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Foto nordische Landschaft

29. August 2010

TV Off: Ja ist denn schon Karneval?

Irgendwie fliegt hier jahreszeitenunabhängig das Konfetti. Darüber rotiert die Discokugel. Es ist schwül, so schwül, dass das Mascara verläuft.

Der Karneval ist in Finnland bislang noch eine recht unbekannte Angelegenheit, aber das kann sich ja ändern. Mit TV Off und ihrem Tanzboden-Elektropop. Die beiden Neuankömmlinge im Tanzlokal drehen die Synthies und die Drummaschinen ordentlich auf und tun ungeniert das, was in ihrem Heimatland eigentlich per ungeschriebenem Gesetz verboten ist: Unverschämt hedonistisch sein.

Sängerin Sara gibt das laszive Vollblutweib, das gleichwohl vom Kaugummikauen und Luftballonsteigenlassen nicht lassen kann. Gemeinsam mit ihrem musikalischen Partner Markku springt sie auf dem Trampolin, bis ihnen schwindelig wird und die musikalischen Farben zwischen giftiggrün und Hello-Kitty-rosa oszillieren. Zu viel Süßkram essen und gleichzeitig auch noch abtanzen, das will gelernt sein.

Thematisch geht es hier darum, Fahrzeuge in Brand zu setzen, keine Angst vorm schwarzen Mann zu haben. Um Musikmaschinen und komische Flecken. Aber das ist nur die raue Hülle. Im Kern geht es hier nur ums Luftschlangen-umschlungene Abtanzen. Vielleicht setzt man sich dazu noch ein Paar künstliche Teufelshörnchen auf. Würde passen. »MUSIC MACHINE« heißt nebenbei bemerkt auch das Debütalbum von TV Off.

TV Off sind übrigens Teil der finnischen Delegation auf der Berliner Popkomm im September. Dort lässt sich live erkunden, ob der Konfettiregen auch live überzeugend durch die Luft wirbelt.

TV Off bilden vorerst den Endpunkt des kleinen sommerlichen Streifzugs zu neuen Akteuren in der finnischen Popszene. Draußen regnet es unablässig und es ist so kühl, das erstmals seit Monaten die dicke Strickjacke aus den Tiefen des Schrankes herausgekramt werden muss.

Interessante musikalische Entdeckungen gibt es auch bei Temperaturen um die 10 Grad noch jede Menge zu machen. Auf dem Reeperbahn-Festival etwa. Und natürlich auf dem wunderbarsten Festival von allen, nämlich Iceland Airwaves in Reykjavik im Oktober. Der Herbst kann kommen!

TV OFF – Music Machine from Cocoa © on Vimeo.

24. August 2010

French Films, oder: Sonnige Musik aus einer kalten Ecke

Putzmunter. So klingen sie, eine der interessanteren neuen Bands aus der finnischen Popszene, nämlich French Films. »Sunny music from a cold place« schreibt Promoter Esa Tontti treffend, um die Richtung anzudeuten, in die es hier geht. Waviger, lebhafter, superlebendiger, tanzwütiger Indiepop ist es, den das Quintett auf seiner ersten Single »The Golden Sea« bietet. Nach langem Überlegen fällt endlich der Groschen, an wen die Stimme von Sänger Joni errinnert. An eine jüngere, frechere, sehr viel weniger pompöse Ausgabe von Men-Without-Hats-Sänger Ivan Doroschuk. Oh ja, »Safety Dance« und die guten alten 80er!

French Films selbst definieren die wichtigsten Einflüsse ihrer Musik so: »Dreaming, cold & dark winter, being alive.« Nicht schlecht für den Anfang, Jungs! Als gehypte musikalische Nachbarn lassen sich everbody´s aktuelle Darlings The Drums ausmachen, hinter denen sich French Films nicht wirklich verstecken müssen. Sollten die positiven Schwingungen des einzigen bisher veröffentlichten Songs fortsetzen. Was wir wohlwollend hoffen wollen. Eine EP soll in Bälde herauskommen, das Album-Debüt ist für den Januar geplant. Auf die hypothetische Frage, was sie tun würden, falls sie sich auf einem sinkenden Schiff befänden und nur zwei funktionierende Rettungswesten vorhanden wären, antworten diese Jungs: »We would proudly sink with the ship!« Definitiv die richtige Einstellung.

(Foto: Tuomas Välinen)

20. August 2010

Villa Nah: Synthiepathos für Fortgeschrittene

Irgendwie passiert gerade nicht so sonderlich viel in der finnischen Indiepopszene. Denkt man sich, wenn man durch die Plattenläden von Helsinki und Turku streift. Nun, nicht nichts, offenkundig. Aber angesichts des angeschlagenen Zustands der Weltmusikbranche und der Unberechenbarkeit musikalischer Moden ist die Angesagtsein-Karawane an Finnland vorbeigezogen. Skandinavischer Hype, das war einmal, vor einigen Jahren. Und tatsächlich ist es so, dass derzeit abseits von Metal und Hardrock kaum mehr ein Wort über neue finnische Popbands über die Ostsee Richtung Restwelt dringt.

Schlagen wir doch eine kleine Bresche ins Dickicht und starten eine kleine Serie über Bands, die im allgemeinen Getwitter und Geschnatter noch nicht sonderlich aufgefallen sind. Villa Nah zum Beispiel. Zwei Burschen aus Helsinki, Juho Paalosmaa und Tomi Hyyppä, die den 80ies-lastigen Synthiepop in Ehren halten, mit reichlich Pathos. Die üblichen verdächtigen Referenzen brauchen wir jetzt nicht zu nennen, die verstehen sich ohnehin von selbst. Aber das Duo, das sich nach einem Kindheits-Feriendomizil benannt hat, ist unerwartet geschmeidig und elegant (wie unfinnisch!), sehr urban und tanzbar, ironisch und verspielt, ausprobierend und lächelnd. Und hat auf dem diesjährigen Ruisrock-Festival positiven Eindruck hinterlassen. Im Herbst gehen Villa Nah auf Tour nach Großbritannien. Vielleicht hat sich bis Weihnachten auch hierzulande herumgesprochen, dass man hier die Ohren spitzen kann.

Villa Nah live with visuals by Synthetics from Synthetics on Vimeo.

15. August 2010

Alarma Man: Kurz und heftig

In eine Frau verliebt zu sein, die doppelt so groß ist wie man selbst, ist für schwedische Jungmänner mit so großen Angst- und Lustgefühlen besetzt, dass man gleich einen Song voller wütend-dissonanter Gitarrenausbrüche in Überlänge schreiben muss. Und die eigene Verunsicherung nur mit Unterstützung von zwei Schlagzeugen einigermaßen in den Griff bekommt. Es sind keine banalen oder seichten Themen, an denen sich Alarma Man aus Göteborg abarbeiten. Unter massivem körperlichem Einsatz und mit dem gebotenen Ernst, den diese Thematik zwingend erfordert. Ist ja nicht so einfach, so was. Aber man kann es sich eben nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Aggressives Aufbegehren hilft da garnichts.

Das Quintett gibt sich beim Auftritt im gut gefüllten Offenbacher Hafen2 betont kampfbereit. Versenkt sich konzentriert und mit großer Wut in ein musikalisches Universum, das ebenso von den repetitiven Soundschleifen des Postrock lebt wie vom rohen Aufbegehren des Punk. Die experimentell-schlaue Seelenschau des Math Rock neugierig touchiert. Gewalttätige Mischung, das, trotz der kreuzbraven Zwischenansagen des Bassisten. Gesungen wird hier auch, aber selten, denn Alarma Man sind viel zu sehr damit beschäftigt, musikalisch die Dinge zu benennen, die ihnen permanent zusetzen, sie quälen wie das endlose Surren der Fliege, die sich im Zwischenraum von Fensterscheiben verloren hat und endlos immer wieder gegen ihre gläsernen Kerkerwände anrennt. Dagegen kommt man nur mit dissonanten Gitarrenwällen und fein eingestreuten elektronischen Störgeräuschen an.

Die Welt, in der Alarma Man sich bewegen, muss kalt sein, winterlich und grau. Lebensfeindlich und viel zu technisch, zu automatisiert. Diese Fünf schreiben einen wütenden Song über die High Tech Towers von Göteborg. Nach diesem Lied weiß man, dass man diese Ungetüme nicht gesehen haben muss, um sich klein und wütend zu fühlen. Wahrscheinlich ist Albert Camus »Der Fremde« das Lieblingsbuch von Alarma Man. Wo ist mein Platz in einer gleichgültigen Welt?

Das alles sind starke Themen und Gefühle. Die live stark aufs Publikum abstrahlen müssten. Tun sie aber merkwürdigerweise nicht. Warum? Alarma Man sind viel zu stark mit sich selbst beschäftigt. Die Interaktion in der Band beim Auftritt ist das eigentliche Aphrodisiakum. Die Schweden leben in ihrem eigenen, abgeschlossenen Universum. Dem Publikum werden nur aufblitzende Einblicke gewährt. Es geht hier eigentlich um alternative, scheinbar asexuelle Männerbündelei. Diese Fünf stimulieren sich gegenseitig zu karthartischen Ausbrüchen. Intensive Höhepunkte werden erkämpft, erkitzelt und erreicht. Und dann ist es vorbei, nach gerade mal einer Stunde, weil die Band keine weiteren Songs mit auf die Reise genommen hat. Und die Besucherin trollt sich zu später Stunde nach Hause und sinnt, über Landstraßen rollend, darüber nach, was der Unterschied zwischen Mathrockern und Burschenschaftlern ist.

Alarma Man – Cabin In The Woods from Sinnbus on Vimeo.

08. August 2010

The Ghost, oder: Ganz schön großstädtisch, Faröer!

Wir strengen uns jetzt mal sehr an und überlegen, wie viele Musiker von den Faröer Inseln wir kennen. Faröer? Ja, Faröer! Nicht Island, dann wärs ja zu einfach!

Vielleicht fällt uns nach langem Nachdenken ein, dass der Singer-Songwriter Teitur der wohl international bekannteste Künstler der Inselgruppe mitten im Atlantik ist. Und wer ungewöhnlich gut informiert ist, der hat vielleicht am Rande mitbekommen, dass Orka eine sehr wild-verwunschene Form der Rockmusik pflegen und mit selbstgemachten Instrumenten musizieren, die sie allesamt in einer Scheune gefunden haben.

Wenn wir Faröer hören, dann denken wir an windumtoste, schroffe Inselgruppen. An viel Grün und noch mehr Regen und daran, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft vor einigen Jahren beinahe einmal gegen die Freizeitkicker von ganz weit da draußen verloren hat und die Schafe unberührt von der Dramatik irgendwelcher EM-Qualifikationen grasend beinahe auf dem Spielfeld gelandet wären.

Wir denken aber ganz bestimmt nicht an unverschämt lebendige, sehr urbane, unbedingt flott tanzbare und unvermeidlich lächelnd machende, poppig-elektronische Tanzmusik! Gut, dann müssen wir eben jetzt umdenken, denn mit The Ghost haben zwei Anfangszwanziger die Szene betreten, um mit all den Klischees vom exzentrischem Hinterwäldlertum aufzuräumen. Auf ihrem jüngst herausgekommenen Debütalbum »WAR KIDS« glitzert das Duo wie die Pailletten auf dem Bühnenanzug eines Las-Vegas-Entertainers. Zelebriert mit einem selbstbewussten, unverschämt charmanten Lächeln eine sehr tanzbare Mischung aus Elektropop und nicht zu wenig Indierock. Um die Energie geht es hier, ums Unbekümmertsein, ums Strahlen und ums schnoddrig sagen: Hey, wir sind hier!

Unverkennbar ist, dass The Ghost alle Antennen auf Empfang gestellt haben und aktuelle Einflüsse begierig aufgesogen haben: Die rockige Euphorie von We Were Promised Jetpacks und die cool-ironische Eleganz von MGMT. Die Discokugel ist der Fixstern über dem Universum dieser beiden Faröer Jungspunde, und natürlich geht es hier zuvorderst um Theatralik, Coolsein und möglichst dickes Auftragen. Aber auf so unwiderstehlich leichtfüßige Weise, dass die Single »City Lights« eigentlich bei jeder persönlichen Sommerhitparade 2010 ganz vorne mit dabei sein müsste. Weil hier garnichts anderes übrigbleibt, als wie ein übermütiges junges Schaf über die Wiese zu hoppsen und irgendwelche dämlich aussehenden Sprünge zu machen.

The Ghost – ‘City Lights’ from Sunday Best on Vimeo.

 
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