Marxismus und Frankfurter Schule

Die politische und intellektuelle Irrfahrt des Alex Steiner

Teil 1

Von David North
3. Februar 2009

I. Einführung

Im Frühjahr 2006 schrieb ich Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein als Antwort auf die Angriffe Alex Steiners und Frank Brenners auf das Internationale Komitee der Vierten Internationale. Bei den Genannten handelt es sich um zwei ehemalige Mitglieder der Workers League (Vorläuferin der Socialist Equality Party), die in den 70er Jahren die revolutionäre Bewegung verlassen haben. Ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst sich seit vielen Jahre im politischen Ruhestand befinden, nahmen Steiner und Brenner in einem Objektivismus oder Marxismus betitelten Dokument die theoretische Arbeit, die politischen Aktivitäten und organisatorischen Zustände in der SEP und dem IKVI aufs Korn. Sie behaupteten, das Internationale Komitee habe die Dialektik abgeschrieben und unterließe es, einen Kampf gegen den Pragmatismus zu führen.

Als Folge dieser angeblichen Vernachlässigung der Dialektik erkenne das IKVI zum einen nicht die dringende Notwendigkeit, sich dem Utopismus als einem Mittel zur Wiederbelebung sozialistischen Bewusstseins zuzuwenden; zum anderen ergäbe sich hieraus eine Gleichgültigkeit gegenüber Problemen der Psychologie und Sexualität. Diese letztgenannten spielen für Steiner/Brenner eine ganz entscheidende Rolle bei der Formung politischer Motive und Orientierungen, die nach ihrem Dafürhalten im Wesentlichen irrational begründet sind. Durch die Fokussierung auf historisches Erklären, politisches Analysieren und die Schaffung programmatischer Klarheit vermöge das Internationale Komitee nicht die psychologischen Barrieren auf dem Weg zum Sozialismus zu überwinden. Diese lägen in den "unterdrückten unbewussten Gefühlen", die in der "erstarrten, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit" eines Menschen fortbestünden.[1]

Steiners und Brenners Dokument basiert über weite Stecken auf Auffassungen, die seit langem mit der "kritischen Theorie" der "Frankfurter Schule" assoziiert werden, daneben auch mit verwandten ideologischen Richtungen, gemeinhin bekannt als "westlicher" oder "humanistischer" Marxismus. Gründend auf die Arbeiten von Max Horkheimer, Theodor Adorno, Karl Korsch, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Erich Fromm und Wilhelm Reich, erreichte der Einfluss der Frankfurter Schule seinen Höhepunkt zur Zeit der radikalen Studentenproteste in den 60er Jahren. Nachdem die Welle des kleinbürgerlichen Radikalismus zurückgeschwappt war, setzte sich der Einfluss der Frankfurter Schule an Hochschulen und Universitäten fest, wo so viele der ehemaligen Radikalen in angesehenen Positionen landeten. Von diesen ihren Plätzen innerhalb der Mauern der Akademien aus führen die Anhänger der Frankfurter Schule seither einen unaufhörlichen Kampf -nicht gegen den Kapitlaismus - sondern mit beträchtlichem Erfolg gegen den Marxismus. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wurde an den geisteswissenschaftlichen Instituten während der vergangenen Jahrzehnte nur sehr wenig gelehrt, das dem Marxismus auch nur ähnelt - selbst wenn man unter "Marxismus" lediglich die konsequente Anwendung des philosophischen Materialismus’ auf das Studium von Geschichte, Gesellschaft und sozialem Bewusstsein versteht.

Dem fortbestehenden Einfluss dieser intellektuellen Strömung liegen im wesentlichen drei miteinander verwobene historische Entwicklungen zugrunde: Erstens die Niederlagen der Arbeiterklasse während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, damit einhergehend die Vernichtung eines bedeutenden Teils der sozialistischen Arbeiterschaft und Intelligenz, den Trägern der theoretischen Traditionen des klassischen Marxismus, durch Faschismus und Stalinismus; zweitens die Stabilisierung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg und drittens die überdauernde Vorherrschaft stalinistischer, sozialdemokratischer und reformistischer Partei- und Gewerkschaftsbürokratien über die Arbeiterklasse während des größten Teils derselben Periode. Das komplexe Zusammenwirken objektiver und subjektiver historischer Faktoren, die der revolutionären Wiederauferstehung der Arbeiterklasse im Weg standen, schuf ein pessimistisches, demoralisiertes intellektuelles Klima, das für den Marxismus eine feindselige Umgebung bildete.

In dem Maße, wie ungünstige historischen Bedingungen verhinderten, dass der Marxismus zur theoretischen Speerspitze revolutionärer Klassenkämpfe wurde, wurde der Weg bereitet für jene Verdrehung und Verfälschung im Interesse gesellschaftlicher Kräfte, die der Arbeiterklasse fremd waren, ja ihr feindlich gegenüberstanden. Die Frankfurter Schule spielte hierbei eine zentrale Rolle. Aus dem Marxismus als einer theoretischen und politischen Waffe des proletarischen Klassenkampfes - den Horkheimer, Adorno und Marcuse ablehnten - machten sie eine gesellschaftlich amorphe Form der Kulturkritik, in welcher der politische Pessimismus, die gesellschaftliche Entfremdung und die persönliche, seelische Frustration von Teilen der Mittelklassen ihren Ausdruck fanden.

Das Dokument Steiners und Brenners lieferte einen Anlass, die Einstellung der trotzkistischen Bewegung zu der Frankfurter Schule des Anti-Marxismus klarzustellen. Steiners und Brenners Differenzen mit dem Internationalen Komitee, so schrieb ich, "drehen sich nicht einfach um vereinzelte Programmpunkte, sondern vielmehr um die grundlegendsten Fragen der philosophischen Weltsicht, auf die sich der Kampf für den Sozialismus gründet."[2] Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein untersuchte die Bedeutung der Feindseligkeit, mit der Steiner und Brenner der Entwicklung politischer Perspektiven gegenüberstehen, welcher die trotzkistische Bewegung stets die allergrößte Bedeutung beigemessen hat. Die Genannten hatten sich gegen "die Auffassung [gewandt], dass solche auf der Grundlage des historischen Materialismus erstellte Analysen und Kommentare grundlegend oder wichtig für die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins" seien[3], und wiesen das marxistische Konzept der Perspektive zurück, "welche bemüht ist, das revolutionäre Handeln auf eine möglichst korrekte und genaue Analyse der objektiven Welt zu basieren." Ich erklärte, Steiner und Brenner forderten vom Internationalen Komitee, "es solle sich vorrangig nicht mit Politik und Geschichte befassen, sondern mit Psychologie und Sexualität - insbesondere in der Art und Weise, wie sie in den Schriften Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses dargestellt sind"[4].

Der subjektive und idealistische Standpunkt, den Steiner und Brenner einnehmen, ist unvereinbar mit den marxistischen Grundlagen der Arbeit des IKVI. Diese Grundlagen weisen sie zurück, indem sie versuchen, "den verwirrten und antimarxistischen Pseudo-Utopismus Wilhelm Reichs, Ernst Blochs und Herbert Marcuses in die Vierte Internationale einzuschleusen" - ein Versuch, "die theoretischen und programmatischen Grundlagen sowie die Klassenorientierung der trotzkistischen Bewegung grundlegend zu verändern."[5]

In diesem Dokument warnte ich davor, dass Steiners und Brenners Vorwurf des "Objektivismus" dazu diene, philosophischen Irrationalismus und Subjektivismus zu legitimieren. Sie benutzten den Begriff "Objektivismus" als ein Schimpfwort, gerichtet gegen den, der "die sozioökonomischen Vorgänge studiert, auf denen sich eine revolutionäre Praxis gründet", und der zentrale Betonung legt auf ein "wissenschaftliches Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des weltweiten Kapitalismus, des internationalen Klassenkampfes und [seiner] Widerspiegelung im Bewusstsein der Massen."[6]

Gegen Steiners/Brenners Ruf nach einer Wiederbelebung utopischer Legendenbildung (die in kleinbürgerlich-radikalen Kreisen zu einer Mode geworden ist) schrieb ich, dass die "Widersprüche des Kapitalismus den hautsächlichen und entscheidenden Impuls für die Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins bilden". Aufgabe der marxistischen Bewegung sei nicht, die Arbeiter mit dem Trugbild einer illusorischen Utopie anzustacheln, sondern vielmehr

die fortgeschrittenen Schichten der Arbeiterklasse mit einem wissenschaftlichen Verständnis der Geschichte als gesetzmäßigen Prozess, der kapitalistischen Produktionsweise und der gesellschaftlichen Beziehungen, die aus ihr hervorgehen, sowie des Wesens der gegenwärtigen Krise und ihrer welthistorischen Bedeutung vertraut zu machen. Es geht darum, den unbewussten historischen Prozess in eine bewusste politische Bewegung umzuwandeln, die Auswirkungen der Zuspitzung der kapitalistischen Weltkrise vorauszusehen und vorzubereiten, die Logik der Ereignisse offen zu legen und die angemessene politische Antwort zu formulieren - strategisch und taktisch.[7]

Diese Herangehensweise wird von all jenen abgelehnt, "die in den objektiven, vom Kapitalismus selbst geschaffenen Bedingungen keine Grundlage für den Sozialismus erblicken, die von Niederlagen und Rückschlägen demoralisiert sind, die weder das Wesen der kapitalistischen Krise begreifen, noch das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse wahrnehmen..." Für solche Individuen "stellt sich das Problem der Umformung des Bewusstseins ganz wesentlich in ideeller, ja psychologischer Hinsicht. Da keine reelle Grundlage für sozialistisches Bewusstsein existiert, muss die Möglichkeit für seine Entwicklung anderswo gesucht werden." Hierin liegt der Ursprung von Steiners/Brenners Überzeugung, "die Utopie" sei "entscheidend für die Wiederbelebung sozialistischer Kultur".[8]

Die letzten Teile meiner Antwort untersuchten einige der theoretischen Einflüsse, die sich - zugegebenermaßen oder nicht - in Steiners und Brenners Dokument aufspüren lassen. Besondere Aufmerksamkeit widmete ich des Schlüsselwerken Henrik de Mans (Die Psychologie des Sozialismus), Wilhelm Reichs (Die Massenpsychologie des Faschismus) und Herbert Marcuses (Eros und Zivilisation). Mit Blick auf Steiners/Brenners Behauptung, die "wahren Probleme im Kampf für das sozialistische Bewusstsein" lägen "hinter dem Horizont der ‚objektiven Umstände’", schloss ich: "Wir leben und kämpfen in der Welt der ‚objektiven Umstände’. Sie sind sowohl die Quell unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten wie auch ihrer letztendlichen Lösung."[9]

Im September 2007 begannen Steiner und Brenner, ihre Antwort auf Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein herauszugeben, die sie in Teilen über einen Zeitraum von drei Monaten veröffentlichten. Sie gaben ihrem Dokument den Titel "Marxismus ohne Kopf und Herz: Eine Antwort auf David North" (im folgenden abgekürzt mit MWHH entsprechend dem englischen Titel Marxism without its head or heart).

II. Steiner/Brenner und das Erbe des Marxismus

Steiner und Brenner beginnen ihr Dokument mit der Feststellung, Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein sei ein "grauenhaftes Werk", "voll von Fehlinterpretationen und Ausflüchten", geschrieben in einem "bombastischen Stil", der jedoch nicht seinen "mageren Inhalt" verbergen könne. Vorrangig sei es "eine Demonstration, wie armselig die Führung des IKVI geworden ist. Was North ‚Marxismus’ nennt, dem fehlen sowohl der Kopf, als auch das Herz - d.h. die Dialektik und das Proletariat, und damit eben das, was den Marxismus zu einer revolutionären Lehre macht."[10]

In subjektivem und verbittertem Ton nennen Steiner/Brenner mich einen "Heuchler erster Güte" und richten ihre vernichtende Kritik gegen meine "Kleinlichkeit, Boshaftigkeit und Unehrlichkeit"[11]. Diese Art von Sprache kann nur auf diejenigen Eindruck machen, die an politische Auseinandersetzungen nicht von einem prinzipiellen Standpunkt aus herangehen. Ich sehe keinen Grund, auf derartige Angriffe zu antworten. Es findet sich jedoch unter den Anklagen Steiners und Brenners eine, die besondere Aufmerksamkeit verdient: "In seinem jüngsten Dokument", so schreiben sie, "verteidigt North nicht mehr das Erbe des revolutionären Marxismus, sondern rechtfertigt statt dessen die Preisgabe entscheidender Teile dieses Erbes durch das IKVI."[12]

Dies wirft eine wichtige Frage auf: Worin genau sehen Steiner/Brenner das "Erbe des revolutionären Marxismus"? Seit einem Jahrzehnt äußern die beiden immer weitergehende Differenzen zu den theoretischen Grundlagen des Marxismus. Alles begann im Jahr 1997 mit Brenners Erklärung, der Marxismus ermangele einer adäquate Psychologie. 1998 stellte er fest, der Marxismus benötige eine neue "Theorie zum Geschlechterverhältnis". 1999 ließ mich Steiner wissen, er stimme nicht mit der Theorie Friedrich Engels’ (Karl Marx’ lebenslangen Mitstreiters) überein, nach der das Verhältnis zwischen Materialismus und Idealismus die Grundfrage der Philosophie bildet. Etwas später (2002) forderten Steiner und Brenner, das Internationale Komitee solle die Wichtigkeit des Utopismus für die heutige Entwicklung sozialistischen Bewusstseins anerkennen. Im Jahr 2003 ging es weiter, indem Steiner Georgi Plechanow den "Vater des russischen Marxismus’" des "vulgären Materialismus" bezichtigte. Es folgte im Jahr 2004 ein ausgedehnter Angriff auf Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. Im Jahr 2005 trat ihre Kampagne in ein neues Stadium ein, indem sie das IKVI wegen seines "Objektivismus" anklagten, sowie wegen der Weigerung, die Einsichten der "Freudomarxisten" wie Wilhelm Reich in seine theoretische Arbeit einfließen zu lassen.

In ihrem jüngsten Dokument entwickeln sie all diese Themen zu einer Tirade zügelloser rhetorischer Schmähungen, die sich gegen das Internationale Komitee im allgemeinen und mich persönlich richten. Wie dies in der Politik die Regel ist, dienen Beleidigungen dazu, theoretische und ideologische Fragen zu verdecken. Steiner/Brenner haben dies nötig, da sie genau wissen, dass die SEP und das IKVI sich auf eine theoretische Tradition gründen, die rein gar nichts mit der Frankfurter Schule gemeinsam hat. Damit geraten sie in eine vertrackte Lage - sie vertreten die Theoretiker, deren Ideen sie in das IKVI einzuschleusen gedenken, und distanzieren sich gleichzeitig formell von ihnen. Sie behaupten daher, ich hätte die Verbindung zwischen ihren Ansichten und denen der Frankfurter Schule erst hergestellt. Sie erklären:

Keine Verschwörungstheorie ist vollständig ohne das Nennen einiger Namen, und so zieht North Reich, Marcuse und Bloch in die Sache mit hinein... Dabei geht es ihm nur um eins: Um die Feststellung der Schuld mittels bloßer Assoziation, als stelle das Nennen dieser Namen einen Beleg für unsere Preisgabe des Marxismus’ dar. Dass er dies unter dem Banner der Verteidigung marxistischer Wissenschaft tut, verleiht der ganzen Übung lediglich eine bittere Ironie.[13]

Sie fahren dann fort, meine "Verschwörungstheorie" zurückzuweisen, indem sie darauf bestehen, das Internationale Komitee begehe einen schweren Fehler, da es nicht bereit sei, die Lehren aus den Werken von Reich, Marcuse, Bloch und Adorno zu ziehen:

Man muss nicht versuchen, Bloch zu entschuldigen oder seine vielen ernsten Fehler zu auszublenden - vor allem seine Unterstützung des Stalinismus’ - um einzusehen, dass in seinem Werk etwas Wertvolles stecken könnte.[14]

Wir waren niemals Anhänger von Reich und haben nichts geschrieben, was zu anderen Annahmen berechtigt. Obwohl wir anerkennen, dass die Freudomarxisten einige wichtige Beiträge geleistet haben, bleibt ihr Erbe ein Widersprüchliches, wie so vieles Andere im intellektuellen Leben des 20. Jahrhunderts. Wie wir im vorigen Kapitel darlegten, beginnen Marxisten mit einer kritischen Einschätzung solcher Werke, und ziehen dann Nutzen aus allem, was darin noch lebendig ist. Dies ist auch unsere Einstellung zu Reich.[15]

Trotz alledem kommt Reichs Einsichten dennoch ein beträchtlicher politischer Wert zu.[16]

Wiederum muss bei der Auswahl aus Reichs Ideen sehr vorsichtig vorgegangen werden (so lag er mit den Ansichten, Polizisten müssten als Arbeiter gesehen werden, und man müsse mit Nazis diskutieren, völlig daneben), und vieles im alltäglichen Leben hat sich seither verändert. Doch einige seiner Gedanken über Jugendliche haben einen bleibenden Wert und bilden ein gutes Beispiel, was es in der Politik bedeutet, "sich in andere Leute hineinzuversetzen".[17]

Der Versuch, die Werke Adornos und Marcuses ebenso wie Ernst Blochs beiseite zu schieben, da diese politische Fehler begingen, ist nichts weniger als ein Appell an intellektuelle und kulturelle Rückständigkeit... Steiner wollte sagen, dass diese Figuren zu einigen wertvollen Einsichten gekommen sein könnten, die wir zu unserem eigenen Verlust ignorieren. Das soll nicht heißen, dass ihre Werke über alle Kritik erhaben sind, oder dass nichts darin ihre Politik geprägt hat und umgekehrt. Doch für Marxisten stellt sich, wo sie mit einem so heterogenen Werk konfrontiert sind, die Aufgabe, es zu sichten und sich kritisch anzueignen. Um es auf den Punkt zu bringen: Man darf etwas nicht ignorieren oder als wertlos abtun, bevor man es überhaupt gelesen hat, weil der Autor einige politische Fehler begangen hat.[18]

Soviel zu meiner "Verschwörungstheorie"! Nicht ich, sondern sie nutzen jede Gelegenheit, um Marcuse, Reich, Bloch usw. "hineinzuziehen". Die oben zitierten Abschnitte werfen zwingend die Frage auf: Was hat all das mit der Verteidigung des Erbes des Marxismus’ zu tun? Steiner und Brenner vertreten einen theoretischen Eklektizismus, der nichts mit den philosophischen Grundlagen der trotzkistischen Bewegung zu tun hat. Darüber hinaus bildet schon die bloße Form ihrer Argumente ("Können wir nichts hieraus lernen...?", "Müssen wir alles daran ablehnen...?", "Liegt hierin nicht doch etwas von Interesse...?") ein Beispiel für das Denken in der Art von "einerseits... andererseits...", das Marx der härtesten Kritik unterwarf.[19]

Steiner und Brenner halten mir entgegen, die Arbeiten der Frankfurter Schule seien nicht "wertlos" - doch das ist gar nicht das Wort, mit dem ich die entsprechenden Schriften charakterisiert habe. Die Frage ist gar nicht, ob die Schriften der Frankfurter Schule "wertlos" sind, sondern ob sie eine Alternative zum Marxismus oder eine Entwicklung über ihn hinaus darstellen. An keiner Stelle versuchen Steiner und Brenner eine systematische Darstellung der Konzeptionen der Frankfurter Schule; sie untersuchen nicht ihre historischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Wurzeln und legen auch nicht den objektiven inneren Zusammenhang zwischen den einzelnen Werken ihrer führenden Figuren offen. Trotz all ihrer rhetorischen Beschwörung der "Dialektik" bringen Steiner/Brenner keine historische und dialektisch-materialistische Analyse der Frankfurter Schule zuwege. Dies hätte eine Untersuchung ihrer Ursprünge, Entwicklung, ihrer Widersprüche und auch der Klasseninteressen erfordert, deren ideologischer Ausdruck sie ist. Statt dessen erfährt der Leser, dass Reich oder Marcuse viele Dummheiten geschrieben haben, aber eben auch einiges Gute. Gewiss, Reich endete als Antikommunist; doch dieses letzte Kapitel seines Lebens habe nichts mit den vorigen Kapiteln zu tun.

Die Tatsache, dass keine einzige der führenden Figuren der Frankfurter Schule Sympathien für die Vierte Internationale hegte, geschweige denn mit ihr zusammenarbeitete, ignorieren Steiner und Brenner ganz einfach. Das ist kaum ein Zufall. Die intellektuelle Arbeit der Frankfurter Schule wurzelt in einer reaktionären philosophischen Tradition, die - irrationalistisch, idealistisch und individualistisch wie sie ist - dem klassischen Marxismus, auf dem Trotzkis politische und theoretische Arbeit basierte, entgegengesetzt ist. Die Schriften von Marx und Engels spielten eine weit geringere Rolle bei der Formierung der Ideen der Frankfurter Schule, als diejenigen Schellings, Schopenhauers, Nietzsches und Heideggers. Was die in der Frankfurter Schule vorherrschende politische Weltanschauung anbelangt: Ihre Zurückweisung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse, ihr historischer und kultureller Pessimismus, ihre impressionistische Antwort auf politische Ereignisse hatte nichts gemein mit der Perspektive, die der Arbeit der Vierten Internationale zugrunde lag und die sich auf eine dialektische, historisch-materialistische Analyse stützte.

Die führenden Vertreter der Frankfurter Schule verbrachten den größten Teil ihres erwachsenen Lebens in totaler politischer Unfähigkeit. Die Meister der "kritischen Theorie", der "negativen Dialektik" waren in Fragen der politischen Analyse ewig desorientiert und schlicht inkompetent. Der Aufstieg des Faschismus in den 30er Jahren erschütterte das bisschen Vertrauen, das sie zuvor noch in die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution gehabt haben mögen. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung - veröffentlicht im Jahre 1947 und gemeinhin als das philosophische Gründungsdokument der Frankfurter Schule betrachtet - verkündete das Ende aller Aussichten auf menschlichen Fortschritt.

Während der 1950er und 69er Jahre wurden die politisch reaktionären Implikationen in der Weltsicht der Frankfurter Schule nur allzu deutlich. Unter Schirmherrschaft ihres langjährigen Direktors Max Horkheimer, der aus seinem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt war, spielte die Frankfurter Schule eine führende Rolle beim Aufbau neuer intellektueller Grundlagen für den westdeutschen bürgerlichen Staat der Nachkriegszeit. Gleichzeitig fanden die Werke Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses - welche die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft innerhalb der modernen kapitalistischen Gesellschaft völlig abschreiben - ein neues Publikum unter den kleinbürgerlichen Radikalen der "Neuen Linken". Das "Erbe", das Steiner/Brenner uns aufzugeben beschuldigen, ist eines, mit dem die Vierte Internationale niemals in irgendeiner Verbindung stand oder hätte stehen können.

Im Lichte ihrer tatsächlichen historischen und theoretischen Wurzeln betrachtet kommt Steiners und Brenners Kritik, ihrer Anrufung des "Erbes des klassischen Marxismus" zur Rechtfertigung ihrer Verleumdung des Internationalen Komitees, ein Element von Selbsttäuschung zu, im Grunde sogar von unverhohlener politischer Unehrlichkeit. Als Individuen haben Steiner/Brenner jedes Recht auf ihre Anschauungen. Doch sie erklären nicht, warum das IKVI plötzlich theoretische und politische Konzeptionen annehmen sollte, die es zuvor stets zurückgewiesen hat. Steiner und Brenner verlangen Veränderungen im theoretischen und politischen Lebenslauf des IK, die in der Geschichte der Vierten Internationale keine Grundlage haben.

III. Die Ursprünge der Polemik Steiners und Brenners

Steiner und Brenner liefern eine Schilderung der Ereignisse, die sie selbst als Opfer eines bürokratischen Parteiapparates erscheinen lässt; eines Parteiapparates, der lediglich meinem Willen diene und rücksichtslos all ihre Kritik an der angeblichen Preisgabe des Marxismus durch die Bewegung unterdrücke. Die Weigerung der SEP, ihnen die World Socialist Web Site als Forum für ihre antimarxistischen Auffassungen zur Verfügung zu stellen, sehen sie als Akt einer aufkeimenden politischen Diktatur. Sie rechnen damit, dass ihnen diese Version der Dinge Sympathien unter politisch Unerfahrenen eintragen wird - besonders in den Vereinigten Staaten, wo die Verknüpfung von Sozialismus mit der Unterdrückung individueller Rechte als Ergebnis jahrzehntelanger antikommunistischer Propaganda tief ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist. Außerdem ist natürlich die Tatsache, dass Steiner und Brenner die Bewegung vor dreißig Jahren verlassen haben, nicht einfach zu ignorieren. Sie haben praktisch ihr gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, ihren privaten Interessen nachzugehen. Die WSWS ist daher in keiner Weise verpflichtet, ihre Dokumente zu veröffentlichen. Sie versuchen, dieses Problem zu umschiffen, indem sie zugeben:

Uns ist nicht daran gelegen, die Bedeutung der Parteimitgliedschaft kleinzureden, doch gerade diesbezüglich ignoriert North eine peinliche Tatsache, die wir in Objektivismus oder Marxismus angesprochen haben: Steiner beantragte 1998 die Wiederaufnahme in die Partei, worauf die Parteiführung - worunter hauptsächlich North zu verstehen ist - jedoch niemals reagierte, noch auch die Gründe hierfür erklärte. Er stellte diesen Antrag Jahre, bevor irgendwelche politischen Differenzen aufkamen, und zu einer Zeit, da Steiner Material zur WSWS beitrug. Kurz gesagt: Es war North, der Steiner aus der Partei heraushielt und der nun Steiner beschuldigt, kein Parteimitglied zu sein.

North liefert auch nichts in der Art einer glaubwürdigen Darlegung der Umstände, die den Anlass zu dieser Polemik bildeten.[20]

In Wirklichkeit enthält Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein eine Darstellung der Ursprünge der Auseinandersetzung[21]. Doch wie dem auch sei - ich bin durchaus in der Lage, diese anfängliche Darlegung um einige Details zu erweitern. Es wird hierzu notwendig werden, dass ich die politische Biographie Alex Steiners beleuchte. Ich bezweifle, dass diese Aufmerksamkeit ihm genehm sein wird. Schließlich schriebt er selbst in einem anderen Teil ihres Dokuments, dass "Alex Steiner kein Führer einer revolutionären Bewegung ist; seine Aktivitäten als Individuum haben daher keine Relevanz für diese Diskussion."[22] Welche Bescheidenheit! doch mit Verlaub: Ich bin anderer Meinung.

Drei Punkte müssen hier gemacht werden: Zum ersten ist das Führen eines öffentlichen politischen Angriffs - der den direkten Appell an die Parteimitglieder beinhaltet, ihre Führung auszuwechseln - nicht die Handlung eines Individuums, sondern die eines Anwärters auf politische Führerschaft. Es beinhaltet die Bereitschaft des Urhebers dieses Angriffs, Führungsverantwortung zu übernehmen, sollte sich die Gelegenheit hierzu ergeben, das heißt: sollte er dazu bestellt werden, die in seinen Dokumenten geforderten politischen Änderungen zu verwirklichen. Zum Zweiten ist Steiner der Hauptautor jener Teile seiner gemeinsamen Dokumente mit Brenner, in denen die philosophisch-theoretische Linie herausgearbeitet wird. Eine Untersuchung seiner intellektuellen und politischen Geschichte wird zum Verständnis der Ursprünge und Implikationen seiner theoretischen Argumente beitragen. Und zum Dritten existiert ein beträchtliches Maß an schriftlichen Zeugnissen zur Entwicklung von Steiners Differenzen zur SEP noch vor der Herausgabe öffentlicher Angriffe, über das er und Brenner hartnäckiges Stillschweigen bewahren.

Hierzu gehört ein Briefwechsel im Zusammenhang mit Brenners Antrag auf Wiederaufnahme in die SEP im Jahr 1999 (nicht 1998!). Die Briefe, die er mir und der SEP schrieb, zeigen klar, dass bereits zu jenem Zeitpunkt bedeutende Differenzen zwischen Steiner und der Socialist Equality Party bezüglich grundlegender Fragen marxistischer Philosophie bestanden, und darüber hinaus auch zur Geschichte der Partei. Praktisch alle Differenzen, die in späteren von Steiner und Brenner geschriebenen Dokumenten aufkamen, wurden in Steiners Briefen von 1999 vorweggenommen. Unter den Hunderten von Seiten an polemischem Material, die Steiner und Brenner auf ihrer Website veröffentlicht haben, fehlt eben dieser Briefwechsel. Ebenfalls nicht veröffentlicht haben sie andere von Steiner geschriebene Korrespondenzen, die sich mit meiner theoretischen Arbeit befassen und sich radikal von ihren neueren, mehr fraktionell motivierten Abhandlungen zum selben Thema unterscheiden. Diese auffälligen Auslassungen zeugen von einer Doppelmoral sowie vom Fehlen politischer und intellektueller Prinzipien.

Bevor wir zur Untersuchung des schriftlichen Materials schreiten, wollen wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen erstaunlichen Widerspruch in Steiners und Brenners Version des Geschehenen lenken. Während sie ihre Theorie zu der angeblichen politischen Degeneration der SEP darlegen, bezichtigen sie die Bewegung, den Blendungen der kapitalistischen Außenwelt während der Jahre der dot.com-Blase erlegen zu sein. Sie schreiben: "Was in den Jahren zwischen 1993 und 1998 geschah, war ein Zurückweichen der Führung des Internationalen Komitees vor dem immensen Klassendruck der bürgerlichen Gesellschaft."[23]

Wenn das stimmt - wie erklärt Steiner dann, dass er im Jahr 1999 einen Mitgliedsantrag stellte? Wenn Steiners Einschätzung bezüglich des Niedergangs des IKVI zutrifft, dann würde dies nahe legen, dass er den Dunstkreis politischer Degeneration irgendwie attraktiv fand, dass er sich von ihm angezogen fühlte und Teil davon sein wollte. Doch das ist natürlich nicht die Erklärung. Wie wir sehen werden, widerspricht Steiners Einschätzung der SEP aus dem Jahr 1999, als er die Mitgliedschaft beantragte - ganz zu schweigen von dem Briefwechsel, den er zwischen 1997 und 2003 mit mir führte - völlig dem, was er nun in MWHH schreibt.

Wird fortgesetzt

Anmerkungen

1. Zitiert aus "Marxismus, Geschichte und Sozialistisches Bewusstsein", S. 38

2. a.a.O., S. 24

3 a.a.O., S. 4

4. a.a.O., S. 7

5. a.a.O., S. 5

6. a.a.O., S. 13-15

7. a.a.O., S. 36

8. a.a.O., S. 36

9. a.a.O., S. 53

10. Marxism without its Head or Heart, S 2-3. Alle Zitate aus diesem Dokument sind aus dem englischen Text übersetzt; die dortigen Seitenangaben entsprechen einem PDF-Ausdruck des gesamten Dokuments, worin zu verschiedenen Zeitpunkten auf Steiners und Brenners Website veröffentlichte Kapitel vereinigt sind. Die Seite kann unter http://www.permanent-revolution.org eingesehen werden.

11. a.a.O., S. 252.

12. a.a.O., S. 2

13. a.a.O., S. 17.

14. a.a.O., S. 241.

15. a.a.O., S. 267

16. a.a.O., S. 275

17. a.a.O., S. 278

18. a.a.O., S. 247

19. z.B. in Das Elend der Philosophie: "Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan. Die gute Seite und die schlechte Seite, der Vorteil und der Nachteil zusammengenommen bilden für Herrn Proudhon den Widerspruch in jeder ökonomischen Kategorie. Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen." [in: Karl Marx / Friedrich Engels, Ausgewählte Werke, Bd. 1., Berlin 1987, S. 288f.]

20. a.a.O., S. 4

21. Marxismus, Geschichte und Sozialistisches Bewusstsein, S. 27-29.

22. a.a.O., S.127

23. a.a.O., S. 144.

Siehe auch:
Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein
(11. September 2007)