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Zu viel und zu oft – Wer wirksamere Antibiotika verhindert

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Zu viel und zu oft - Wer wirksamere Antibiotika verhindert | Video verfügbar bis 23.11.2017

Karin Kahl hat großes Glück, dass sie noch lebt. Sie kam mit einem Hörsturz ins Krankenhaus. Am Ende landete sie mit einem multiresistenten Keim an der Herzklappe auf der Isolierstation. Erst in letzter Minute fand sich ein Antibiotikum, das noch wirkte.

Krankenhauskeime, gegen die kaum ein Mittel mehr hilft. Jährlich kosten diese Keime bis zu 15.000 Menschenleben und viel Geld. Ein Patient mit einem Killerkeim verursacht im Schnitt 17.500 Euro Mehrkosten für die Krankenkassen. Das summiert sich jährlich auf rund 525 Millionen Euro.

Kern des Problems ist, dass Antibiotika zu oft, zu ziellos und falsch eingesetzt werden. Im Sommer werden weniger und jetzt in der Erkältungszeit werden mehr Antibiotika verschrieben. Obwohl gut 90 Prozent der Winterinfekte virusbedingt sind. Antibiotika helfen hier also überhaupt nicht.

Viele Patienten fordern Antibiotika regelrecht ein

Für die Patienten ist es der Arzt, der oft zu Antibiotika drängt. Für die Ärzte ist es der Patient, der das Antibiotikum fordert. Hausarzt Reinhold Jerwan-Keim erlebt das täglich. "Die Erwartungshaltung ist groß. Die kommen schon hierher und sagen, sie bräuchten ein Antibiotikum. Versuchen Sie mal, dagegen zu argumentieren! Dann ist man gleich ein schlechter Arzt, weil man nicht auf die Patienten hört." Jerwan-Keim beschreibt eine Zwickmühle. So kämen Antibiotika oft unnötig zum Einsatz.

Der Hygienemediziner Prof. Dr. Klaus-Dieter Zastrow von der deutschen Gesellschaft für Hygienemedizin kämpft mittlerweile täglich gegen multiresistente Keime. Ärzte finden immer weniger Mittel, die wirken. Das Problem verschärft sich durch jede ungezielte Antibiotikatherapie. "Wenn die Praxis sich nicht verändert, das heißt, strikt auf die gezielte getestete Therapie hinarbeitet, werden diese multiresistenten Erreger immer mehr werden", sagt Zastrow.

Einfacher Labortest schützt vor unnötigen Verschreibungen

Gegen diese Katastrophe gibt es längst eine Lösung. Das Antibiogramm ist ein einfacher Labortest. Hier wird untersucht, wie der konkrete Erreger auf verschiedene Antibiotika reagiert. Nach 48 Stunden zeigt sich, ob überhaupt ein Antibiotikum hilft und wenn ja, welches. Die Krankenkasse BKK Nordwest hat den Einsatz des Testes überprüft. Das Ergebnis ist erschreckend.

Antibiotika-Verschreibungen
Nur 0,004 Prozent führen ein Antibiogramm durch.

Bei 350.000 Antibiotikaverschreibungen haben Hausärzte nur 15-mal den Test gemacht. Das sind nur 0,004 Prozent. Das hat Folgen für die Patienten. Allein in NRW bekam jeder Dritte zwei oder mehr Antibiotika, weil das erste nicht wirkte. Für den Hygieneexperten Zastrow ist das ein Fiasko: "Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass das die Methode der Wahl überhaupt ist. Jedes Lehrbuch und jede Leitlinie fordert eine resistenzgerechte Therapie. Die kann ich nur erreichen, wenn ich ein Antibiogramm durchgefühe. Sonst weiß ich nichts über die Resistenz. Deswegen ist es unerklärlich, warum es kaum eingesetzt wird."

Hausärzte kriegen Labortest-Aufwand nicht bezahlt

Auch Jerwan-Keim hält die Tests für sinnvoll. Er erklärt aber, warum viele Hausärzte sie nur selten machen: Sie bekommen den Aufwand nicht bezahlt. Eine Probe nehmen, sie zu verpacken, sie verschicken, das Ergebnis analysieren und dann ein zweiter Patiententermin – das kostet Zeit.

Trotzdem muss sich etwas ändern. Deshalb macht die Krankenkasse jetzt den Vorstoß. Zwei Jahre lang bekommt jeder Hausarzt zehn Euro pro Antibiogramm. Auch die Laborkosten werden voll bezahlt. Im Gegenzug soll kein Antibiotikum ohne vorherigen Test verschrieben werden, zunächst bei Wund- und Harnwegsinfektionen.

Unnötige Verschreibungen kosten knapp drei Millionen Euro

Die BKK hat für die letzten anderthalb Jahre nachgerechnet. Unnötig verschriebene Antibiotika kosteten sie über 2,8 Millionen Euro. Das neue Projekt, bei jeder Infektion erst einen Test zu machen, kostet knapp 2,7 Millionen Euro. Am Ende spart die Kasse sogar Geld.

Der Test kann großes Leid ersparen und künftig Schicksale wie das von Andrea Beck verhindern. Die 48-Jährige ist seit zwei Jahren krank, weil ihr das falsche Mittel gegeben wurde. Die Friseurin bekam wegen einer Nasennebenhöhlenentzündung ein Antibiotikum, das gar nicht gegen ihren Infekt half. Dafür löste es aber Nebenwirkungen aus wie Sehnenschäden, Schmerzen, starke Sehstörungen, Halluzinationen und Angstzustände.

Hoffnung gegen Verschreibungsflut

Die BKK Nordwest hofft, dass ihr Projekt zur Förderung des Antibiogramms die Verschreibungsflut endlich eindämmt. "Unser Ziel ist, dass das der künftige Behandlungsstandard im Gesundheitswesen wird. Zumindest, wenn sich zeigt, dass diese Maßnahmen greifen und dass damit tatsächlich der Antibiotikaeinsatz reduziert werden kann", sagt Dirk Janssen von der BKK Nordwest. Antibiotika nur nach vorherigem Test könnte der große Wurf sein im Kampf gegen die Killerkeime.

Autorin: Katja Sodomann

Stand: 24.11.2016 10:17 Uhr