Für das Buch „Deutschland, deine Götter“ bin ich ein Jahr quer durch Deutschland gereist und habe Kirchen, Moscheen, Synagogen, Schreine und heilige Bäume besucht. An dieser Stelle nun das Kapitel zum Protestantismus, der sich vor fast 500 Jahren auf die Weltbühne hämmerte:
Protestantismus
Knapp 500 Jahre nach Beginn der Reformation laufe ich durch Worms. Heute handelt es sich dabei um eine Stadt, die es sich in der Hängematte der Bedeutungslosigkeit bequem gemacht hat. Es geht hier gemütlich zu, auf halbem Wege zwischen Mannheim und Mainz. Nichts unterscheidet sie von anderen mausgrauen Kreisstädten in der Republik, wenn da nicht mitten in der Innenstadt plötzlich dieser Dom stehen würde. Er wirkt wie die steinerne Erinnerung an eine ganz andere Zeit. Er hat die gleiche Wirkung wie das gerahmte Bild eines mit Goldmedaillen behängten jungen Mannes über dem Bett des Großvaters, das die Enkel daran erinnert, dass auch Opa andere Zeiten erlebt hat. Worms auch.
Im Mittelalter hatte Worms Einfluss und in seinen besten Momenten wurde hier Weltgeschichte geschrieben. Einmal hatte die auch mit Martin Luther zu tun, der hier 1521 vor Kaiser Karl V. widerrufen sollte, sich weigerte und stattdessen die legendären Worte sprach: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. (Wobei mittlerweile vermutet wird, dass ihm diese Worte nachträglich in bester Absicht in den Mund gelegt wurden, offenbar sagte er schlicht: »Hier stehe ich. Gott helfe mir !«)
Dass es die evangelische Kirche überhaupt gibt, ist das Ergebnis einer beachtlichen Zahl von Fehleinschätzungen, die sich der Vatikan geleistet hat. Wobei insgesamt die Zeiten gut dazu geeignet waren, falsche Entscheidungen zu fällen. Als Luther wirkte, rang die katholische Kirche um ihre Vormacht, war ständig pleite, lieh sich dauernd Geld, wurde von mächtigen Königen bedrängt, erlebte den Aufstieg der Kaufleute, sorgte sich vor Invasionen der Türken und hatte ein massives Glaubwürdigkeitsproblem bei der einfachen Bevölkerung. Außerdem hatten in der Schweiz und in Böhmen Reformatoren schon damit begonnen, die Autorität Roms in Frage zu stellen. Wäre die katholische Kirche ein normales Unternehmen, die Liste der Managementfehler hätte eine beachtliche Länge ergeben.
Der Preis dafür kam dann in Form Martin Luthers, der zur Symbolfigur der Unzufriedenheit mit dem Katholizismus im 16. Jahrhundert wurde. Auch an ihm demonstrierten die katholischen Verantwortlichen noch einmal ihre Begabung, ein kleines Feuer nicht etwa auszutreten, sondern es mit großem Erfolg zu einem Flächenbrand werden zu lassen. Sie drängten Luther in die Position eines Ketzers, der den Tod verdient hat, und ließen diesem frommen Katholiken somit keine Möglichkeit, Frieden mit seiner Kirche zu schließen, die irgendwann dann auch nicht mehr seine Kirche war. Luther wurde exkommuniziert und er nannte den Papst im Gegenzug den »Antichristen«. Fertig, Tischtuch zerschnitten. Start frei für die ökumenischen Kirchentage ein paar Jahrhunderte (und Religionskriege) später.
Ich bin auf dem Weg zur Wormser Luthergemeinde von Anne Tennekes, die als geschiedene Pastorin für das steht, was die katholische Kirche immer verhindern wollte. Während man sich im Vatikan noch an das Machtwort des Paulus hält, der da wütete, »die Frau soll in der Messe schweigen«, ist die evangelische Kirche da einen anderen Weg gegangen.
»Das hat mit Luther aber gar nicht so viel zu tun«, erklärt mir Tennekes, die dem Bild einer engagierten und einfühlsamen Pastorin, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen ihrer Gemeinde hat, beinahe irritierend exakt entspricht, »das Pastorenamt für Frauen gibt es erst seit 1973.«
Tennekes steht einer Gemeinde von über 3000 Mitgliedern vor, »unsere Kirche ist im Darmstädter Stil erbaut, davon gibt es in Rheinhessen mehrere«, meint sie mit Blick auf ein Gebäude, das sehr massiv und kantig wirkt. Es hätte mich vielleicht mehr beeindruckt, wenn ich nicht direkt davor beim Dom gewesen wäre. Wir betreten das Pfarrhaus, das sich direkt hinter der Kirche befindet. Tennekes’ Büro ist aufgeräumt und bietet viel Platz, weil es außer einem Schreibtisch und dem Bücherregal nur einen kleinen Tisch in der Ecke und zwei Stühle gibt. Hier unterhält sie sich regelmäßig mit Mitgliedern oder anderen Gästen. Wir setzen uns und ich sehe, dass sie Plätzchen und Kaffee vorbereitet hat. Weil sie es mir aber noch nicht anbietet, warte ich mit dem Zugreifen.
»Was unterscheidet eigentlich den Protestantismus vom Katholizismus?«, möchte ich als Erstes wissen.
»Ich denke, der wichtigste Unterschied ist wohl, dass die katholische Kirche sehr hierarchisch aufgebaut ist, mit einer höchsten theologischen Instanz in Form des Papstes. So was lehnen wir ab. Wir haben die Priesterschaft aller Gläubigen, nach der jeder Mensch den gleichen Zugang zu Gott hat, unabhängig von seiner Position in der Welt oder der Kirche. Deswegen ist in unseren Gemeinden auch viel mehr Diskussion und Widerspruch möglich, bei den Katholiken hingegen ist der Pfarrer erst einmal die große Autorität.«
»Und sonst ?«
»Die Eucharistie, also das Abendmahl, feiern wir auch verschieden. Für Katholiken sind nur Katholiken dazu eingeladen, während wir jeden daran teilhaben lassen.«
»Wie wird das denn jeweils begründet?«
»Die Katholiken sehen sich als die Kirche Jesu und zelebrieren das Letzte Abendmahl nur mit Menschen, die laut ihrer Definition dieser Kirche angehören.«
»Und ihr gehört der Kirche von Jesus nicht an?«
»Nein, da wir uns abgespaltet haben, sind wir aus Sicht der katholischen Kirche dazu nicht mehr berechtigt. Wir deuten das Letzte Abendmahl aber so, dass es eine Einladung an die Menschheit ist, Jesus als Erlöser anzunehmen, deswegen feiern wir es offen.«
Martin Luther selbst hätte sich wohl etwas derber ausgedrückt, über die Zustände im Vatikan äußerte er sich so: »Die römische Kirche, die vorzeitig die allerheiligste war, ist nun geworden eine Mordgrube über allen Mordgruben, ein Hurenhaus über allen Hurenhäusern, ein Haupt und Reich aller Sünde, des Todes und der Verdammnis, so dass man sich nicht gut denken kann, wie die Bosheit hier noch weiter zunehmen könnte.«
Insgesamt sind sich die beiden Großkirchen inhaltlich sehr nahe. Sie teilen sich die gleiche Bibel, sie teilen sich den gleichen Gott, sie teilen die gleiche Hoffnung, die sie mit diesem Gott verbinden. Und doch gibt es ein paar gravierende Unterschiede. Es geht auf der optischen Ebene los, die Katholiken haben es gerne bunt und visuell. Deswegen gibt es Heiligenbilder sowie eine stark ausgeprägte Verehrung dieser Heiligen. Auch Maria, die Mutter Gottes, hat im Katholizismus eine herausragende Rolle. Der Protestantismus wirkt da etwas spröde. Heiligenbilder gibt es keine, eine Verehrung schon gar nicht. Eigentlich soll möglichst wenig ablenken vom Wichtigsten: dem Wort Gottes, also der Bibel. Deswegen sind auch die Gottesdienste schlichter gehalten als die zum Teil prächtigen Messen der Katholiken, wo Ministranten (bei den Protestanten gestrichen), Vorsänger (bei den Protestanten gestrichen) und der Priester (bei den Protestanten um Frauen erweitert, siehe Frau Tennekes) ihre Rollen haben und der Weihrauch den Altar wie früher Morgennebel umweht. Protestantische Gottesdienste erinnern mehr an Frontalunterricht, wo zugehört wird und keine Ablenkung vorgesehen ist.
Katholiken sind da im Vergleich geradezu lebendig, sie stehen immer wieder auf, sie setzen sich wieder und manchmal knien sie sogar. Inhaltlich gehen die beiden Großkirchen speziell bei den Sakramenten getrennte Wege. Die Protestanten haben sich auf die reduziert, die explizit aus der Bibel ableitbar sind, wobei es sich um die Taufe und das Abendmahl handelt, außerdem lehnen sie die Vorstellung eines Fegefeuers ab. Die Katholiken sind da großzügiger und kennen noch die zusätzlichen Sakramente Beichte, Eheschließung, Firmung, Krankensalbung und Priesterweihe. Daneben gibt es noch vier Grundsätze, die bei den Protestanten dann doch dogmatische Bedeutung haben, auch wenn sie das Wort »Dogma« gerne vermeiden.
Laut diesen ist nur die Bibel Richtschnur für Christen (sola scriptura), kann nur Gott selbst den Glauben im Menschen erwecken, wodurch es für Menschen unmöglich ist, aktiv Gottes Nähe zu suchen (sola gratia), ist Christus die einzige Autorität, die für den Gläubigen relevant ist, keine Heiligen und auch nicht Maria (solus Christus), und ist der unbedingte Glaube an Gott die einzige Möglichkeit, seine Gnade zu erfahren (sola fi de). Der entscheidende Gedanke, den Luther zum Fundament seines Glaubens machte, war, dass man das Seelenheil nicht durch gute Taten oder Spenden erreichen kann, nicht einmal durch Buße oder ein besonders frommes Leben. Das Seelenheil ist ein Zustand, der ganz von alleine kommt, wenn man sich Gottes Willen unterwirft und fest an die Erlösung glaubt. Dieses Konzept entzog auch dem Ablasshandel den Boden, denn dieser versprach die Erlassung von Sünden und damit die Rettung vor dem Fegefeuer, wenn nur genug gespendet wird. Dieses Konzept spätmittelalterlicher Jenseitsversicherungen wurde von keinem so erfolgreich vermarktet wie von Johann Tetzel, der sich den Slogan ausdachte: »Wenn das Geld in der Tasche klingelt, die Seele aus dem Fegefeuer springet.« Heute würde er wohl erfolgreich Gebrauchtwagen verkaufen, damals tat er das mit der Seelendienstleistung Ablasshandel.
»Gibt es auch Dinge, um die Sie die Katholiken beneiden?«, möchte ich von Tennekes wissen.
»Unsere Auffassung von Religiosität hat sicherlich auch organisatorische Nachteile«, meint sie, »es ist praktisch unmöglich, dass wir alle die gleichen Positionen vertreten. Hinzu kommt, dass wir ja auch nicht alle aus dem lutherischen Protestantismus kommen, ich zum Beispiel komme aus dem reformierten Protestantismus«, womit die Reformation in der schärferen schweizerischen Tradition gemeint ist, die grundsätzlich dem lutherischen Protestantismus nahesteht, aber doch in einigen Punkten davon abweicht. So setzt er noch entschiedener das Bilderverbot im Gotteshaus um, weil nur das Wort im Mittelpunkt stehen soll, auch Brot und Wein beim Abendmahl sind für sie nur Symbole und nicht tatsächlich der Leib und das Blut Christi.
Um sich den Unterschied klarzumachen, hilft womöglich ein kleines Gedankenspiel. Wenn Konfetti im Christentum die Bedeutung hätte, die in Wirklichkeit Brot und Wein zukommt, würden die Katholiken die bunten Papierschnipsel mit Begeisterung in die Luft werfen und sie zum Blut und dem Leib Christi erklären. Auch lutherische Protestanten würden (etwas anders begründet) darin das Blut und den Leib Christi sehen, das Konfetti aber zuerst einmal einheitlich grau anmalen, bevor sie es etwas lustlos in die Luft werfen. Die reformierten Protestanten hingegen stellen ganz nüchtern fest, dass das graue Konfetti nur symbolisch für das Blut und den Leib Christi steht, und werfen es erst gar nicht herum, weil es danach ja doch nur wieder jemand zusammenkehren muss.
»Mich erstaunt etwas, dass die Protestanten einerseits so sehr das Wort der Bibel betonen, aber andererseits dann trotzdem die Texte der Bibel oft nur als interpretierbare Geschichten lesen«, meine ich zu Tennekes. Sie nickt kurz.
»Wir glauben, dass die Bibel ein viel klügerer Lebensratgeber ist, wenn sie nicht so eindimensional verstanden wird. Viele Geschehnisse sind so etwas wie Modelle, an denen wir uns orientieren können, weil der zugrundeliegende Konflikt uns heute auch noch betrifft. Wenn Sarah, also die Frau von Abraham, nicht glauben kann, in ihrem hohen Alter noch Kinder zu bekommen, ist das doch mehr als nur die Geschichte von einer älteren Frau, die eigentlich zu alt für eine Schwangerschaft ist. Es ist eine Geschichte von Zweifeln und Hoffnung, von Zukunft und auch von weiteren Chancen. Es gibt viele Deutungsmöglichkeiten.«
»Besteht da aber nicht schnell die Gefahr, dass der Glaube beliebig wird, wenn die Bibel fast nur symbolisch gesehen wird?«
Bevor sie antwortet, holt sie endlich das Angebot nach, dass ich mich an den Keksen bedienen kann, sie füllt mir außerdem das Glas mit Wasser.
»Ich muss noch einmal daran erinnern, dass das nicht vorgeschrieben ist, es gibt auch protestantische Gemeinden, die sich stärker am geschriebenen Wort orientieren, als ich es zum Beispiel tue.«
»Es gibt aber bestimmt auch Dinge in der Bibel, die eben nicht nur symbolisch gemeint sind, sondern geglaubt werden müssen. Zum Beispiel wird die Kreuzigung Jesu nur schwer als etwas anderes durchgehen als die tatsächliche Kreuzigung Jesu, oder?«
»Es gibt Theologen, die das in Frage stellen. Für meinen Glauben wäre das auch nicht unbedingt so wichtig, ob er gestorben ist oder vielleicht wirklich mit großen Ängsten die Nacht durchlitt. Was nämlich vor allem zählt, ist die Folge dar aus, dass Jesus unser Erlöser ist.«
»Das überrascht mich etwas.«
Mit dieser Überraschung lässt mich Tennekes schließlich alleine. Sie hat noch einen Termin. Im Pfarrhaus ist eine afghanische Flüchtlingsfamilie untergebracht und sie ist nun mit dem Vater verabredet, um bei der Bank ein Konto zu eröffnen. Ich spaziere noch etwas durch die Stadt, die für Historiker einen Reiz hat, der normalen Besuchern erst einmal verborgen bleibt. Ich denke noch etwas über Luther nach. Vor allem über das Interview mit einem evangelischen Geistlichen, das ich auf dem Weg hierher gelesen habe. Für ihn war Luther so etwas wie der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Ich bin mir nicht so sicher, ob Luther da wirklich das beste Beispiel ist, vorausgesetzt, dieser Übergang soll auch in moralischen Fragen ein neues Denken beinhalten. In Bezug auf Juden blieb Luther jedenfalls ein Kind seiner Zeit, forderte die Zerstörung der Synagogen und überhaupt ein Verbot jüdischer Gottesdienste, also faktisch des Judentums insgesamt. Am Ende seines Lebens steigerte sich sein Antijudaismus endgültig in eine Paranoia, weswegen er davon überzeugt war, dass die Juden ihn vergiften wollten.
Teil 2 finden Sie hier.
aus: „Deutschland, deine Götter – eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäuser„