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Foto nordische Landschaft

25. Oktober 2015

Hohe Erwartungen mit Vára

In anderthalb Wochen beginnt mein musikalischer Höhepunkt des Jahres: Das Iceland Airwaves Festival 2015 in Reykjavík. Es ist eine sehr gute Idee, trotz aller Novemberstürme nach Island zu fliegen! Das offizielle Programm wartet mit anspruchsvollen Tönen aus aller Welt auf. Aber das allerbeste ist: Von drei Viertel der auftretenden Musiker hat man höchstens ansatzweise gehört. Wenn überhaupt! Und wie jedes Jahr staunt man wieder darüber, dass mehr als die Hälfte der Bands aus Island kommt. Im ganzen Land leben weniger Einwohner als in Wuppertal. Wahrscheinlich wetteifern hier ganze Reykjavíker Schulklassen miteinander, wer in der cooleren Band spielt. Vorfreude lässt sich nicht besser zelebrieren als beim Stöbern im Off-Venue-Programm des Festivals: Das sind die improvisierten Konzerte, die in Kneipen, Jugendherbergen, Buchläden oder Boutiquen stattfinden. Und so stolpere ich über die hoffnungsvollen Newcomer Vára, die trotz (oder wegen?) ihrer offenkundig sehr jungen Jahre einen sehr euphorische Variante des Postrock spielen. Auf den wenigen Fotos sehen die Fünf so aus, als ob sie höchstens 15 wären. Aber hochfliegende Erwartungen haben die Jungspunde heute schon, und aus gutem Grunde. Sie ziehen mit einem verstimmten Klavier, elektrischen Gitarren, einem alten Drumset und den himmlischen Falsett-Vocals des Sängers auf Abenteuerfahrt. Dass die Youngsters den Übervätern von Sigur Rós fein gelauscht haben, das ist nicht von der Hand zu weisen. Sei´s drum, große Vorbilder braucht jeder! Wer sich angesichts der frühen Dunkelheit eine gute halbe Stunde mit hymnischem, häufig instrumentalem Postrock trösten will, ist bei den »SKURÍNN«-Demos von Vára gut aufgehoben. Besonders der Track »11E« gefällt ausgesprochen gut. Diese fünf Nachwuchskräfte habe ich mir auf meinem Festivalkalender bereits fest vorgemerkt!

19. Oktober 2015

Ein bisschen Farbe in den Tag mit Johnny Got It Wrong

Es ist ein bisschen früh für Novemberdepressionen, obwohl sich das Oktoberwetter bereits grau in dunkelgrau präsentiert und die Mützen-, Schal- und Handschuhzeit viel zu früh angebrochen ist. Lassen wir uns doch mal mit sonnigen Tönen aus Finnland aufheitern! Teppo Tuomisto heißt der Musiker aus Helsinki mit einer Schwäche für großblumige Hemden in Pastellfarben. Johnny Got It Wrong nennt sich der junge Mann als Musiker. Eigentlich ist der Nachwuchsbarde dem folkigen Singer-Songwriter-Lager zuzurechnen, wenn er gefühlige Balladen zur Klampfe spielt. Die übrigens erfreulich leichtfüßig daherkommen. Nichts da mit transusiger Liedermacher-Nölerei! Bei Johnny kommen selbst nachdenkliche Töne quicklebendig daher!

Erfreulicherweise springt der Sänger mitunter beherzt hinüber ins Poplager und lässt den Präriegaul in einen kräftigen Gallop verfallen. Und so kommt es, dass ausgerechnet der Song »I Don´t Want To Die« sehr temperamentvoll ausfällt und wir am liebsten dazu die Tanzschuhe auspacken wollen. Hier krachen die Gitarren und perlt das Piano. Der Track ist zugegebenermaßen Grenzwert-Eurovision-Material (mal ehrlich: sollen sie doch Johnny schicken, vielleicht gewinnt Finnland den Song Contest endlich mal wieder!), aber er macht einfach Spaß! Ein Lächeln schleicht sich ins Gesicht. Gefühle werden hier groß aufgetragen, der Refrain lässt sich nach zweimaligm Hören mitsingen, auch eine Kunst! Um die Stimmung auf dem eben erschienenen Debütalbum von Johnny Got It Wrong zu beschreiben, muss man übrigens zu altmodischen Vokabeln greifen: Heimelig. Treuherzig. Seelenvoll. Natürlich geht es um die Fröste des Erwachsenwerdens und die Gefahr, sich viel zu früh mit den Dingen zu arrangieren. Alles schon tausendfach gehört. Aber Johnny Got It Wrong erzählt die alte Geschichte mit so viel naivem Charme, dass man ihn gerne länger lauscht.

15. Oktober 2015

Macbeths Hexe im Feen-Gewand: Phaedra

Die mythologische Phädra hat in der griechischen Sage ein böses Ende gefunden und noch über den Tod hinaus üble Dinge angestiftet. Die norwegische Sängerin Ingvlid Langgård alias Phaedra hat mit solch sinistren Sachen nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie klingt zunächst so glockenklar, als wolle sie den Elfen Konkurrenz machen. Bis sie bald auf den interessanten Nebenpfad des Freakfolk einschwenkt, wo die Schönheit stets auch einen kleinen Tick schaurig ist. Die Chanteuse hat kürzlich ihr zweites Album »BLACKWINGED NIGHT« herausgebracht. Auf dem balladige Schönheit, bestens in Szene gesetzt mit gefühlvollen Streichern, ganz unversehens in Richtung dunkle Gegenwelten abdriftet. Twin Peaks lässt grüßen, wenn Feuer an unserer Seite lodern.

Die Brüche sind subtil. Ganz sanft gleiten wir mit Phaedra in samtene Abgründe. Der seine feine Track »Lightbeam« kommt zunächst im unschuldigen Gewand eines Wiegenliedes daher. Aber dann entwickeln elektronische Soundeffekte einen solchen Sog, dass sich die Fenster des Kinderzimmers unversehens in Richtung des dunklen Waldes öffnen. Phaedra touchiert hier den Dreampop. Aber wohl nur, um die an den Rändern lauernde Finsternis um so effektiver in Szene zu setzen! Macbeths Hexe im Feen-Gewand: Das ist von beunruhigender Schönheit! Das ist Nachtmusik für solche, die gerne in dunkler Schönheit schwelgen. Und die es zu schätzen wissen, dass symphonische Klänge, klassischer Folk und die dreizehnte Fee einen gelungen Dreiklang bilden!

das sich mit

11. Oktober 2015

I really like redheads: Reeperbahn Festival 2015

Ich habe eine kleine Schwäche für Rothaarige, seit ich in meiner Pubertät unglücklich in einen Jüngling dieser Haarfarbe verliebt war. Aber ach, ich war zwei Köpfe größer als er und das ist für einen 16jährigen Jungmann jenseits der Schmerzgrenze. Schade! Aber es kommt nach wie vor Freude auf, wenn sich Rothaariges in meinem musikalischen Universum tummelt: Wie Jökull, der Bassist der putzmunteren isländischen Indierocksters Munstur. Und dann kam dieses Jahr auch noch die schönste musikalische Liebeserklärung an die Feuerköpfe heraus, der wunderbare Track »Redheads« von 23:23 aus Finnland. Wo Sami Vierula geradezu mantraartig beschwört: »I really like redheads«. So ist es! Nach dem kleinen Exkurs komme ich endlich zum Punkt, nämlich zum sehr feinen Konzert von Júníus Meyvant beim Reeperbahn Festival 2015 in der St. Pauli Kirche. Júníus Meyvant ist erdbeerblond und blass und inszeniert sich mit vielköpfiger Band als sensibler isländischer Troubadour. Was bestens in die Kirche passt, wo das Publikum aufmerksam und respektvoll lauscht. Und an den Synthies sitzt ein halb ausgewachsener rothaariger Jungmann, der so bescheiden wie sympathisch wirkt. Es ist der kleine Bruder von Júníus, wie der Ältere beiläufig erzählt. Und man wünscht sich, dass dieser Musiker seinen Weg geht und hoffentlich eine ganze Schublade voll eigener Songs hat. Aber auch der blassrothaarige große Bruder überzeugt an diesem Abend mit einer Mischung aus Schönheit und Ernsthaftigkeit.

Aus der Kirche möchte man gar nicht mehr weg, so heimelig und entspannt ist es dort. Die Kirchenleute verkaufen Wein und Bier mitten im Gotteshaus. Warum denn nicht? Und so bleibt man und lässt sich von den eigensinnigen elektropoppigen Nachtgedanken von Kat Vinter einlullen. Melodrama auf Eis. Die australische Musikerin hat es bereits seit einiger Zeit nach Berlin verschlagen (gibt es eigentlich keine anderen deutschen Städte für Exilanten? Ist man anderswo per Definition uncool?), wo sie unter anderem mit der norwegischen Texterin Laila Samuels zusammenarbeitet. Von daher stammt wohl auch diese arktische Brise, die durch diese Songs zieht. Reduziert, geheimnisvoll und elegant hört sich das an. Das sind Töne in Schwarz-Weiß. Kat Vinter ist eine kühle Diva, die ein leises Feuerchen anzündet. Und trotzdem ihr Geheimnis wahrt.

Kat Vinter – Downtime from Anton Koch on Vimeo.

Und ich hatte gar nicht gewusst, dass der schwedische Singer-Songwriter Andreas Moe eine so große Fangemeinde in Deutschland hat! Der Mann mit der Gitarre und dem Dackelblick trifft wohl den Zeitgeschmack mit seinem ohrschmeichlnden Mix aus Folk und Pop. Das Banjo puckert so gefühlvoll, dass es sehr ans Herz geht. Und diese schmeichelnde Falsettstimme! Aber alles zu leicht goutierbar. Auf diese Töne können sich Teenie und Großtante einigen. Nett, viel zu nett! Schnell entfleucht, um dem neuen Signining vom Qualitätslabel BB Island zu lauschen. Der jungen US-Sängerin Lady Lamb. Sehr direkt. Sehr emotional. Und sie tut auf der Bühne Dinge, die ich in sehr vielen Jahren Konzertgängerei noch nicht gesehen habe. Weil ihr der Mikrosound nicht gefällt, zieht sie ihre Schuhe aus, zieht die Socken aus und streift diese übers Mikro. Einfache Mittel siegen, Chapeau! Superlebendig und sehr sie selbst: Schöner Abschluss, Lady Lamb! Diese ccoole Prise New York hatte gefehlt!

08. Oktober 2015

Reeperbahn Festival 2015: Fay Wildhagen!

Ich muss etwas gestehen: Finnland war in diesem Jahr Partnerland des Reeperbahn Festivals. Eigentlich hätte ich mich zuhauf auf den Konzerten finnischer Bands herumtreiben müssen. Ich tat es nicht. Dafür gab es einige Gründe. Viele der Bands habe ich bereits live gesehen. Es gab finnische Bands, die mich nicht die Bohne interessierten. Wie die uninspirierten Synthiepopmädels von LCMDF. Ich fand schon die letzten Veröffentlichunges des Duos überaus belanglos. Oder Eva & Manu: Verdiente, sympathische Folkpopster, die ich nicht unbedingt nochmal sehen muss. Übrigens nicht nur Häme hier: Die wunderbare Mirel Wagner hebe ich mir fürs Konzert auf dem Iceland Airwaves in vier Wochen auf! Die Neo-Psychedelik-Band Black Lizard (Foto: Sofia Okkonen) aus Helsinki aber ist unbedingt zu loben! Mit ihrer ungewöhnlichen Stilmischung aus Fuzz-Gitarren, trockentrockenem Bass, mitleidlosen Drums und fast schon ätherischen Vocals. Let the good times roll! Und dass der Drummer so aussieht wie der finnische Doppelgänger von Harry Potter ist ein Extra Goodie!

Aber eigentlich geht man ja aufs Festival, um neue Band zu hören. Oder bekannte Gesichter in neuen Zusammenhängen. Trail-Of-Dead-Sänger Conrad Keely überzeugt in der St. Pauli-Kirche mit dunkelschwarzen Countrysongs und tieftraurigen Balladen. Oh möge man diese verlorene Seele dereinst nicht irgendwo in der einsamen Prärie begraben! Und die rockige Energie der drei Schotten von Fatherson fegt einem geradezu hinweg! Ungemein sympathisch sind die Glasgower auch noch! Man hätte noch stundenlang mit ihnen schwitzen können im Grünen Jäger!

Nun komme ich aber endlich zur skandinavischen Entdeckung des Abends. Und das ist die eigenwillige norwegische Musikerin Fay Wildhagen, die im plüschigen Krimi-Theater auftritt. Eine feine Mischung aus herben und zartfühlenden Tönen zelebriert. Poetisch sind diese ausufernden und unberechenbaren Songs. Brav ist die junge Frau mit den braungelockten Haaren überhaupt nicht. Scheut sich nicht vor großen oder gar überkandidelten Tönen. Steht trotzdem mit einem Fuß in der Folk-Tradition. Als spontane Referenzgrößen fallen nur bedeutende Namen wie Joni Mitchell und sogar Joan Armatrading ein. 21 Jahre alt erst ist die junge Sängerin und Gitarristin, die mit einer Haltung auftritt, die zwischen Schüchternheit und Selbstbewusstsein irrlichtert. Bestens unterstützt von einer Begleitband an Cello, Violine, Trompete und gar Hardangerfiedel. Fay Wildhagen ist offenkundig im Aufbruch. Sucht nach unerhörten Dingen. Und vor allem nach der eigenen Stimme. Vor wilden Gitarrensolos scheut sie nicht zurück, auch nicht vor Refrains, die man bestens mitsingen kann. Und bleibt trotzdem unberechenbar wie eine Katze. Das Publikum lauscht aufmerksam. Mitunter hält man fast den Atem an. Diese dunkelblaue Stunde kurz vor Mitternacht hätte noch lange weitergehen können!

 
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