kinder von Hausbesetzern, zum Islam konvertiert sind. Dass einige von den Jungs, die früher an der Straßenecke im Viertel rumhingen, heute Frauen die Hand nicht mehr geben, weil das "ihrer Religion nicht entspricht". Und trotzdem bin ich jedes Mal perplex. Von einer antirassistischen Jugendkultur über Malcolm X zum Wahabismus. Bei anderen Spielarten identitären Fundamentalismus' wäre ich mir sicherer. Mit jungen Deutschtümlern verbindet mich nichts. Sie stammen aus Teilen der Gesellschaft, mit denen ich keine Berührungspunkte besitze. Aber die Jungs, die zum Islam konvertiert sind? Leute wie Rabbee?

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Bilder verursachen keine Kriege. So viel Marx scheint mir klar. Die Bilder, die unsere Wahrnehmung bestimmen - die einstürzenden World Trade Center-Türme, die grüne Flakmunition an den Nachthimmeln von Bagdad und Belgrad, die Landschaftsgemälde aus Apocalypse Now und Black Hawk Down -, sie sind Erzählungen, Metaphern, manchmal auch bloß ideologische Transmissionsriemen. Und dennoch erzeugen sie Realität. Wie kann eine Gestalt wie Osama Bin Laden, die so sehr Fernsehprojektion ist, dass man bisweilen daran zweifelt, ob der Mann außerhalb der Erzählung jemals existiert hat, zu einer Kultfigur für Millionen von Menschen werden? Es ist, als sorge die ständige Wiederholung des Huntington-Paradigmas vom ‚Krieg der Kulturen' für seine eigene Geschichtsmächtigkeit. Ausgerechnet ein alter Verbündeter des US-Geheimdienstes und Abkömmling einer Familie von Baumagnaten wird zur Erweckungsgestalt der Kolonisierten.

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Krieg also: Wir bewegen uns nicht am Rande des Abgrunds (diejenigen, die sich tatsächlich am Rande befinden, spielen in den Selbstvergewisserungen der Angst kaum eine Rolle, denn ihr Sterben ist letztlich Normalzustand und wahrscheinlich sogar unverzichtbar für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung). Wir bewegen uns v. a. in den Randzonen einer merkwürdig phantasierten Welt. War es das, was Baudrillard meinte, als er davon sprach, der Golfkrieg finde nicht statt? Es ist nicht so, wie ständig behauptet wird, dass der Informationsfluss täglich zunimmt. Aus welchen Teilen der Welt tauchen überhaupt noch Nachrichten auf? Aus wie vielen Quellen werden sie gespeist? Und v. a.: welche analytische Schärfe weisen sie auf? Die Realität verwandelt sich in ein Walt-Disney-Universum (wobei dieses Universum weder unkomplex noch irreal oder ganz neu ist). Längst nicht nur unter den Bild-RTL-Deutschland-sucht-den-Superstar-Mehrheiten, deren Bewusstseinsstand sich nur noch graduell von dem Michael Jacksons unterscheidet (der sympathischerweise offen zugibt, in Wirklichkeit Peter Pan zu sein), sondern auch unter den vermeintlichen Intellektuellen wird immer bizarrer fabuliert. Die "Asymmetrie der Kriegsführung" heißt es, der "Terrorismus als Kommunikationsstrategie". Zum Beispiel Herfried Münklers "Neue Kriege", das zurzeit wohl am stärksten wahrgenommene Buch zur Entwicklung militärischer Auseinandersetzungen. Münkler behauptet, wie näherten uns Kriegsformen an, die in Europa im 18. Jahrhundert mit der Verstaatlichung des Militärischen verschwunden seien. (Wobei den Export des Raub- und Söldnerwesens in die Kolonien geflissentlich verschweigt.) Er entwirft ein Bild von schwachen Staaten im Süden und einer verloren gegangenen "Einhegung des Krieges". (Schwache Staaten? Die angolanische Regierung, die nicht in der Lage ist, ihre Bevölkerung zu versorgen, schafft es problemlos, Zehntausende zwangsumzusiedeln.) Münkler unterstellt damit letztlich die Existenz eines zivilisatorischen Normalzustands, der seit einigen Jahren von Zerfallstendenzen erfasst werde. Dass der kriegerische Horror gerade mit staatlicher und überstaatlicher Ordnung zu tun haben könnte, will ihm nicht in den Sinn. Die rot-grünen Konfliktlöser möchten die Weltordnung nicht als Herrschaftsverhältnis begreifen, Staatengemeinschaft nicht als Unterwerfungsordnung, Globalisierung nichts als gewalttätige kapitalistische Durchdringung. Und so ist es denn auch nur folgerichtig, dass als wesentliches Kennzeichen der neuen Kriege ausgerechnet Bin Ladens Netzwerk ausgemacht wird. Peter Pan, der orientalische Erweckungs-Donald-Duck, goes University. Was kann man ernsthaft über ein Phänomen sagen, über das man eigentlich nichts weiß außer den Ermittlungsergebnissen einer Regierung, die offen zugibt, eine Abteilung für Lügen zu beschäftigen? Über ein Netzwerk, dessen mutmaßliche Existenz Hamburg-Harburg, wo einige WTC-Attentäter offensichtlich wohnten, vor der Bombardierung rettete, stattdessen jedoch ein mittelasiatisches Land zum Interventionsziel machte, das wahrscheinlich wenig mit den Anschlägen zu tun hatte, aber geostrategisch von größtem Interesse ist. Ein Netzwerk, von dem wir nicht wissen, in welcher Form es existiert und welche Anschläge es zu verantworten hat. Und über das die naheliegendste Frage kaum noch gestellt wird: Warum bedarf es einer weltumspannenden Geheimorganisation, wenn man mit Teppichmessern Flugzeuge entführen und in Gebäude stürzen lassen will?

(Nicht minder bescheuert auf der anderen Seite, und in der Denkstruktur letztlich identisch, die Verschwörungstheoretiker wie Matthias Bröckers, die den CIA ins WTC fliegen sehen. - Am Ende um den Hanfanbau in Deutschland zu illegalisieren?)

Sich von Ideologien zu befreien, bedeutet Skepsis zuzulassen, Unkenntnis einzugestehen, Erklärungen nicht nur deswegen zu akzeptieren, weil sie ständig wiederholt werden, und es zu ertragen, wenn man einmal mit unbeantworteten Fragen ins Bett gehen muss.

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Und jetzt der Irak. Alle wissen, es geht nicht um Massenvernichtungsmittel. Und trotzdem diskutiert man ständig darüber. Ein absurdes Schauspiel. Zeichen der intellektuellen Unterwerfung. Lohnschreiberei.

Die deutsche Linke nicht weniger abstoßend: Die TAZ tut, was sie am Besten kann - Politikberatung, ohne eine sich als kritisch missverstehende Leserschaft zu vergraulen. Es muss andere Möglichkeiten geben, Saddam Hüssein zum Einlenken zu bewegen. Seite an Seite mit einer Bundesregierung, die nur den Frieden bewahren will (wie schon in Belgrad, Somalia, Afghanistan und zuvor im Osten der Türkei). Völlig von Altersstarssinn geschüttelte Antiimperialisten bemühen sich, Saddam Hüssein gute Seiten abzugewinnen und enttarnen die Giftgasangriffe 1988 als Operationen der iranischen Armee sowie die Berichterstattung darüber als CIA-Aktion (so geschehen in der jungen welt vom 3. Februar 2003). Und in der Jungle World schließlich, für poplinke Debatte nicht ganz unerheblich, wird ernsthaft darüber diskutiert, ob die Verteidigung Israels nun eine Bombardierung Bagdads notwendig mache oder die Verhinderung des Kriegs Deutschland doch nicht so sehr nutze, als dass man sich - mit aller Rücksichtnahme auf die Westalliierten, Verteidiger der Zivilisation- vorsichtig gegen den Krieg positionieren könne. Man fragt sich, wo die Kaputtheit herkommt, die so viel Zynismus ermöglicht.

Man möchte nicht dazu gehören. Nicht zu den Leuten, die solche Diskussionen führen. Nicht zum Gros der Friedensdemonstranten, die dieser Tage auf die Straße strömen: manche antiamerikanisch, viele einfach nur unpolitisch: "Mit Joschka und dem Papst", "Amerika=4. Reich", "Angst vor dem Krieg". Als sei die Psychose, sich selbst als bedroht zu phantasieren, nicht Teil der Mobilmachung.

Aber auch nicht zu den ewigen Bedenkenträgern. Das Misstrauen, mit dem so viele publizierende Leute in Deutschland mittlerweile jeder Bewegung begegnen, hat längst nichts mehr mit eigenen negativen Erfahrungen zu tun. Es ist v. a. Ausdruck von Distinktionsbemühungen. Der Standpunkt des aufgeklärten, die reaktionäre Unwissenheit des Plebs denunzierenden Beobachters bietet ein Zuhause, ein hübsches Stück Identität, die man doch zu kritisieren vorgibt. Und er unterscheidet sich auch nicht wesentlich von dem des Feldherrn, des autoritären Pädagogen oder politischen Kaders. (Wenig verwunderlich, so gesehen, dass die Vordenker der antideutschen Linken genau von dort kommen: aus dem Leninismus, einer Philosophieschule, die sich Massen wie Zinnsoldatenarmeen imaginiert.) Massenlenker, Massenverachter, Politstrategen, Kriegstreiber: Biographien nicht ohne Gemeinsamkeiten.

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Vor ein paar Tagen träume ich: Bagdad, das Warten auf die Bombeneinschläge, am Himmel sind Schatten von Flugzeugen zu sehen. Es gibt keinen Ort, wo man sich hinflüchten oder verstecken könnte. Das Geräusch der Flieger, erste weit entfernte Detonationen. Ich gehe zu einer Kirche - ausgerechnet zu einer Kirche -, weil ich denke, dass sie sie nicht bombardieren werden (Selbst im Tiefschlaf wacht Huntington über uns). Man erzählt mir, die Nachbarn misstrauten der Kirche, weil sie von einem US-Amerikaner geleitet wird. Ich denke, dass ich hier nichts zu suchen haben. Aber wo soll ich hin? Durch die Straßen irren?

Als ich wach werde, bin ich durchgeschwitzt. Mitte der 90er Jahre habe ich ein paar Monate in einem lateinamerikanischen Kriegsgebiet verbracht und seitdem einen leichten Schaden, was Fluggerätschaften angeht. Die nächtlichen Helikopterflüge während der Oder-Überschwemmung 1997 haben bei mir regelrechte Panikattacken ausgelöst. Obwohl die Phobie auch älter sein kann. Die Atomtod-Hysterie gehörte während meiner Schulzeit fast schon zum guten Ton. Keine Ahnung also, wo diese Alpträume her sind.

Trotzdem bin ich erleichtert. Endlich einmal berührt. Es ist widerlich, wie die Wahrnehmung, meine Wahrnehmung mittlerweile degeneriert ist. Man steht morgens auf und macht interessiert, aber unbeteiligt das Radio an, um zu hören, ob der Krieg schon losgegangen ist. Ob Bomben fallen, wie es den Kriegsparteien ergeht, was die Regierungen sagen. Es beschäftigt einen als Zeitungsleser, als aufgeklärten Zeitgenossen, und könnte von anderen Nachrichten, sagen wir einem Börsen-Crash oder unerwarteten Unruhen, schnell ersetzt werden. Ich setze mich an den Frühstückstisch und schmiere die Stullen.

Wir alle sind Peter Pan. Ich frage mich, wo diese Unbeteiligtheit herkommt. Ob sie Ausdruck des Zynismus ist, Selbstschutzmechanismus, Ergebnis einer Lebensform: weltumspannende Kommunikation mit Gegenständen, Bildern, Abstraktionen, die letztlich einer echten Sinnlichkeit entbehren. Ich weiß, dass sie mich ankotzt - die Position des Betrachtenden, des Zuschauers und Bedenkenträgers, für den sich die Ereignisse auch nicht anders darstellen als jedes andere x-beliebige akademische oder theoretische Thema. Und dass ich aus ihr herauswill. Ich befürchte, dass das existenzialistisch klingt, egozentriert oder moralisch. Aber ich glaube, dass die eigene Intervention - das direkte, die Legalität brechende Sich-Widersetzen gegen die Kriegsmaschinerie - die einzige Möglichkeit ist dieser Abgefucktheit zu entkommen.

Raul Zelik

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien