Trump: Stresstest für die Freiheit

Ich gehe jetzt mal das Risiko ein, mich ganz früh in Bezug auf die kommenden Trump-Jahre festzulegen: nichts wird passieren, keines der Horrorszenarien eintreten. Mit Trump ist zwar ein charakterlich vollkommen ungeeigneter Mensch ins Weiße Haus eingezogen, aber mehr als ein Stresstest wird auch seine Präsidentschaft nicht sein. Ein Stresstest, der letztlich die Stärke der amerikanischen Demokratie beweisen wird. Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, wird jedenfalls weiter auf sich warten lassen. Mal wieder.

Die Angst vor Trump ist auch deswegen so groß, weil für die Bewertung seiner bisherigen Aussagen die falschen Schablonen angesetzt wurden. Nämlich die, mit denen Politiker eingeordnet und beurteilt werden. Das Problem mit Trump ist aber, dass er bislang kein Politiker war – auch in seinem Wahlkampf nicht. Die bewährten Schablonen sind darum nur bedingt brauchbar. Seine „Make America Great Again“-Kampagne bestritt er im Grunde als pöbelnder Stammtischbruder. Dabei war er sowohl Populist genug, um zu wissen, wie man an die niedersten Instinkte appelliert als auch verkommen genug, um das auch hemmungslos durchzuziehen.

Und sein Kalkül ging ja auf, denn als besonnen auftretender Kandidat hätte er keine Chance gehabt. Dafür wurde er von Beginn an zu sehr belächelt und auch bekämpft. Also griff er zu der Waffe, die er am besten beherrscht: dem Pöbeln, Niedermachen, Beleidigen und Erniedrigen. Gut möglich, dass ihm der Zeitgeist dabei entgegenkam, der seine routinierten Ausraster zum Teil als Antwort auf die politische Korrektheit gedeutet hat und ihm so den Ruf einbrachte, das abgehobene Establishment auf allen Ebenen herauszufordern. Dabei war das schlicht das Auftreten eines moralisch sehr limitierten Mannes, der alarmierend wenig Anstand besitzt.

Während „richtigen“ Politikern unterstellt werden darf, dass ihnen ihre Visionen tatsächlich etwas bedeuten, agierte Trump wie ein schmieriger Tupperwarenverkäufer: er hat immer gesagt, was man von ihm hören will. Wobei er auch keine Skrupel hatte, seine Anhänger mit Lügen zu überziehen – was auch zeigt, wie wenig Respekt er letztlich vor ihnen hat und wie wenig sie sich darauf verlassen können, dass nun „ihr Mann“ im Weißen Haus sitzt.

Er hat seine Wähler da abgeholt, wo sie Populisten eben abholen: bei der Angst und der Warnung, dass es noch viel schlimmer kommen wird. Deswegen brüllte er seinen Anhängern auch zu, dass er keine Moslems mehr ins Land lassen will, sobald er Präsident ist. Zumindest solange nicht, bis der islamistische Terror im Griff ist. Das ist Stammtisch pur – und genau da wird diese Ankündigung auch bleiben. Sie wird die Umwandlung des wahlkämpfenden Wutbürgerflüsterers hin zum US-Präsidenten nicht überstehen. Auch andere populistische Ausfälle von Trump werden nach dem Amtseid keine oder nur eine extrem entschärfte Rolle spielen.

Und warum glaube ich das? Weil Trump keiner Agenda folgt, er ist vor allem ein Egomane, der sich Denkmäler bauen will. Er hat Türme, die seinen Namen tragen und nun kommt auch noch ein ganzes Kapitel in der amerikanischen Geschichtsschreibung dazu: Donald Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten. Das ist für einen Narzissten natürlich der Hauptgewinn und er wird nicht wollen, dass dieses Kapitel zu den dunkelsten gehören wird.

Außerdem will er gute Presse. Das ist einer der wenigen Makel seines beeindruckend erfolgreichen Wahlkampfes gewesen, dass er in dieser Kategorie vollkommen durchfiel. Das wird er ändern wollen und es wird ihm auch leicht gemacht werden, das zu ändern. Ganz einfach, weil die Erwartungshaltung an ihn in etwa bei null liegt.

Trump erklärt, dass er der Präsident aller Amerikaner ist: Super!
Trump findet versöhnliche Worte für seine Gegner: Irrer Typ!!
Trump hält sich an Abmachungen mit anderen Staaten: Bester Präsident aller Zeiten!!!
Trump kann in Bezug auf Infrastruktur, Steuern und den Arbeitsmarkt Erfolge verzeichnen: Warum gibt es diese verdammte Reduzierung auf nur zwei Amtszeiten!!!11!1!!

Natürlich könnte man einwenden, dass er doch genug Anerkennung bekommt. Nämlich von all den Leuten, die ihn gewählt haben. Aber das ist für einen Mann mit dem Tiefgang eines Hochglanzmagazins nicht die richtige Art der Anerkennung. Die will er von den Medien und da nicht von pöbelnden Extremmedien, sondern von den guten alten, beschimpften und verfluchten Mainstreammedien – weil die im Koordinatensystem seiner Eitelkeit weiterhin das Maß aller Dinge sind. Er will also von genau dem Amerika die Anerkennung, das ein beachtlicher Teil seiner Wähler verachtet. Auch das spricht dagegen, dass er seine Wutrhetorik in die Tat umsetzt. Er ist eben mehr Hedonist als Ideologe und mehr Pragmatiker als Hardliner bzw.: mehr Dschungelcamp als Hassprediger und mehr Playboy als Bibel.

…Und selbst wenn ich mich furchtbar irren sollte, sind die USA immer noch die USA. Die bekommt man nicht so einfach klein, nur weil man ein vollkommen entgrenztes Ego hat. Es gibt eine großartige Verfassung, es gibt starke Institutionen und es gibt in der Bevölkerung eine Vorstellung davon, wie man leben möchte. Und ein Protofaschist im Weißen Haus gehört da nicht dazu. Also ein wenig mehr Mut bei den verzagten USA-Freunden bitte. Das Land hat sich nicht über Nacht in ein autoritäres System verwandelt und wird das auch weiterhin nicht tun. In vier Jahren oder in acht wird es einen neuen Präsidenten geben. Und die USA werden bis dahin kein anderes Land geworden sein. (Was man übrigens von manchen europäischen Ländern nicht mit dem gleichen Optimismus sagen kann, aber das ist ein anderes Thema.)

Gideon Böss veröffentlichte zuletzt das Sachbuch: „Deutschland, deine Götter – eine Reise zu Tempeln, Kirchen und Moscheen“

Protestantismus – zu Besuch bei Luthers müden Erben (2/2)

Coverdeutschlanddeinegötter(Teil 1 finden Sie hier)

Wenn man sich bei der Evangelischen Kirche in Deutschland, die so etwas wie der Dachverband für 20 evangelische Kirchen ist, erkundigt, stößt man auf eine ganze Reihe von Bekenntnissen, Katechismen und Erklärungen, die das gemeinsame theologische Fundament für die 23 Millionen Mitglieder zementieren. Nicht alle der 20 Gemeinschaften teilen alle dieser Dokumente, aber es gibt auch keines, das eine Trennung nötig machen würde. Was allerdings von allen geteilt wird, ist das apostolische Glaubensbekenntnis, das so etwas wie die DNA des Christentums beinhaltet:

»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.«

Daneben gibt es noch ein weiteres Glaubensbekenntnis, nämlich das von Nizäa-Konstantinopel, auf das sich ebenfalls alle einigen können und das sich im Wesentlichen nur durch die Verwendung des Plurals (»Wir glauben an den einen Gott«) und einer insgesamt etwas ausschweifenderen Prosa vom apostolischen unterscheidet, deren Gewinner vor allem der Heilige Geist ist. Im apostolischen Glaubensbekenntnis wird er nur recht knapp mit der einen einzigen Zeile »Ich glaube an den Heiligen Geist« bedacht, doch das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel schenkt ihm mehr Aufmerksamkeit.

»Wir glauben an den Heiligen Geist / Der Herr ist und lebendig macht / Der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht / Der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird / Der gesprochen hat durch die Propheten.«

Ich weiß nicht, ob der Heilige Geist so etwas wie Eitelkeit kennt, wenn ja, wird ihm das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel jedes Mal runtergehen wie Öl. Daneben gibt es auch gleich zwei Katechismen von Martin Luther, den kleinen und den großen, in denen er das theologische Fundament (warum die Taufe, warum das Gebet usw.) und theologische Kommentare (zum Beispiel was die Zehn Gebote bedeuten) erläutert, sowie einen weiteren, den Heidelberger Katechismus, den die reformierten Protestanten verwenden.

Und natürlich finden sich bei den gemeinsamen Dokumenten der Evangelischen Kirche in Deutschland auch die berühmten 95 Thesen. Ich habe sie mir durchgelesen und mir ist etwas aufgefallen, was womöglich die evangelische Kirche erschüttern wird. Das sind keine 95 Thesen. Es sind nur 67 Thesen. Luther hat oft einfach einen Gedanken in der folgenden These fortgesetzt, die dann allerdings für sich genommen keinen Sinn mehr ergab. In These 57 heißt es beispielsweise:

»Zeitliche Schätze sind es offenkundig nicht, weil viele der Prediger sie nicht so leicht austeilen, sondern nur einsammeln.«

Die Frage ist nun, von welchen Schätzen Luther da schreibt, die offenkundig keine »zeitlichen« sind. Die Antwort findet sich in der vorhergehenden These 56: »Die Schätze der Kirche, aus denen der Papst die Ablässe austeilt, sind weder genau genug bezeichnet noch beim Volk Christi erkannt worden.«

Nur dadurch wird klar, um was für Schätze es in These 57 geht. Ein anderes Beispiel betrifft gleich These 2: »Dieses Wort darf nicht auf die sakramentale Buße gedeutet werden, das heißt auf jene Buße mit Beichte und Genugtuung, die unter Amt und Dienst des Priesters vollzogen wird.«

Um welches Wort geht es Luther hier? These 1 klärt auf: »Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ›Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‹, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.«

Er meint damit also diese Aussage von Jesus. Ohne These 1 würde man These 2 nicht verstehen können. Es gibt noch weitere solcher Fälle, etwa These 9, die da lautet: »Daher erweist uns der Heilige Geist eine Wohltat durch den Papst, indem dieser in seinen Dekreten Tod- und Notsituationen immer ausnimmt.«

Das klingt gut, aber worauf bezieht sich eigentlich das »Daher«? Die Antwort gibt es in These 8: »Die kirchenrechtlichen Bußsatzungen sind alleine den Lebenden auferlegt; nach denselben darf Sterbenden nichts auferlegt werden.«

Auf diese Weise fallen viele Thesen zu einer einzigen These zusammen, da sie einer durchgehenden Argumentationslinie folgen und ohne den Bezug auf ihre »Mutterthese« keinen Sinn ergeben. Um es kurz zu machen, folgende Thesen sind eigentlich eine einzige: These 1 – 4, These 8 – 9, These 14 – 15, These 18 – 21, These 23 – 24, These 33 – 34, These 43 – 44, These 56 – 68 ( !), These 69 – 70, These 71 – 74 und These 75 – 76. Wenn diese Thesen auf jeweils eine reduziert werden, sind es keine 95 mehr, sondern 67. Also weiterhin eine ganze Menge, was er da an die Schlosskirche nagelte.

An den Thesen sieht man übrigens auch, dass Luther zu diesem Zeitpunkt noch an eine Reform von innen glaubte und dar um an mehreren Stellen den Papst explizit in Schutz nimmt. So etwa schon in der erwähnten These 9 und noch entschiedener in These 50, in der er ihn davon freispricht, von den Auswüchsen des Ablasshandels etwas zu wissen: »Wenn der Papst das Geldeintreiben der Ablassprediger kennte, wäre es ihm lieber, dass die Basilika des heiligen Petrus in Schutt und Asche sinkt, als dass sie erbaut wird aus Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe.«

Wie bunt und vielfältig die evangelische Gemeinschaft ist, stelle ich kurz darauf beim Besuch in der Lübecker St.-Petri-Gemeinde fest, die im klassischen Sinne gar keine Kirchengemeinde mehr ist. Lübeck wird auch die Stadt der sieben Türme genannt. Es handelt sich dabei um Kirchtürme und weil die Stadt über Jahrhunderte mächtig war und die Geschicke in Norddeutschland und dem Nord- und Ostseeraum maßgeblich mitbestimmte, mussten es eben auch besonders hohe Bauwerke werden. Vom Turm der Kirche St. Petri überblicke ich Lübeck, das einst die inoffizielle Führerin der Handels- und Wirtschaftsallianz der Hanse war. So kam die Hafenstadt zu Erfolg, Wohlstand und Macht.

»Warum hat eine kleine Stadt wie Lübeck denn gleich sieben repräsentative Kirchen?«, frage ich Pastor Schwarze, der mit mir hier oben auf dem Turm steht und die (laut Selbstbezeichnung) „Kunst-, Kultur- und Wissenschaftskirche“ leitet.
»Durch den Handel war Geld da und wo Geld ist, wird gebaut. Das ist heute noch so, nur dass es keine Kirchen mehr sind. Die verschiedenen Gilden leisteten sich jeweils eine eigene Kirche.«

Die Kirchen, die mit dem Geld der Händler, Goldschmiede und Seefahrer in die Höhe wuchsen, sehen beeindruckend aus. Vom St.-Petri-Turm selbst geht der Blick bis zum Hafen, nur wenige Gehminuten von der Innenstadt entfernt. Diesen Weg gingen auch die Geschwister Mann und bis vor kurzem Günter Grass unzählige Male in ihrem Leben. Auch Willy Brandt ist mit der Stadt eng verbunden. Für eine Kleinstadt bringt es Lübeck damit auf eine erstaunliche Zahl von Nobelpreisträgern, fällt mir dabei auf. Aber ich bin nicht deswegen hier, sondern wegen Pastor Schwarze und seiner St.-Petri-Kirche, für die dieser Turm eine relevante Einnahmequelle ist. Die Touristen kommen, zahlen drei Euro und fahren hier nach oben. »Damit bezahlen wir unser Personal und die Kulturveranstaltungen «, meint Schwarze, als wir wieder nach unten fahren. In St. Petri gibt es zwar keine Gemeinde mehr, aber dennoch handelt es sich weiterhin um eine echte Kirche, wie Schwarze betont. Weil die Stadt keine sieben Großkirchen mehr benötigt, wurde hier jedoch ein neuer Weg eingeschlagen.

»Erst vor wenigen Wochen war es so weit, dass erstmals die Konfessionslosen die größte Gruppe in der Stadt stellten«, bringt Schwarze die neue Zeit auf den Punkt. In St. Petri finden jährlich knapp 50 kulturelle Veranstaltungen mit Bezug zu Gott, Religion und Glauben statt.
»Manchmal machen wir aber auch Veranstaltungen, bei denen nur das Wort im Mittelpunkt steht. Ganz im Sinne Luthers.«
Besonders stolz ist er auf die Petrivisionen, das sind Nachtveranstaltungen, die Musik, Religion und Kultur verknüpfen.
»Wenn Luther das hier sehen würde«, meine ich, während wir im Kirchencafé sitzen und in der eigentlichen Kirche noch die Stuhlreihen stehen, auf denen heute Morgen die Erstsemesterstudenten der Universität begrüßt wurden, »würde er diese Kirche doch eigenhändig niederreißen, oder? Das ist ja definitiv nicht die Rückbesinnung auf die Bibel, wie er sie wollte, wenn eine Kirche zu einem Kulturzentrum wird.«

Schwarze denkt nach und rührt dabei in seinem Espresso.

»Wenn es der Luther des 16. Jahrhunderts wäre, hätten Sie vermutlich recht. Aber wenn es ein Luther wäre, der auch die Entwicklungen der letzten Jahrhunderte mitverfolgt hat, glaube ich schon, dass er das hier gut fände. Gerade er hat ja durch seine Bibelübersetzung ins Deutsche einen wichtigen Schritt auf die Bevölkerung zugetan und wir erleben heute, dass sich die Glaubensbedürfnisse der Menschen eben zum Teil verändert haben.«
»Warum wird man überhaupt Protestant?«
»Meistens, weil es die Eltern schon waren«, meint er pragmatisch-ehrlich, »aber andere spricht auch die Veränderung an, die mit dem Protestantismus im Christentum Einzug hielt. Ein wichtiger Unterschied, der durch Luther entstand, ist schließlich die Verschiebung des Gottesbezugs hin auf das Individuum. Die katholische Kirche hat klare Hierarchien zwischen den Gläubigen und Predigern, wir nicht.«
»Es steht also niemand zwischen mir und Gott?«
»So ist es«, lächelt er.
»Und warum sind Sie dann da?«
»Ich?«, reagiert er verdutzt.
»Also evangelische Pfarrer allgemein, meine ich. Warum gibt es die, wenn es nur mich und Gott gibt?«
»Wir haben ja auch eine administrative Aufgabe, aber kein Pfarrer hat einen direkteren Draht zu Gott, wie es die Katholiken zum Beispiel mit dem Papst zu haben glauben. Für uns gilt das Priesteramt aller Gläubigen.«
»Gibt es etwas, was für Sie typisch protestantisch ist?«
»Zweifeln.«

Vielleicht hat er damit recht, schließlich habe ich keinen evangelischen Geistlichen (ob Mann oder Frau) getroffen, der mir klipp und klar versichern konnte, dass es nach dem Tod weitergeht. Aber eigentlich ist das schon eine Mindestvoraussetzung, die ich an eine Religion stelle. Keine Ahnung vom Leben nach dem Tod habe ich selbst ja genug, das muss ich dann nicht auch noch gemeinschaftlich zelebrieren. Also ziehe ich weiter, will aber Luther das letzte Wort lassen. Es stammt aus seinem berühmten „Brief Von der Freiheit eines Christenmenschen“ an Papst Leo X., in dem er auf vielen Seiten zu entkräften versuchte, eine Gefahr für die katholische Theologie oder gar den Papst selbst zu sein. Er schmeichelt, ist versöhnlich und demütig. Um dann all das mit einem einzigen Satz über den Haufen zu werfen:

»Dass ich aber sollt’ widerrufen meine Lehre, da wird nichts draus.«

Der Text wurde übernommen aus dem Buch: „Deutschland, deine Götter – eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäuser

Protestantismus – zu Besuch bei Luthers müden Erben (1/2)


CoverdeutschlanddeinegötterFür das Buch „Deutschland, deine Götter“ bin ich ein Jahr quer durch Deutschland gereist und habe Kirchen, Moscheen, Synagogen, Schreine und heilige Bäume besucht. An dieser Stelle nun das Kapitel zum Protestantismus, der sich vor fast 500 Jahren auf die Weltbühne hämmerte:

Protestantismus

Knapp 500 Jahre nach Beginn der Reformation laufe ich durch Worms. Heute handelt es sich dabei um eine Stadt, die es sich in der Hängematte der Bedeutungslosigkeit bequem gemacht hat. Es geht hier gemütlich zu, auf halbem Wege zwischen Mannheim und Mainz. Nichts unterscheidet sie von anderen mausgrauen Kreisstädten in der Republik, wenn da nicht mitten in der Innenstadt plötzlich dieser Dom stehen würde. Er wirkt wie die steinerne Erinnerung an eine ganz andere Zeit. Er hat die gleiche Wirkung wie das gerahmte Bild eines mit Goldmedaillen behängten jungen Mannes über dem Bett des Großvaters, das die Enkel daran erinnert, dass auch Opa andere Zeiten erlebt hat. Worms auch.

Im Mittelalter hatte Worms Einfluss und in seinen besten Momenten wurde hier Weltgeschichte geschrieben. Einmal hatte die auch mit Martin Luther zu tun, der hier 1521 vor Kaiser Karl V. widerrufen sollte, sich weigerte und stattdessen die legendären Worte sprach: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. (Wobei mittlerweile vermutet wird, dass ihm diese Worte nachträglich in bester Absicht in den Mund gelegt wurden, offenbar sagte er schlicht: »Hier stehe ich. Gott helfe mir !«)

Dass es die evangelische Kirche überhaupt gibt, ist das Ergebnis einer beachtlichen Zahl von Fehleinschätzungen, die sich der Vatikan geleistet hat. Wobei insgesamt die Zeiten gut dazu geeignet waren, falsche Entscheidungen zu fällen. Als Luther wirkte, rang die katholische Kirche um ihre Vormacht, war ständig pleite, lieh sich dauernd Geld, wurde von mächtigen Königen bedrängt, erlebte den Aufstieg der Kaufleute, sorgte sich vor Invasionen der Türken und hatte ein massives Glaubwürdigkeitsproblem bei der einfachen Bevölkerung. Außerdem hatten in der Schweiz und in Böhmen Reformatoren schon damit begonnen, die Autorität Roms in Frage zu stellen. Wäre die katholische Kirche ein normales Unternehmen, die Liste der Managementfehler hätte eine beachtliche Länge ergeben.

Der Preis dafür kam dann in Form Martin Luthers, der zur Symbolfigur der Unzufriedenheit mit dem Katholizismus im 16. Jahrhundert wurde. Auch an ihm demonstrierten die katholischen Verantwortlichen noch einmal ihre Begabung, ein kleines Feuer nicht etwa auszutreten, sondern es mit großem Erfolg zu einem Flächenbrand werden zu lassen. Sie drängten Luther in die Position eines Ketzers, der den Tod verdient hat, und ließen diesem frommen Katholiken somit keine Möglichkeit, Frieden mit seiner Kirche zu schließen, die irgendwann dann auch nicht mehr seine Kirche war. Luther wurde exkommuniziert und er nannte den Papst im Gegenzug den »Antichristen«. Fertig, Tischtuch zerschnitten. Start frei für die ökumenischen Kirchentage ein paar Jahrhunderte (und Religionskriege) später.

Ich bin auf dem Weg zur Wormser Luthergemeinde von Anne Tennekes, die als geschiedene Pastorin für das steht, was die katholische Kirche immer verhindern wollte. Während man sich im Vatikan noch an das Machtwort des Paulus hält, der da wütete, »die Frau soll in der Messe schweigen«, ist die evangelische Kirche da einen anderen Weg gegangen.
»Das hat mit Luther aber gar nicht so viel zu tun«, erklärt mir Tennekes, die dem Bild einer engagierten und einfühlsamen Pastorin, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen ihrer Gemeinde hat, beinahe irritierend exakt entspricht, »das Pastorenamt für Frauen gibt es erst seit 1973.«

Tennekes steht einer Gemeinde von über 3000 Mitgliedern vor, »unsere Kirche ist im Darmstädter Stil erbaut, davon gibt es in Rheinhessen mehrere«, meint sie mit Blick auf ein Gebäude, das sehr massiv und kantig wirkt. Es hätte mich vielleicht mehr beeindruckt, wenn ich nicht direkt davor beim Dom gewesen wäre. Wir betreten das Pfarrhaus, das sich direkt hinter der Kirche befindet. Tennekes’ Büro ist aufgeräumt und bietet viel Platz, weil es außer einem Schreibtisch und dem Bücherregal nur einen kleinen Tisch in der Ecke und zwei Stühle gibt. Hier unterhält sie sich regelmäßig mit Mitgliedern oder anderen Gästen. Wir setzen uns und ich sehe, dass sie Plätzchen und Kaffee vorbereitet hat. Weil sie es mir aber noch nicht anbietet, warte ich mit dem Zugreifen.

»Was unterscheidet eigentlich den Protestantismus vom Katholizismus?«, möchte ich als Erstes wissen.
»Ich denke, der wichtigste Unterschied ist wohl, dass die katholische Kirche sehr hierarchisch aufgebaut ist, mit einer höchsten theologischen Instanz in Form des Papstes. So was lehnen wir ab. Wir haben die Priesterschaft aller Gläubigen, nach der jeder Mensch den gleichen Zugang zu Gott hat, unabhängig von seiner Position in der Welt oder der Kirche. Deswegen ist in unseren Gemeinden auch viel mehr Diskussion und Widerspruch möglich, bei den Katholiken hingegen ist der Pfarrer erst einmal die große Autorität.«
»Und sonst ?«
»Die Eucharistie, also das Abendmahl, feiern wir auch verschieden. Für Katholiken sind nur Katholiken dazu eingeladen, während wir jeden daran teilhaben lassen.«
»Wie wird das denn jeweils begründet?«
»Die Katholiken sehen sich als die Kirche Jesu und zelebrieren das Letzte Abendmahl nur mit Menschen, die laut ihrer Definition dieser Kirche angehören.«
»Und ihr gehört der Kirche von Jesus nicht an?«
»Nein, da wir uns abgespaltet haben, sind wir aus Sicht der katholischen Kirche dazu nicht mehr berechtigt. Wir deuten das Letzte Abendmahl aber so, dass es eine Einladung an die Menschheit ist, Jesus als Erlöser anzunehmen, deswegen feiern wir es offen.«

Martin Luther selbst hätte sich wohl etwas derber ausgedrückt, über die Zustände im Vatikan äußerte er sich so: »Die römische Kirche, die vorzeitig die allerheiligste war, ist nun geworden eine Mordgrube über allen Mordgruben, ein Hurenhaus über allen Hurenhäusern, ein Haupt und Reich aller Sünde, des Todes und der Verdammnis, so dass man sich nicht gut denken kann, wie die Bosheit hier noch weiter zunehmen könnte.«

Insgesamt sind sich die beiden Großkirchen inhaltlich sehr nahe. Sie teilen sich die gleiche Bibel, sie teilen sich den gleichen Gott, sie teilen die gleiche Hoffnung, die sie mit diesem Gott verbinden. Und doch gibt es ein paar gravierende Unterschiede. Es geht auf der optischen Ebene los, die Katholiken haben es gerne bunt und visuell. Deswegen gibt es Heiligenbilder sowie eine stark ausgeprägte Verehrung dieser Heiligen. Auch Maria, die Mutter Gottes, hat im Katholizismus eine herausragende Rolle. Der Protestantismus wirkt da etwas spröde. Heiligenbilder gibt es keine, eine Verehrung schon gar nicht. Eigentlich soll möglichst wenig ablenken vom Wichtigsten: dem Wort Gottes, also der Bibel. Deswegen sind auch die Gottesdienste schlichter gehalten als die zum Teil prächtigen Messen der Katholiken, wo Ministranten (bei den Protestanten gestrichen), Vorsänger (bei den Protestanten gestrichen) und der Priester (bei den Protestanten um Frauen erweitert, siehe Frau Tennekes) ihre Rollen haben und der Weihrauch den Altar wie früher Morgennebel umweht. Protestantische Gottesdienste erinnern mehr an Frontalunterricht, wo zugehört wird und keine Ablenkung vorgesehen ist.

Katholiken sind da im Vergleich geradezu lebendig, sie stehen immer wieder auf, sie setzen sich wieder und manchmal knien sie sogar. Inhaltlich gehen die beiden Großkirchen speziell bei den Sakramenten getrennte Wege. Die Protestanten haben sich auf die reduziert, die explizit aus der Bibel ableitbar sind, wobei es sich um die Taufe und das Abendmahl handelt, außerdem lehnen sie die Vorstellung eines Fegefeuers ab. Die Katholiken sind da großzügiger und kennen noch die zusätzlichen Sakramente Beichte, Eheschließung, Firmung, Krankensalbung und Priesterweihe. Daneben gibt es noch vier Grundsätze, die bei den Protestanten dann doch dogmatische Bedeutung haben, auch wenn sie das Wort »Dogma« gerne vermeiden.

Laut diesen ist nur die Bibel Richtschnur für Christen (sola scriptura), kann nur Gott selbst den Glauben im Menschen erwecken, wodurch es für Menschen unmöglich ist, aktiv Gottes Nähe zu suchen (sola gratia), ist Christus die einzige Autorität, die für den Gläubigen relevant ist, keine Heiligen und auch nicht Maria (solus Christus), und ist der unbedingte Glaube an Gott die einzige Möglichkeit, seine Gnade zu erfahren (sola fi de). Der entscheidende Gedanke, den Luther zum Fundament seines Glaubens machte, war, dass man das Seelenheil nicht durch gute Taten oder Spenden erreichen kann, nicht einmal durch Buße oder ein besonders frommes Leben. Das Seelenheil ist ein Zustand, der ganz von alleine kommt, wenn man sich Gottes Willen unterwirft und fest an die Erlösung glaubt. Dieses Konzept entzog auch dem Ablasshandel den Boden, denn dieser versprach die Erlassung von Sünden und damit die Rettung vor dem Fegefeuer, wenn nur genug gespendet wird. Dieses Konzept spätmittelalterlicher Jenseitsversicherungen wurde von keinem so erfolgreich vermarktet wie von Johann Tetzel, der sich den Slogan ausdachte: »Wenn das Geld in der Tasche klingelt, die Seele aus dem Fegefeuer springet.« Heute würde er wohl erfolgreich Gebrauchtwagen verkaufen, damals tat er das mit der Seelendienstleistung Ablasshandel.

»Gibt es auch Dinge, um die Sie die Katholiken beneiden?«, möchte ich von Tennekes wissen.
»Unsere Auffassung von Religiosität hat sicherlich auch organisatorische Nachteile«, meint sie, »es ist praktisch unmöglich, dass wir alle die gleichen Positionen vertreten. Hinzu kommt, dass wir ja auch nicht alle aus dem lutherischen Protestantismus kommen, ich zum Beispiel komme aus dem reformierten Protestantismus«, womit die Reformation in der schärferen schweizerischen Tradition gemeint ist, die grundsätzlich dem lutherischen Protestantismus nahesteht, aber doch in einigen Punkten davon abweicht. So setzt er noch entschiedener das Bilderverbot im Gotteshaus um, weil nur das Wort im Mittelpunkt stehen soll, auch Brot und Wein beim Abendmahl sind für sie nur Symbole und nicht tatsächlich der Leib und das Blut Christi.

Um sich den Unterschied klarzumachen, hilft womöglich ein kleines Gedankenspiel. Wenn Konfetti im Christentum die Bedeutung hätte, die in Wirklichkeit Brot und Wein zukommt, würden die Katholiken die bunten Papierschnipsel mit Begeisterung in die Luft werfen und sie zum Blut und dem Leib Christi erklären. Auch lutherische Protestanten würden (etwas anders begründet) darin das Blut und den Leib Christi sehen, das Konfetti aber zuerst einmal einheitlich grau anmalen, bevor sie es etwas lustlos in die Luft werfen. Die reformierten Protestanten hingegen stellen ganz nüchtern fest, dass das graue Konfetti nur symbolisch für das Blut und den Leib Christi steht, und werfen es erst gar nicht herum, weil es danach ja doch nur wieder jemand zusammenkehren muss.

»Mich erstaunt etwas, dass die Protestanten einerseits so sehr das Wort der Bibel betonen, aber andererseits dann trotzdem die Texte der Bibel oft nur als interpretierbare Geschichten lesen«, meine ich zu Tennekes. Sie nickt kurz.
»Wir glauben, dass die Bibel ein viel klügerer Lebensratgeber ist, wenn sie nicht so eindimensional verstanden wird. Viele Geschehnisse sind so etwas wie Modelle, an denen wir uns orientieren können, weil der zugrundeliegende Konflikt uns heute auch noch betrifft. Wenn Sarah, also die Frau von Abraham, nicht glauben kann, in ihrem hohen Alter noch Kinder zu bekommen, ist das doch mehr als nur die Geschichte von einer älteren Frau, die eigentlich zu alt für eine Schwangerschaft ist. Es ist eine Geschichte von Zweifeln und Hoffnung, von Zukunft und auch von weiteren Chancen. Es gibt viele Deutungsmöglichkeiten.«
»Besteht da aber nicht schnell die Gefahr, dass der Glaube beliebig wird, wenn die Bibel fast nur symbolisch gesehen wird?«
Bevor sie antwortet, holt sie endlich das Angebot nach, dass ich mich an den Keksen bedienen kann, sie füllt mir außerdem das Glas mit Wasser.
»Ich muss noch einmal daran erinnern, dass das nicht vorgeschrieben ist, es gibt auch protestantische Gemeinden, die sich stärker am geschriebenen Wort orientieren, als ich es zum Beispiel tue.«
»Es gibt aber bestimmt auch Dinge in der Bibel, die eben nicht nur symbolisch gemeint sind, sondern geglaubt werden müssen. Zum Beispiel wird die Kreuzigung Jesu nur schwer als etwas anderes durchgehen als die tatsächliche Kreuzigung Jesu, oder?«
»Es gibt Theologen, die das in Frage stellen. Für meinen Glauben wäre das auch nicht unbedingt so wichtig, ob er gestorben ist oder vielleicht wirklich mit großen Ängsten die Nacht durchlitt. Was nämlich vor allem zählt, ist die Folge dar aus, dass Jesus unser Erlöser ist.«
»Das überrascht mich etwas.«

Mit dieser Überraschung lässt mich Tennekes schließlich alleine. Sie hat noch einen Termin. Im Pfarrhaus ist eine afghanische Flüchtlingsfamilie untergebracht und sie ist nun mit dem Vater verabredet, um bei der Bank ein Konto zu eröffnen. Ich spaziere noch etwas durch die Stadt, die für Historiker einen Reiz hat, der normalen Besuchern erst einmal verborgen bleibt. Ich denke noch etwas über Luther nach. Vor allem über das Interview mit einem evangelischen Geistlichen, das ich auf dem Weg hierher gelesen habe. Für ihn war Luther so etwas wie der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Ich bin mir nicht so sicher, ob Luther da wirklich das beste Beispiel ist, vorausgesetzt, dieser Übergang soll auch in moralischen Fragen ein neues Denken beinhalten. In Bezug auf Juden blieb Luther jedenfalls ein Kind seiner Zeit, forderte die Zerstörung der Synagogen und überhaupt ein Verbot jüdischer Gottesdienste, also faktisch des Judentums insgesamt. Am Ende seines Lebens steigerte sich sein Antijudaismus endgültig in eine Paranoia, weswegen er davon überzeugt war, dass die Juden ihn vergiften wollten.

Teil 2 finden Sie hier.

aus: „Deutschland, deine Götter – eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäuser

Wo die Moral Urlaub macht

Nach welchen Kriterien wird eigentlich entschieden, ob moralische Standfestigkeit angebracht ist oder nicht? In Bezug auf Ernährung kommt die Moral ja mittlerweile ganz selbstverständlich mit auf den Tisch. Ist Fleischessen jetzt einfach nur grundböse oder schon ein Verbrechen? Machen sich Vegetarier schuldig, weil sie keine Veganer sind? Und was machen wir eigentlich mit denen, die ganz ohne schlechtem Gewissen Huhn und Schwein verspeisen? Überhaupt sind Tiere ein ganz großes Moralthema. Eine Weiterverwertung von Tieren für Pelze oder Schuhe wird nicht gerne gesehen. Da kann es sehr schnell zu Boykottaufrufe, zu Petitionen oder Shitstorms (der Shitstorm ist die Straßen-Demonstration für Fußfaule) kommen.

Neben Fleisch und Tieren ist Energieverschwendung ebenfalls ein heikles Thema. Auch wird sehr empfindlich auf Diskriminierung reagiert, egal ob es sich um eine Diskriminierung aufgrund der Herkunft, Religion oder des Geschlechts handelt.

Und doch gibt es einen Bereich, in dem die eigenen hohen Standards fröhlich zur Seite geschoben werden: im Urlaub. Deutsche reisen gerne und ohne schlechte Gewissen in autoritäre Staaten. Besonders gerne geht es in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo es selbstverständlich weder Zivilgesellschaft, freie Presse noch unabhängige Justiz gibt. Warum also fahren Deutsche, die aus moralischen Gründen kein Fleisch essen und den Müll trennen, ausgerechnet in ein Land, in dem Menschen die elementarsten Rechte vorenthalten werden? Warum macht die Moral ausgerechnet im Urlaub Urlaub?

Wobei dieses Urlaubs-Paradoxon ja noch weiter geht. Sogar eifrige #Aufschrei-Unterstützer buchen ihr Ticket nach Dubai, wo die Diskriminierung von Frauen zur Staatsräson gehört. Und auch Menschen, die das Adoptionsrecht für Homosexuelle fordern, posten glückliche Bilder von sich am arabischen Strand. Der Kampf gegen Homophobie muss dann einfach mal kurz Pause machen, solange man es sich in einem homophoben Land gut gehen lässt. Alles hat seine Zeit.

Offenbar ist ausgerechnet der Urlaub der tote Winkel im Moralradar der Deutschen. Warum auch immer.

Gideon Böss schrieb das Sachbuch „Deutschland, deine Götter – unterwegs zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern

Warum Religionsunterricht nicht in die Schule gehört

In einer Kolumne auf Spiegel Online wird gerade der Religionsunterricht an deutschen Schulen verteidigt und als notwendiges Mittel gegen Radikalisierung bezeichnet. Der Artikel nennt vier Hauptpunkte. Im Religionsunterricht würde es nicht um Mission gehen, außerdem sei er nicht der verlängerte Arm der evangelischen oder katholischen Kirche, er würde den Schülern beibringen, „Fundamentalistische Positionen zu erkennen und deren Konsequenzen zu reflektieren“ und schließlich würde Schule eben auch bedeuten, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die „einem unangenehm oder lästig sind“.

Ich finde nicht, dass es an staatlichen Schulen Religionsunterricht geben sollte. Religion ist Privatsache und die Religionen haben selbst dafür zu sorgen, Menschen auf sich aufmerksam zu machen und sie von ihren Inhalten zu überzeugen. Warum der Staat sich da als Unterstützer einbringt, ist mir nicht klar. Er sollte religionsblind sein und nur dann eingreifen, wenn aus dem religiösen Eck die Spielregeln unserer Gesellschaft bedroht werden.

In der Realität sieht es ganz anders aus. Kirche und Staat sind nicht getrennt, der Staat zieht für die Kirchen Steuern ein und Kirchenvertreter sitzen in den Fernsehräten und in Ethikkommissionen der Bundesregierung. Vor allem aber ist das Argument, dass der Religionsunterricht ja kein „verlängerter Arm der evangelischen oder katholischen Kirche“ wäre, schlicht falsch. Die Kirchen entscheiden, wer in staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilen darf. Punkt. Und zwar nicht aufgrund einer rein inhaltlichen Prüfung, die klärt, ob der jeweilige Lehrer die Kernaussagen des Christentums korrekt wiedergibt. Stattdessen wird der Lebensstil des potenziellen Religionslehrers überprüft, der bitteschön den Wertvorstellungen der Kirche zu entsprechen hat. Ein schwuler Mann wird es darum sehr schwer haben beim Versuch, jemals einer Schulklasse von Bergpredigt und Nächstenliebe zu erzählen.

Ein kleiner Ausschnitt dessen, was die Katholische Kirche von potenziellen Religionslehrern erwartet (die sich bei der katholischen Kirche bewerben müssen, obwohl sie an staatlichen Schulen als Staatsdiener unterrichten werden):

Kriterien zur Erlangung einer Kirchlichen Unterrichtserlaubnis
– Der/die Religionslehrer/in ist bereit, den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit der Lehre der Katholischen Kirche zu erteilen
– Der/die Religionslehrer/in beachtet in der persönlichen Lebensführung die Grundsätze der Lehre der katholischen Kirche
Es wäre ein Missverständnis, wollte man darunter nur die Vermeidung von bestimmten Verstößen gegen die Sittenlehre der Kirche verstehen, es kommt vielmehr auf ein am Evangelium gemessenes Leben als Christ mit der Kirche an:
– Der/die Religionslehrer/in ist lebendiges Mitglied der Kirche
– Er/sie nimmt am Leben der Pfarrgemeinde, insbesondere auch am Sonntagsgottesdienst, teil
– Verheiratete leben in einer kirchenrechtlich gültigen Ehe und haben ihre Kinder katholisch taufen lassen. Sie bemühen sich nach Kräften darum, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Ein eheähnliches Zusammenleben ohne kirchliche Trauung ist mit der Lehre der Kirche nicht vereinbar

Das alles kann nur als die Aufführung einzelner Beispiele aus dem viel umfassenderen Auftrag verstanden werden, den Christen haben.

Selbstverständlich ist unter diesen Bedingungen der Religionsunterricht der verlängerte Arm der beiden Großkirchen (ach ja: das ist übrigens das Bewerbungsformular), weil sie ihre Wertvorstellungen durchsetzen dürfen und von Lehrern im Staatsdienst verlangen, sich ihren Wertvorstellungen unterzuordnen – viele, denen das heute noch egal ist, werden sich wohl erst an dem Tag darüber empören, wenn auch muslimische Organisationen vollkommen zu Recht verlangen, ebenfalls ein Wörtchen mitreden zu dürfen.

Dass es nicht „um Mission“ geht, ist auch eine erstaunliche Aussage. Wenn es nur um „Informationen“ und um „Weltwissen“ gehen würde und darum, „dass die Kinder etwas über das Christentum lernen, aber doch auch über andere Religionen“, bräuchte es keinen Gesinnungs-TÜV für Religionslehrer, also keine Einmischung durch Katholiken und Protestanten in die Lehramtsausbildung. Wenn es nur um „Wissen“ gehen würde, könnte jeder Lehrer Religionsunterricht geben, da reicht dann als Vorbereitung ein kurzer Blick auf Wikipedia und schon können Referate über die Ausbreitung des Christentums, die Anfänge des Islams, die Götter der Hindus und die Wiedergeburt bei den Scientologen (ja, das wirft die Frage auf: wer entscheidet eigentlich anhand welcher Definition, was eine Religion ist?) verteilt werden.

Am schwächsten ist aber das Argument, „Schule bedeutet auch, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die einem unangenehm oder lästig sind“. Nicht nur, weil Schule immer beinhaltet, sich mit Themen beschäftigen zu müssen, die einem lästig sind (man frage einen x-beliebigen Schüler und er wird diverse Fächer nennen können, auf die genau das zutrifft) sondern auch, weil nach dieser Logik einfach alles an der Schule behandelt werden müsste, egal wie abseitig es ist.

Gegen Religionsunterricht spricht auch, dass die Schule nicht der Ort ist, an dem entschieden werden kann, was die richtige Religion ist und die richtige Weise, sie zu leben. Ganz einfach deswegen, weil es bei Religionen kein „richtig“ und „falsch“ gibt, was wiederum ja auch Chancen und Gefahr gleichzeitig ist. Die heiligen Bücher sind in etwa so klar in ihrer Sprache wie die wöchentlichen Horoskope in Frauenzeitschriften. Da kann jeder hineindeuten was er will und deswegen gibt es auch diesen berühmten „Missbrauch von Religionen“ nicht. Was als Missbrauch bezeichnet wird, ist nur eine Auslegung des Glaubens, die mehrheitlich abgelehnt wird – wobei Mehrheiten sich auch ändern können und es auch ständig tun. Schon alleine deswegen ist es nicht möglich, dass an Schulen die Religion „richtig“ gelehrt wird. Religion gehört ins Privatleben und nur dann ins Zentrum staatlichen Interesses, wenn sie auf eine Weise ausgelebt wird, die unsere Freiheit bedroht.

Gideon Böss schrieb das Sachbuch „Deutschland, deine Götter – unterwegs zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Sie wollten doch nach Berlin!

Es ist alles ein wenig kompliziert mit der Deutschen Bahn. Eigentlich fahre ich gerne mit dem Zug und gebe mir auch Mühe, nicht immer in den Anti-DB-Chor einzustimmen. Aber die Bahn macht es einem leider nicht einfach.

Gestern musste ich nach einer Lesung von Duisburg nach Berlin zurück und bis Hannover schien das auch problemlos zu funktionieren. Dann aber wurden wir umgeleitet, weil auf der geplanten Strecke „Personen auf den Gleisen“ waren. Also über Braunschweig und eine Verspätung von 20 bis 30 Minuten, wie durchgegeben wurde.

Statt um 17:06 Uhr regulär an der Endhaltestelle Gesundbrunnen anzukommen, sollten wir nun erst um 17:14 Uhr in Berlin-Spandau sein und zirka eine Viertelstunde später am Endbahnhof. Um kurz vor 17:00 Uhr dann die Durchsage, dass wir nun doch erst um 17:30 Uhr in Spandau sind und zum Gesundbrunnen geht es heute ohnehin nicht mehr, dafür zum Hauptbahnhof.

Alles klar (warum man das nicht eine Idee früher wissen oder durchsagen konnte, war mir nicht wirklich klar), um 17:40 Uhr kamen wir dann schließlich am Hauptbahnhof an. Dort bat ich den Schaffner um das Kundenformular für Verspätungen und um die Bestätigung unserer verspäteten Ankunft.

„Warum?“, wollte er blaffend wissen und klang aggressiver, als ich es vom Mitarbeiter eines Unternehmens erwarten würde, dem ich gerade 110,5 Euro für eine Fahrt bezahlt hatte, die weder am geplanten Ort endete noch pünktlich war.
„Weil wir viel zu spät sind.“
„Sie wollten doch nach Berlin und Entschädigung gibt es erst ab einer Stunde.“
„Ich wollte nicht einfach nach Berlin, ich habe ein Ticket zum Gesundbrunnen gekauft. Und bis ich da bin, ist die Stunde voll.“
„Wir haben jetzt nur vierzig Minuten Verspätung, da kann ich ihnen doch nicht bestätigen, dass wir zu spät sind. Sind wir nicht, wir sind jetzt in Berlin.“
„Ja, am Hauptbahnhof.“
„Na und?“
„Dieser Zug sollte zum Gesundbrunnen fahren.“
„Aber selbst wenn, wäre es keine Stunde Verspätung.“
„Dann würden wir uns auch nicht unterhalten, weil ich dann am Ziel meiner Reise wäre, was ich jetzt nicht bin.“
„Was haben Sie da eigentlich, ist das Sparpreis?“
„Nein. Ist aber auch egal, ob Sparpreis oder nicht.“
„Meistens sind es die Sparpreis-Fahrer, die sich beschweren.“
„Ich hätte mich auch mit Sparpreis beschwert, denn ich habe nicht für eine Fahrt zum Hauptbahnhof bezahlt.“
„Das tut mir leid für Sie, aber wir sind keine Stunde zu spät in Berlin angekommen. Darum kann ich ihnen auch keine Verspätung bestätigen.“
„Ich hatte ein Ticket gekauft, das mich ohne Umsteigen von Duisburg nach Berlin Gesundbrunnen bringen sollte. Das ist nicht geschehen, also möchte ich die Wertminderung gerne erstattet bekommen.“
„Wie gesagt, wir sind am Ziel, Sie sind in Berlin und mehr kann ich da auch nicht weiterhelfen.“

Er rief dann noch einen Kollegen zur Hilfe, der ebenfalls auf mich einredete, dass ich doch nun am Ziel meiner Reise angekommen sei, und so trennten sich unsere Wege kurz darauf wieder. Irgendwie hat es auch etwas sehr unwürdiges, wenn ein Unternehmen meint, seine Versagen auf eine solche Art leugnen zu müssen. Amazon besteht ja auch nicht darauf, dass man doch aber eine Waschmaschine bestellt hat, wenn man reklamiert, dass die falsche Waschmaschine geliefert wurde. Überhaupt wäre mein Vorschlag, dass die Deutsche Bahn für einige Zeit unter Amazon-Zwangsverwaltung gestellt wird, bis sich in Sachen Service-Gedanke auch bei der Bahn so langsam das 21.Jahrhundert bemerkbar macht.

Zuletzt erschien von Gideon Böss das Sachbuch: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern

Böse Rassisten, Guterassisten und der Islam

In freien Gesellschaften gibt es mehrere Grundwerte, die für den Erhalt des Systems unabdingbar sind. Die Religionsfreiheit, die eben auch die Kritik an Religionen beinhaltet, ist einer davon und vielleicht sogar der wichtigste. Immerhin ist sie die Antwort darauf, dass das Christentum in Europa das freie und kritische Denken sowie die Originalität und die Neugierde, zu der Menschen fähig sind, über Jahrhunderte hinweg massiv einschränkte. Wer die engen Grenzen des Weltbildes sprengte, das die Kirchen gerade noch aushalten konnten, landete schnell im Kerker oder bezahlte mit dem Leben. Davon kann heute längst keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: Wer heute keine Witze über Papst, Pfarrer oder Gott macht, muss sich eher rechtfertigen als jene, die sich dadurch in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen. Und das ist gut so, denn es gibt keinen Grund, warum ausgerechnet Religionen mit Samthandschuhen angefasst werden sollten. Im Grunde gilt auch für diese Institutionen: wer austeilt, muss auch einstecken können. Und die christlichen Kirchen haben gelernt, einzustecken.

Doch Religionskritik ist eben nicht gleich Religionskritik. Beim Thema Islam kann das alles schnell anders aussehen. Mir ist das zuletzt wieder im Rahmen eines Interviews aufgefallen, in dem es um mein Buch „Deutschland, deine Götter“ ging. Die Journalistin hatte eigentlich kein Problem mit dem eher lockeren Schreibstil, machte jedoch eine erhebliche Ausnahme. Sie fand, erzählte sie mir nach dem Gespräch, die Art und Weise, wie ich über den Islam schreibe, vollkommen daneben. Vor allen ein Absatz hatte sie ganz besonders erzürnt, weil dieser verletzend sei und auf eine Art herabwürdigend, die Moslems so langsam nicht mehr ertragen können. Was hatte ich geschrieben, was alle Moslems nicht mehr hören können? Dass sie alle Terroristen sind, dass sie im Mittelalter hängengeblieben sind oder dümmer als andere Menschen? Nein, es war das hier:

„Allah offenbarte Mohammed den Koran Wort für Wort. Es dauerte schließlich 23 Jahre, bis die 114 Suren abgeschlossen waren. Wenn man die Standardeinstellungen eines gewöhnlichen PC-Schreibprogramms wie Microsoft Word verwendet, umfasst der Koran zirka 600 Seiten. Damit hat das Autorenduo Allah/Mohammed im Schnitt zwei Wochen pro Seite gebraucht, was sie zu den vermutlich langsamsten Schriftstellern aller Zeiten macht. Gleichzeitig aber mit zu den erfolgreichsten, denn nach der Bibel ist der Koran das am weitesten verbreitete Buch der Welt.“

Diese Passage ist weit davon entfernt, als Herabwürdigung durchzugehen (gut, „Autorenduo“ ist vielleicht etwas mutig, weil Mohammed die Offenbarungen nur mündlich weitergab. Jedoch ist für mich auch jemand Autor, der seine Texte diktieren lässt – aber das ist ein anderes Thema und war auch nicht der Grund für den Journalistinnen-Zorn). Und trotzdem wurde genau diese Passage attackiert. Nicht von einer Muslima, sondern von einer Journalistin, die selbst nicht religiös ist, sich aber dennoch ungefragt zur Anwältin der muslimischen Sache macht. Sie weiß, was man Moslems zumuten kann, nämlich praktisch gar nichts. Was sie hingegen nicht wissen will, ist, dass sie eine waschechte Rassistin ist. Rassisten sind heute ja fast immer in der Defensive, sie müssen sich verteidigen und ihnen ist klar, dass ihre Haltung sie gesellschaftlich schnell isolieren kann.

Doch daneben gibt es eben auch den guten Rassismus, der sich im Recht sieht und auch die öffentliche Meinung (oder zumindest die politische und mediale) hinter sich weiß, diese Form des Rassismus hat einen Eigennamen verdient: Guterrassist bzw. Guterrassismus. Er entmündigt seine Opfer, für deren Unterstützer er sich hält. Er nimmt das Objekt seiner rassistischen Begierde nicht als gleichberechtigt wahr und erwartet darum auch wenig von ihm. Darum ist es für diese Journalistin auch vollkommen klar, dass Moslems wegen einer solchen Formulierung schon aus der Fassung geraten müssen. Schließlich schwingt in den Zeilen ja eine gewisse Lockerheit im Umgang mit dem Islam mit, die ein Moslem ganz bestimmt nicht aushalten kann. Der Moslem will über seine Religion nur in spröden wissenschaftlichen Abhandlungen lesen, die ihm auf jeder Seite mindestens sieben Fußnoten garantiert und ihn auf staubtrockene Art nicht unterhält. Zumindest weiß der Guterassist, dass der Moslem das so will, ob der Moslem das auch weiß, ist egal. Der Guterassist weiß es ohnehin besser.

Guterassisten sind Teil des Problems, nicht der Lösung, denn sie verteidigen den Islam gegen jede Kritik, ganz so, als würde dadurch auch nur eine der Krisen gelöst werden können, die der Islam aktuell mit sich und anderen hat. So stellte „meine“ Guterassistin im weiteren Verlauf unseres Gesprächs klar, dass der islamistische Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Als ich meinte, was denn unter anderem mit IS, Boko Haram und Al Quaida ist, antwortete sie ungerührt, dass das alles keine Moslems sind, weil sie den Islam falsch verstanden haben. Das ist intellektuell auf dem Niveau eines Aluhutträgers, der vor Chemtrails warnt. Als ob es den Opfern – die meisten davon sind ja selbst Moslems – irgendwie hilft, wenn der Terror, der im Namen des Islam verübt wird, schlicht geleugnet wird. Als würde er verschwinden, wenn man nicht über ihn spricht.

Man kann natürlich versuchen, sich mit den Gründen für diesen Terror zu beschäftigen (dafür sollte auch dringend analysiert werden, warum sich so viele Konvertiten gleich soweit radikalisieren, dass sie zu Terroristen werden. Das ist deswegen relevant, weil Konvertiten generell dazu neigen, ihren neuen Glauben möglichst zu 100 Prozent zu leben. Warum endet das bei Neu-Christen oder Neu-Juden aber damit, dass sie nur ihren jeweiligen neuen Heimatgemeinden unglaublich auf die Nerven gehen, weil sie alle Regeln peinlich genau einhalten wollen, während Neu-Moslems sich stattdessen auffallend oft ein Ticket zum IS besorgen oder sonst wie ins extremistische Lager abdriften? Zieht der Islam also andere Gläubige an als das Christentum und das Judentum, und wenn ja, warum? In der Antwort auf diese Frage dürfte auch ein Gutteil der Lösung für das islamische Terrorproblem liegen.) Oder sich fragen, weswegen der Bildungsstand in der muslimischen Welt so katastrophal niedrig ist, warum Frauen so viel schlechter behandelt werden, warum in den letzten Jahrzehnten fast alle religiösen Minderheiten aus der arabisch-muslimischen Welt vertrieben wurden oder warum Satire, freie Presse und offene Gesellschaft aktuell in der muslimischen Welt undenkbar sind?

Wenn einen das Schicksal der Menschen in diesen Ländern etwas bedeutet (Stichwort universelle Menschenrechte), kann man all diese Fragen nicht einfach ignorieren. Oder eben doch, indem man sie eben als Lügen bezeichnet, dann ist man halt ein Verschwörungstheoretiker und/oder Guterrassist.

Natürlich ist es für die Entwicklung in der islamischen Welt unerheblich, was nun eine deutsche Journalistin dazu meint, aber erwähnenswert ist es allemal, entspricht das doch einer Grundhaltung gegenüber dem Islam, die diese Religion und ihre Mitglieder eben nicht ernstnimmt, sondern wie ungezogene Kinder betrachtet, denen man mit viel Rücksichtnahme begegnen muss, weil sie eben noch nicht so weit sind wie „wir“. Problematisch ist der Guterassismus aber vor allem, weil er gleichzeitig den autoritärsten und reaktionärsten Teil der islamischen Community bestimmen lässt, was „der Islam“ ist. Auf diese Weise wird den Hardlinern die Deutungshoheit übergeben. Aber das sieht ein Guterrassist nicht, dafür ist sein Gewissen zu rein. Leider.

Zuletzt erschien von Gideon Böss das Sachbuch: Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern

Eine Reise nach Teneriffa, zu Orcars und Papageien

Jetzt weiß ich also, wie ich einem Delfin Erste Hilfe leisten muss: unbedingt das Tier feucht halten und, ganz wichtig, das Atemloch nicht mit einem Handtuch zudecken! Zwar wohne ich in Berlin und in der Spree gibt es keine Flussdelfine, aber vielleicht kann ich mit diesem Wissen ja trotzdem eines Tages einen Tümmmler retten. Im Vergleich zu einem Delfin-Unfall in der Spree (und wirklich nur im Vergleich dazu!), ist es hingegen recht wahrscheinlich, dass plötzlich mehrere Gorillamännchen an der Türe klingeln und übernachten wollen. Auch da wüsste ich jetzt, was zu tun ist: jedem ein Einzelzimmer anbieten und klassische Musik auflegen. Männliche Gorillas sind nämlich Einzelgänger, die durch klassische Musik beruhigt werden. Und wenn ich mit einem Königspinguin in der Nacht an der Bar sitzen würde, könnten wir darüber reden, dass er ja einen Gutteil des Jahres auf dem offenen Meer verbringt. Und wir würden auf ewige Freundschaft anstoßen, bevor wir uns über das Thema Delfine auf ewig zerstreiten würden, die für ihn nichts weiter sind als erbarmungslose Killer.

Dass ich das alles weiß, liegt am Loro Park in Teneriffa. Der hat mich im Rahmen einer Journalistenreise eingeladen, „hinter die Kulissen“ zu schauen und mich somit für mehrere Tage aus dem erkältungsfördernden Sommer in Deutschland auf die Kanarischen Inseln gelotst. Vier Stunden im Touristenflieger und schon war ich am Ziel meines ersten Einsatzes als embedded journalist. Nur dass es nicht in ein echtes Kriegsgebiet ging, sondern zu Käfigen mit Papageien, zu Gehegen mit Alligatoren und zu Glasscheiben, hinter denen Haie lauern und vor denen Schilder warnen „Nicht mit Blitz fotografieren!“.

Der Loro Park ist nicht irgendeine Attraktion auf der Insel, der Loro Park ist der größte Arbeitgeber, der hier so allgegenwärtig ist wie in München der FC Bayern. Plakate machen schon am Flughafen auf den Zoo aufmerksam und Werbung auf Bussen und auf Taxis und auf Hauswänden. Wenn man ihn zum ersten Mal betritt, liegt eine jurassicparkhafte Spannung in der Luft. Der Eingangsbereich ist fernöstlich gehalten, alles ist gepflegt und ordentlich und folgt offenbar dem Motto: lieber etwas zu sauber, als ein bisschen dreckig. Genau deswegen würde jetzt das Brüllen eines T-Rex weniger überraschen, als es das eigentlich tun sollte. Der Loro Park ist vergleichsweise klein, wenn man die Zoos in Deutschland gewohnt ist. Fast alles ist innerhalb weniger Minuten zu erreichen, wobei sich die Anlage aber auch an einen Hügel anschmiegt und so auf mehrere „Stufen“ seine Tiere zeigen kann. Obwohl es hier auch Vieles anderes zu sehen gibt, hat mein Aufenthalt doch vor allem mit den Delfinen und Orcas zu tun, denn die stehen im Mittelpunkt einer nun schon seit Jahren laufenden Kampagne von Peta und anderen radikalen Tierschützern bzw -rechtlern.

Darum sitzen wir bald schon im Halbrund des Delfinariums, das an ein antikes Theater erinnert, nur dass hier die Bühne ein Wasserbecken ist. Künstliche Felsen und eine ebenso künstliche Landzunge vervollständigen das Bild, zu dem auch der chronisch blaue Himmel über Teneriffa gehört. Es ist voll hier, die Besucher standen schon lange vor Beginn der Show an, um einen der Plätze zu bekommen. Und dann geht es los. Mehrere Delfine tauchen durch das Becken und unter dem Jubel der Zuschauer zeigen sie direkt einen Salto, bevor sie wieder ins Wasser eintauchen. Die Show ist kurzweilig und mit Musik unterlegt. Ein Trainer lässt sich von zwei Tieren durch das Becken ziehen, andere Delfine winken dem Publikum mit der Flosse zu und wieder ein anderer schiebt ein kleines Kind im Schlauchboot umher. Das Publikum klatscht und applaudiert, doch kaum ist das letzte Delfinkunststück getan, leert sich das Rund erstaunlich schnell.

„Das ist wegen der Orcas!“, wird mir gesagt. Die Orca-Show findet relativ bald nach der Delfin-Show statt und weil die noch beliebter ist, versuchen die Leute, auch dort noch einen Platz zu ergattern. Auch unsere nächste Station sind die Wale, aber erst einmal gibt es einen Besuch im Backstagebereich der Delfine. Sie schwimmen nach dem Auftritt durch einen Tunnel hinter das Delfinarium, wo es weitere Becken gibt. Wir stehen neben diesen Becken, in denen die Delfine gerade von einem Trainer gefüttert werden und mehr passiert hier hinten jetzt auch nicht. Also ziehen wir weiter, während die Delfine uns mit ihrem unverbindlichen Hochzeitsschwindlerlächeln verabschieden.

Auch die Orca-Arena OrcaOcean ist voll besetzt. Die Zuschauer in den ersten Reihen tragen Regenjacken, weil die Tiere gerne Wasser über den Beckenrand spritzen. Ich sitze nun neben dem Chef des Zoos, Wolfgang Kiessling, einem bald Achtzigjährigen, der den Park 1972 gründete. Er deutete auf das Wasser und erklärt dann, „wir pumpen das direkt aus dem Atlantik hier herein! Das ist frisches Meerwasser.“

Und dann geht es auch schon los. Die Orcas sind auch Delfine, aber eben in einer XXL-Ausführung. In den USA sind sie übrigens unter einem weniger harmlosen Namen bekannt. Dort heißen sie Killerwale. Während bei der Delfinshow die Stimmung vor allem ausgelassen und fröhlich war, ist sie hier doch deutlich anders. Die Orcas sind gewaltige Tiere, die zwar auch Kunststücke vorführen, aber trotzdem in jeder Situation gewaltige Tiere bleiben. Der Respekt vor der Kraft, die da durchs Becken rauscht, ist spürbar. Während im Delfinarium alle Eltern ihrem Nachwuchs gerne die Fahrt im Schlauchboot ermöglich hätten, würden in der Orca-Arena nur solche ihre Kinder hineinsetzen, die ohnehin schon vom Jugendamt angezählt sind. Aber das ist alles graue Theorie, denn kein Mensch geht zu den Orcas ins Wasser. Das ist verboten, seitdem im Jahre 2010 in Sea World in Orlando eine Trainerin von einem Orca getötet wurde. Ob es sich um einen gezielten Angriff handelte oder das Tier seine Trainerin unabsichtlich tötete, ist umstritten und längst Teil einer Propagandaschlacht, die sich radikale Zoogegner und Orca-Halter wie der Loro Park und Sea World miteinander liefern.

Die Wale drehen ihre Runden, die Trainer stehen am Beckenrand, kommunizieren über Pfeifen mit den Tieren und animieren zugleich das Publikum. Und da taucht auch schon eine Flosse auf und mit einem kräftigen Stoß spritzt sie eine Fontäne frischem Atlantikwassers auf die regenjackenfesten Zuschauer. Nebenbei werden auch Informationen über das Leben der Orcas in freier Wildbahn mitgeteilt und generell gemahnt, dass wir Menschen besser auf diese Welt und ihre Artenvielfalt aufpassen müssen. Aber bevor man lange über die menschgemachten Verwüstungen der Erde nachdenken kann, wuchtet sich schon wieder eines der Tiere in die Luft, dreht sich und platscht ins Wasser zurück. Ein Orca taucht jetzt auf und rutscht auf das künstliche Ufer, wo er liegenbleibt und darauf wartet, mit seinem Trainer ein paar Kunststücke zu zeigen. Orcas sind zwar schwere Tiere, aber trotzdem noch nicht so schwer, als dass sie sich selbst unter ihrem Gewicht erdrücken würden. Nun reagiert der Orca auf jede Bewegung des Trainers, nickt mit dem Kopf, winkt mit den Flossen, öffnet das Maul und streckt die Zunge raus. Das Publikum lacht, doch Kiessling meint dazu, „dieses Kunststück mag ich nicht, das ist albern.“

Nach dem Ende der Show verlassen die Zuschauer langsam das Rund. Es besteht kein Anlass zur Eile, die Vorführungen sind beendet, niemand muss zur nächsten Show hetzen. „Können die alle falsch liegen?“, fragt Kiessling rhetorisch und mit Blick auf die begeisterten Zuschauer. Begeisterte Zuschauer gibt es aber auch beim Stierkampf und gab es im Kolosseum, wenn Menschen sich gegenseitig töteten. Begeisterung ist moralisch neutral.

Weil die Orca-Haltung im Mittelpunkt der Kritik steht, steht sie auch im Mittelpunkt der Reise in den Loro Park. Darum geht es am zweiten Tag direkt zurück nach OrcaOcean, wo die Trainer und Ärzte zeigten, wie sie mit den Tieren arbeiten. Auch die verschiedenen Bereiche des Areals werden erläutert. Im Grunde handelt es sich um ein Beckensystem, wobei die verschiedenen Bereiche durch Tore voneinander getrennt werden können. Etwa wenn die Weibchen von den Männchen separiert werden müssen. Für umfangreichere Untersuchungen oder die Behandlung von Verletzungen, kommen die Tiere in ein „Trockendock“, also ein Becken, dessen Boden bis hinauf zur Wasseroberfläche fahren kann. Dort können sich die Ärzte dann intensiv um das Tier kümmern.

Bei diesem Rundgang wird mir auch gezeigt, welcher der Wale der umstrittene Orcar Morgan ist. Umstritten deswegen, weil ihn die Gegner der Shows zu ihrer Galionsfigur gemacht haben. Morgan stammt aus dem Ozean (die meisten heutigen Orcas in Zoos sind schon dort geboren) und soll auch dorthin zurück, fordern sie. Das Problem ist nur, dass Morgan schwerhörig ist und darum in freier Wildbahn nicht überlebensfähig. Als er 2010 im niederländischen Wattenmeer gefunden wurde, war er fast verhungert. Er wurde vor Ort versorgt und untersucht, wobei unabhängige Experten ihm aufgrund seiner Behinderung keine Überlebenschance im Meer gaben. Die niederländische Regierung entschied daraufhin, dass er in die Obhut des Loro Parks überstellt werden soll, weil dort die Infrastruktur und die Erfahrung im Umgang mit solchen Tieren vorhanden sei. Es ist erstaunlich, dass diese Fakten über die schwere Behinderung des Tieres seine „Unterstützer“ nicht irritieren. Sie fordern immer noch, dass Morgan zurück ins Meer soll. Auch für so manches Mensch-Tier-Verhältnis gilt offenbar: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.“

Ob Orcars sich in einem Zoo wie dem Loro Park nun wohl oder unwohl fühlen, weiß ich nicht. Im Grunde ist das ja auch der eine große Graben, der uns von der Tierwelt trennt, dass uns niemand „von der anderen Seite“ aus verbindlich bestätigen kann, ob er zufrieden ist oder nicht. Von daher können wir nicht mehr machen, als möglichst vielen Daten und Fakten zu sammeln, um auf diesen aufbauend die Tiere immer besser zu verstehen und ihnen dadurch eine möglichst artgerechte Umgebung anzubieten.

So, und was nehme ich sonst noch aus meinem embedded Wochenende mit? Dass moderne Zoos, wie der in Teneriffa, längst auch eine wichtige Rolle beim Schutz für die Tierwelt spielen. Der Loro Park verfügt zum Beispiel über die größte Aufzuchtstation für Papageien weltweit und hat für die Stabilisierung mehrere stark gefährdeter Arten gesorgt (für die Papageien-Nerds: u.a. Blaue Aras, Gelbohrsittiche, Rotsteißkakadu und Blaulatzara) und gibt insgesamt jährlich knapp eine Millionen Dollar für Projekte zur Rettung bedrohter Tiere aus. Vor allem aber sind Zoos ja so etwas wie die Arche Noah der Neuzeit. Man bekommt hier eine kleine Ahnung davon, was die Tierwelt unseres Planeten so alles zu bieten hat. Und vor allem: was wir zu verlieren drohen, wenn wir nicht aufpassen.

Der Besuch im Loro Park zeigte aber auch, dass die Orcas längst nicht die größte Attraktion des Zoos sind, die ist eindeutig Kiessling selbst. Mehrmals schoben sich während unseres Rundgangs resolute Damen in unsere Gruppe, um Fotos vom Gründer zu machen. Eigentlich sollte nicht nur vor den Aquarien, sondern auch auf seinem T-Shirt stehen: „Nicht mit Blitz fotografieren!“.

Von Gideon Böss erschien zuletzt das Sachbuch: „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Wo bleiben die bayerlympischen Spiele?

Auch diese Olympischen Spiele werden wieder von Dopingskandalen überschattet. Ich habe eine Idee, wie sich dieses Problem lösen lässt. Und diese Idee ist kurz und knapp und heißt: Bayerlympics.

Warum wird aus der Not keine Tugend gemacht? Doping gab es schon immer und Doping wird es immer geben. Man kann es nicht aus der Welt schaffen, das ist unmöglich. Aber man könnte es in legale Bahnen lenken. Warum wird nicht ganz offiziell eine weitere olympische Bühne eröffnet, auf der Dopingmittel selbstverständlicher Teil der Wettkämpfe sind?

Es wäre doch spannend zu sehen, was die Pharmaindustrie für Wundermitteln im Angebot hat und wie sehr das die Grenzen dessen verschiebt, was Menschen unter „normalen“ Bedingungen leisten können. Die 100-Meter unter neun Sekunden? Weitsprünge von 10 Metern und mehr? Marathonläufer, die nach neunzig Minuten duschen gehen? Es wäre ziemlich spannend zu sehen, was diese Frankensteinspiele für Ergebnisse erzielen würden.

Die Gefahr, dass das legale Dopen eine Gefahr für die Sportler darstellt, gibt es zwar, aber Gefahren für die Gesundheit gibt es im Leistungssport ohnehin immer. Leistungssport ist nun einmal Extremsport. Gleichzeitig kann kein Pharmaunternehmen ein Interesse daran haben, Sportler zu Tode zu dopen, was schon eine Skrupelbremse aus wirtschaftlichen Gründen garantiert.

Von daher dürfte die Gefahr, dass die Athleten wie Versuchskaninchen mit neusten Tabletten und Pillen gemästet werden, unbegründet sein. Das Gegenteil wird eintreten: gerade weil Doping dadurch legal wird, wird es weniger Fälle geben, bei denen Sportler durch Dopingmittel gesundheitlich ruiniert werden oder sogar sterben. Denn erst die Illegalität sorgt dafür, dass viele (heute noch) unerlaubte Mittel nicht perfekt auf den jeweiligen Sportler abgestimmt werden können. Da würde es eine ganz andere Art der Professionalisierung geben, wenn Doping nicht mehr als ultimativer Sündenfall gesehen würde, sondern ein normaler Teil der pharmazeutisch-sportlichen Vorbereitungen wäre.

Auf diese Weise würde es also künftig die traditionellen Spiele geben (bei denen Dopingfälle ab dann drakonisch bestraft gehören) und eben die Bayerlympics, bei denen die Pharmaindustrie zeigen darf, was ihre Labore so alles zu bieten haben.

Von Gideon Böss erschien zuletzt das Sachbuch „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“

Killerspiele, Killeräste und Thomas de Maizière

Thomas de Maizière wärmt nach dem Amoklauf von München die Debatte über Killerspiele wieder auf. Anlass ist die Tatsache, dass der Täter solche Spiele auf seinem PC hatte. Dass die praktisch jeder Mensch besitzt, der noch nicht auf der Welt war, als Neil Armstrong den Mond betrat, bringt den Innenminister dabei nicht aus der Ruhe. Wenn sie jeder hat, haben sie schließlich auch alle(!) Täter. Da sprechen doch die Zahlen für sich.

Immerhin werden in Killerspielen Menschen getötet, deswegen heißen sie ja auch so. (Gut, genau genommen heißen sie nicht Killerspiele, sondern werde von Politikern so genannt, die in diesem Fall mal keinen Wert auf sensible Sprache legen.) Dass die Jugend durch solche Spiele eine besondere Begeisterung für Waffen, Krieg und Gewalt entwickeln, sieht man ja eindeutig daran, dass die Bundeswehr den Ansturm junger Freiwilliger kaum bewältigen kann. Es sind einfach zu viele, die unbedingt eine Waffe in der Hand halten wollen. So wie Deutschlands Jugend überhaupt total verroht ist, was auch die Shell-Jugendstudie bestätigt, laut der jungen Leuten Familie und Freunde am Wichtigsten sind. („Und Killerspiele – um so das Töten zu erlernen“, hat de Maizière in seiner Ausgabe der Shell-Jugendstudie noch handschriftlich hinzugefügt.)

Überhaupt wäre die Menschheitsgeschichte längst nicht so blutig verlaufen, wenn Killerspiele und ihre primitiven Vorläufer nicht gewesen wären. Kinder und Jugendliche spielten über Jahrtausende mit „Killerästen“, die sie im Wald fanden. Mit denen tobten sie herum und bildeten sich ein, dass sie tapfere Krieger wären. Die Folgen sind bekannt: von Alexander dem Großen über Julius Caesar bis zu Napoleon, Hitler und Mao haben sie alle mit Killerästen gespielt. Die Sache ist eindeutig! Man hätte schon viel früher über ein Verbot von Wäldern diskutieren müssen.

Nur eine Sache scheint keine Auswirkungen auf Killer zu haben: religiöse Bücher – und da ganz speziell die, auf die sie sich selbst berufen. Als zwei Islamisten 2015 in Paris eine komplette Zeitungsredaktion hinrichtete, stellte Killerismus-Experte de Maizière sofort fest: „Terroristische Anschläge habe nichts mit dem Islam zu tun.“ Klare Ansage, da können die Terroristen sich noch so oft auf ihr heiliges Buch beziehen, vor de Maizière kommen sie damit nicht durch. Hätten sie sich hingegen auf das Spiel Counterstrike berufen, gäbe es ein Tatmotiv. So einfach ist es manchmal.

Und auch in der Bibel finden sich ja Aufrufe zu gottgewollten ethnischen Säuberungen und Völkermorden, ohne dass das den Innenminister beunruhigt. In einem Buch, das in vielen deutschen Wohnungen liegt, das Kindern schon in der Schule nahegebracht und von Millionen Erwachsenen sehr ernst genommen wird. Trotzdem spricht de Maizière nicht von einem „Killerbuch“. So wie er es auch nicht beim Koran macht. Denn er weiß, dass die Terroristen eigentlich nicht religiös verblendet sind, sondern einfach nur zu viele LAN-Partys hinter sich haben. Da drehste einfach irgendwann durch. Ist so. Weiß der Innenminister selbst am besten, versackt ja oft genug auf solchen Events.

Gut jedenfalls, dass er zu unterscheiden weiß zwischen gefährlichen Computerspielen einerseits und ungefährlichem religiösen Wahn andererseits. Wirklich explosiv wird es immer erst, wenn Killerspiele hinzukommen. Wenn man die verbieten könnte, wäre die Welt endlich wieder ein friedlicher Ort. So wie früher, als es noch keine Killerspiele gab. Und keine Depressionen. Und generell keine psychischen Erkrankungen.

Gideon Böss veröffentlichte zuletzt das Buch „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“