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Foto nordische Landschaft

28. August 2011

Tv-Resistori: Oder Überraschungen, Enttäuschungen und Hoffnungen

Abends um neun ist es so gut wie dunkel hierzulande. Eine Ahnung von Herbst liegt in der Luft. Man denkt sich so dies und das. Dass es in Helsinki um diese Zeit noch hell war. Und dass für das städtebauliche Entwicklungsgebiet am alten Fischereihafen Kalasatama zwar für die Zukunft ehrgeizige Hochhäuser geplant sind, aber heute mitten in der Brache improvisierte Gigs und Kunstaktionen im Bauwagen stattfinden. Unbedingt hingehen! Einfach U-Bahnhof Kalasatama aussteigen samstagabends und Richtung Meer schlendern. Nicht zu verfehlen!

Man denkt an Plattenläden, die in Helsinki und Turku trotzig weiter existieren, obwohl der Tod des Tonträgermarktes schon vor fünf Jahren ausgerufen wurde. An den tapferen Stupido Shop in Helsinki und den wunderbar kruscheligen 8raita in Turku, den man doch nicht ohne Käufe verlassen kann. Wobei sich der eine Kauf als Enttäuschung und der andere als Freude erweist. Die Enttäuschung heißt Siinai: Das Album »OLYMPIC GAMES« der finnischen Vangelis-Jünger kann die eigenen Ansprüche nicht mehr als ein, zwei Songs halten und versinkt dann in Mittelmaß, gar Beliebigkeit. Schade, von einem Album, an den zwei von drei Mitgliedern der wunderbaren Neo-Krautrocker Joensuu 1685 mitwirken, hätte man sich mehr erwartet. Überhaupt: Was ist aus Joensuu 1685 geworden? Letztes Lebenszeichen: Das Eurosonic-Festival in Groningen vor anderthalb Jahren, oder so ähnlich.

Die Überraschung heißt Tv-Resistori. Das schrullige Lo-Fi-Pop-Quartett aus Turku war lange in der Versenkung verschwunden und ist jetzt endlich mit einem selbst betitelten Album wieder aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Mit charmantem, zurückgenommenen Alltagspop, aus dem die Funken stieben wie aus dem Ende von Dumblodores Zauberstab. Es ist Gebrauchspop, notwendig wie der dicke Schal an kalten Wintertagen. So selbstverständlich, dass man nicht mehr darüber nachdenkt, sondern ihn einfach entschieden nochmals um den Hals schlingt bei Der lebt von den feinen Girl-Boy-Harmonien von Yka und Päivi. Die sich viel Raum lassen. Fünf Jahre lang haben die vier gewerkelt, sich hörbar von südlichem Geflirre beeinflussen lassen, denn ein blasser Bossa-Nova-Takt steppt durch die taubengrau sanften Songs. Die fein gewebt und geradezu elegant daherkommen und trotzdem selbstbewussten Eigensinn verströmen. Die eine unterschwellige Traurigkeit pflegen, die sich am ehesten noch in Kopotan Puuta manifestiert, dem vielleicht schönsten Song des Albums. Zu dem man lächeln, tanzen und gleichzeitig eine kleine Träne verdrücken möchte.

Tv-resistori: Koputan puuta by Fonal Records

Man sitzt zuhause am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster und freut sich, dass der Turm auf der Ludwigshöhe so schön erleuchtet ist. Und man denkt an die besten finnischen Bands, die man auf dem Flow Festival in Helsinki gehört hat. Und dass man eine davon demnächst auf Deutschlandtour live auf erleben kann, nämlich Rubik, die immer besser werden, in dem sie sich in eine Richtung wandeln, die die Grenzen des traditionellen Indierocks souverän sprengen. Ob sie beim Konzert in Offenbacher Hafen 2 auch mit zwölf Mann und allerlei Blaswerk auf der Bühne stehen werden, bleibt abzuwarten. Als sicher kann gelten, dass Sänger Artturi Taira immer mehr zum Waldschrat mutiert, fein!

Und man denkt an die Bands, die man wohl auf absehbare Zeit hierzulande nicht hören wird. Wie die Melodrama-Träumer Magenta Skycode, die beim Flow auf der Hauptbühne spielen und mit den großen Gesten der üppigen Gefühlswelt von Sänger Jori Sjöroos punkten. Herzschmerzpop in Cinemascope, balladig, himmelhoch jauchzend, ebenso überwältigend wie massenkompatibel. Wobei massenkompatibel durchaus als Kompliment gemeint ist. Und man wundert sich doch sehr, warum es Magenta Skycode noch nicht über den finnischen Markt hinaus ins restliche Europa hinunter geschafft haben. Nur weil ihre beiden Platten noch nicht hier unten erschienen sind?

Und man denkt ganz zuletzt an Nightsatan und ihren ersten Auftritt auf dem Festival – die vier sympathischen Synthie-Dunkelmänner, die eifrigen Jünger von John Carpenter, Vangelis und Goblin. Die wüste Weltuntergegangs-Szenarien entfachen, aber überaus lächelnd, selbstironisch, dickmäuilig und sehr tanzbar. Bitte irgendwann auch mal den Rest der Welt beglücken!

Nightsatan – Karelian Starmaster (Evil Lucifer) by antonbeschekov

22. August 2011

R.I.P. Hole In The Sky: The Last Supper mit Satyricon, Immortal, Enslaved und (den Überlebenden von) Mayhem

Requiescat in pace: Die zwölfte Ausgabe des Hole In The Sky-Festivals vom 24. bis 27. August 2011 im norwegischen Bergen ist zugleich die letzte. Aus. Schluss. Vorbei. Eines der besten (Black Metal) Festivals ist Geschichte.

Aufhören wenn es am schönsten ist …

»Es war keine einfache Entscheidung, aber wie man so schön sagt: Alles Gute geht vorbei.«, so die Veranstalter zu denen auch Enslaved-Gitarrist Ivar Bjørnson gehört. Die Organisatoren wollten aufhören solange Hole In The Sky (HITS) an der Spitze steht. Möglicherweise hat auch der für Dezember geplante Umbau des Clubs USF Verftet, Veranstaltungsort des Festivals seinen Teil dazu beigetragen.

Mayhem-Bassist Necrobutcher hat einen besonderen Auftritt angekündigt, ebenso wie Ivar von Enslaved und Abbath von Immortal. Übrigens hat mit den Sons Of Bergen alias Immortal, das Hole In The Sky begonnen – und mit Immortal wird es am Samstag, 27. August 2011, enden.

… und ein Rückblick:

Das HITS wurde anno 2000 im Gedenken an Erik »Grim« Brødreskift (Immortal, Gorgoroth, Borknagar) gegründet und war das erste jährliche Festvals Norwegens – und von Anfang an ausverkauft.

Hier spielten bereits Venom, Autopsy, Carcass, Testament, Pentagram, Voivod, Enslaved, Gorgoroth, Danzig, Celtic Frost, Exodus, Morbid Angel, Sodom, Opeth, Napalm Death, Mayhem, Obituary, Kreator, Immortal, Destruction, Paul Di’Anno, Impaled Nazarene, Samael und Satyricon.

Fest steht: Das ist die allerletzte Gelegenheit jemals beim legendären Hole In The Sky dabei zu sein – holt euch eure Karte!

19. August 2011

Flow Festival 2011: Cirko, der Lieblingsort

Um ganz ehrlich zu sein: Zuerst strande ich beim Flow Festival nur wegen schmerzender Füße im Cirko, weil man sich nach langem Stehen dort so schön auf den großzügig im halbdunklen Raum verteilten Liegekissen niederlassen und durchschnaufen kann. Bis dann ziemlich rasch dämmert, dass in diesem Zirkus, einem auf den ersten Blick wenig spektulären Nebengebäude auf dem Festivalgelände, der wunderbare Sami Sanpäkilä, Herz und Hirn des experimentellen finnischen Fonal-Labels, sich hier seine ganz eigene Spielwiese der verwirrenden Töne eingerichtet hat. In einer entspannten, offenen Atmosphäre. Schauen. Hören. Sich sachte wegpusten lassen. Oder von Melodramen rücklings überwältigen.

Die manischen Elekronik-Tüftler Fricara Pacchu sind ein solcher Fall. Der Großteil ihres Werkes ist bislang nur auf Kassette erschienen. Ein Album mit dem irreführenden Titel »STORIES OF OLD« ist selbstverständlich nirgendwo anders als bei Fonal erschienen. Fricara Pacchu nehmen uns mit auf eine Geisterbahnfahrt in die unberechenbare Welt anarchisch-wilder Töne, in der die Genregrenzen zwischen Synthie-Blubbermusik und psychedelischen Ausschweifungen mühelos fallen und die Spielekonsolenmusik-Ästhetik eindeutig auf die dunkle Seite der Macht überschwenkt. Ausruhen ist hier nicht, in diesem beunruhigen, unwirklichen, knallbunten Paralleuniversum, das selbstverständlich fast ohne Worte auskommt und trotzdem ganze Romane schreibt. Man sollte danach bloß nicht anfangen, Lovecraft-Romane zu lesen, sonst läuft man womöglich Gefahr, ernsthaft an die Existenz von Aßerirdischen zu glauben.

Fricara Pacchu: Bianca’s Beach Party by Fonal Records

Sami Sanpäkilä selbst lässt es sich am Sonntag nicht nehmen, bei Kemialliset Ystävät, dem ausufernden Projekt von Jan Anderzén aus Tampere, mit auf die Bühne zu steigen und zu demonstrieren, dass es elektronische Eigenbröteleien durchaus eine geschmeidige Eleganz entwickeln können. Wie eigentlich alle Fonal-Bands sind diese chemischen Freunde mit Vorliebe dabei, sich ins Unterholz zu schlagen und die Merkwürdigkeiten alltäglicher Töne herauszuarbeiten. In diesem Fall ist das Ergebnis sogar überaus tanzbar. Wenn nicht eine gesamter, vollbepackter Saal voller Zuhörer, im Halbdunkel auf Sitzkissen und aneinander geschmiegt, mit entspannter Konzentration zuhören würde. Tanzen werden wir später noch, keine Bange, und nicht zu wenig. Bei den wunderbaren Math-Rockern Battles aus New York City etwa, die sich nicht im geringsten davon stören lassen, dass Festival-Headliner Kanye West zeitgleich spielt. Die geschätzten 6,3 Prozent Flow-Besucher, die es nicht zu Herrn Wests ausgetüftelter Show gezogen hat, haben ihre Entscheidung nicht bereut.

Kemialliset Ystävät: Kivikasan rauhassa (2010) from M Petteri on Vimeo.

Ganz zum Schluss holt Meister Sanpäkilä im Cirko übrigens noch ein musikalisches Überraschungsei aus der Tasche: In Gestalt eines mir bislang völlig unbekannten Duos aus der bekannten deutschen Rockmetropole Saarbrücken: Pretty Lightning heißen die beiden langbemähnten Musiker an Gitarre und Drums, die mit ihrem psychdelischen, spacigen Bluesrock alle Teufel dieser Welt für immer in die Mississsippi-Sümpfe treiben könnten, cool lächelnd. Johhny Cash und Jack White dürften diese heftigen Töne aus der saarländischen Hauptstadt lieben. Das demnächst erscheinende Album der Zwei trägt den schönen Titel »THERE ARE WITCHES IN THE WOODS«, wodurch der Bogen zum Fonal-Label elegant gschlagen ist.

17. August 2011

Flow Festival 2011: Minä Ja Ville Ahonen

»Was war das denn?« denkt man sich und sinnt noch ein Weilchen darüber nach, wie man die 45 Minuten beschreiben soll, die man mit Minä Ja Ville Ahonen am letzten Tag des Flow Festivals in Helsinki verbracht hat. Chansonnier und Singer-Songwriter, Waldschrat und Nerd, Indiepopper und Elektronik-Schamane: Alles Begriffe, die durchaus einige Minuten lang auf den kurzbehosten (nicht wirklich schmeichelnd, das), stechäugigen, ungelenken finnischen Musiker zutreffen. Fast verhalten, durchaus schüchtern fängt er an, die Klampfe in der Hand, die Gliedmaßen eckig-unbequem zusammengefaltet. Begleitet von drei männlichen Mitmusizierern, die alle so aussehen, als ob sie beim Völkerball als allerletzte in die Mannschaft gewählt werden, und einer sehr attraktiven blonden Schlagzeugerin, der die kurzen Hosen unbedingt besser stehen als dem Namensgeber der Band.

Es geht hier zunächst um Liebe und unerfüllte Sehnsüchte, aber immer mit diesem feinen Sprung im Porzellan, der die Songs vor flacher Oberflächlichkeit bewahrt. Nein, hier wohnt lockend Unbekanntes hinter den Klischees, lauert eine leise Bedrohung hinter Bäumen. Ja, die Bäume, der Wald, ein finnischer Identitätsort, in dem sich Ville Ahonen gern verschanzt. Und langsam, langsam, wird man im blauen Zelt mitten am Nachmittag auf Abwege geleitet, bis der Boden unter den Füßen leise zu wanken beginnt. Das Geheimnisvolle, das gerade so Nicht-Begreifliche ist genau das Element, in dem Schrulligkeit des Herrn Ahonen bestens gedeiht. Der zwischendurch ins Rockige wechselt, aber eben nur flirrend und flüchtig. Um dann ebenso schnell wieder ins indiepoppig Hymnische zu wechseln.

Herr Ahonen folgt an diesem Nachmittag dem Spannungsbogen, den er auf seinem selbstbetitelten Debütalbum vom vergangenen Jahr aufbaut. Und so ist es nur folgerichtig, mit dem Achtminüter »Musta Virta« (Black Power) zu enden, der samtpfötig beginnt, aber dann auf raffinierte Weise plötzlich in elektronische Tanzmusik umschwenkt, die jedem heidnischen Waldritual bestens anstehen würde. Und der ganze dürre Mensch ergibt sich plötzlich und lässt los, läuft wie besessen im Kreis und tanzt, tanzt, tanzt, als ob ihn die Kobolde rund ums Lagerfeuer jagen würden. Sehr merkwürdig. Sehr eigenwillig. Sehr intensiv. Danach tritt man in Helsinkis Nachmittagssonne und braucht einige lange Sekunden, um wieder in der Realität anzukommen. Etwa so, wenn man morgens aus lebhaften Träumen erwacht.

05. August 2011

Paavoharju, oder: wir blitzen auf zwischen den Bäumen

Jahrelang war von diesen seltsam-scheuen Waldwesen nichts zu hören, und es stand schon zu fürchten, sie seien endgültig vom grünen Dickicht entlang der finnisch-russischen Grenze verschlungen worden, aber jetzt erlauben sie uns endlich wieder einen Blick in ihre verstörend schöne Welt: Paavoharju, das lose Kollektiv um die Gebrüder Ainola, haben bei ihrem Stamm-Label Fonal Records eine neue EP mit demn schönen Titel »IKKUNAT NÄKEVÄt« vorgelegt, die zum großen Teil aus raren Tracks, aber auch aus neuem Material besteht. In dem es um offene Fenster geht, aber die weisen bei Paavoharju stets in verwirrende, beunruhigende Gegenwelten, in denen Traumfetzen herumwirbeln wie andernorts Wolken. Sicher kann man sich hier nie sein, und einordnen unter irgendwelche Genrebegriffe lassen sie sich ohnehin nicht. Freak Folk? Trifft es nicht wirklich. Zu viel beseeltes Melodrama, zu viel Geisterwelt, zu viel Unbegreifliches, was durch die offenen Fenster drängt. Dielen knarzen, das Piano taumelt, elektronische Störgeräusche geistern durch den Untergrund. Paavoharju bahnen sich ihren Weg unerhört ernsthaft durch das Unterholz, am liebsten dort, wo alle Pfade enden.

In den Songs von Paavoharju wohnen das Glück und die Angst vor dem Unbekannten stets nah zusammen. Verschwimmen die Gewissheiten und beginnt der Boden unter den Füßen sacht zu wanken. Und man hört ihn, den lockenden Ruf vom Waldrand her, und irgendwann wird man ganz früh morgens barfuß durch die zuvor fest verschlossen Tür schlüpfen, über taunasse Wiesen tappsen und endlich mit klopfendem Herzen vom Wald verschlungen werden. Paavoharju warten dort schon weitab menschlicher Behausungen auf einer Lichtung, rätselhaft lächelnd.

Paavoharju: Ikkunat näkevät by Fonal Records