Der amerikanische Traum ist alt geworden. 91, um genau zu sein. Auf Jimmy Carters Pappteller liegt eine Seniorenportion Spaghetti neben einer Seniorenportion Salat. Doch der Mann, der es vom Erdnussfarmer aus einem 600-Seelen-Dorf zum Führer der freien Welt brachte, ist noch rüstig. Mit dem „Carter Center“ setzt er sich weiterhin für Menschenrechte ein, bekämpft Krankheiten, beobachtet Wahlen. 2002 bekam der „schlechteste Präsident und beste Ex-Präsident“, wie ihn die Amerikaner nennen, dafür den Friedensnobelpreis. Doch seit Carter alt geworden ist, treibt ihn noch etwas anderes um: die Sorge um seine Heimatstadt Plains. Deshalb sitzt er hier vor dem Pappteller, mit allen, die im Nirgendwo von Georgia Rang und Namen haben.
Regelmäßig veranstalten sie solche Dinner, meist mit Leuten, die mit dickem Portmonee anreisen. Man könnte sagen, sie benutzen ihn. Doch es steckt mehr dahinter. Ein wenig verdankt Jimmy Carter Plains seinen Aufstieg zum Präsidenten, Plains verdankt ihm ein kleines bisschen Weltruhm – und den wollen sie gemeinsam in die Zukunft retten, auch über Carters Tod hinaus.
Anders als 1976, bei der Abstimmung über den 39. Präsidenten der USA, haben sie kaum eine Wahl. Die Bindung an das heimatliche Georgia war schon damals, im Wahlkampf, Carters Lieblingsthema, so wie sie heute das wichtigste Argument für einen Besuch in Plains ist. Hier fließt weder der mächtige Mississippi, noch gibt es elegante Plantagenhäuser oder eine lebhafte Blues- und Jazz-Szene. Alles, was Plains hat, ist Jimmy Carter.
Einen Ex-Präsidenten im karierten Hemd zur Jeans. Einen, den man auf der Straße treffen kann, und der mit seiner Stadt geradezu die Südstaaten im Reinformat repräsentiert. Einen, der so viele Menschen inspiriert, dass sie für ihn die Reise nach Plains auf sich nehmen.
Tausende überrannten täglich den Ort
Als der weithin unbekannte Gouverneur Carter sich entschloss, für das höchste Amt der Nation zu kandidieren, stand Plains Kopf. „Jimmy who?“, prangt noch in großen Lettern an der Wand des Railway Depots. Von diesem Holzschuppen aus zog Carter mit seiner „Peanut Brigade“ in den Wahlkampf – die Menschen aus Plains putzten für ihn die Klinken.
Schaulustige ließen nicht lange auf sich warten, tagtäglich überrannten Tausende den Ort. „Die Geschäfte waren gezwungen zum Tourismus zu wechseln“, erinnert sich „Better Hometown“-Direktorin Ruth Sanders. Dann blieben die Touristen weg „und es sah hier aus wie in einer Geisterstadt“.
1987 endlich erklärte der Kongress das Depot, die Farm, auf der Carter seine Kindheit verbracht, und die High School, die er besucht hatte, zur „Historic Site“. Gut zehn Jahre später formierte sich das „Better Hometown“-Programm, das inzwischen 2,5 Millionen Dollar in die Stadt investiert hat.
Die Organisation betreibt ein kleines Einkaufszentrum mit Hotel, ein Restaurant und ein Café. Doch Gewinn wirft das nicht ab. Profitabler sind diese Spaghetti-Abende mit Jimmy Carter, die selbst gemalten Bilder, die er für Versteigerungen zur Verfügung stellt, die handsignierten Dankesschreiben. Allein im letzten Jahr spülten sie zwei Millionen Dollar in die Hometown-Kasse.
Stars zum Anfassen – das lieben die Amis
Seinetwegen kommen heute wieder rund 60.000 Touristen pro Jahr nach Plains, vor allem an den Wochenenden, an denen Carter die Sonntagsschule leitet. Gleich hinter dem Denkmal einer grinsenden Erdnuss stehen sie dann vier Stunden an der Maranatha Baptist Church Schlange. An manchen Tagen sind nur eine Handvoll Mitglieder der Kirche anwesend, wenn Carter vor 350 Menschen aus der Bibel zitiert und geduldig für Erinnerungsschnappschüsse posiert.
Die Amerikaner lieben das: ein Star zum Anfassen. Einer, der in der Kirche Witze reißt („Sie kommen aus Washington D.C.? Da habe ich auch mal gewohnt.“), draußen die Hecken trimmt und gleichzeitig den amerikanischen Traum lebt. Dabei wuchs Carter alles andere als ärmlich auf: Auf der Farm seiner Eltern gab es zwar bis in die dreißiger Jahre weder Elektrizität noch fließend Wasser, dafür aber einen Tennisplatz und zwei Kinderzimmer für Jimmy und seine Schwestern.
Vielleicht gehört es einfach zur Südstaaten-Romantik dazu, die Vergangenheit ein wenig zu verklären – ganz in der „Vom Winde verweht“-Tradition, die Sklaven gar zu glücklich-naiven Arbeitern machte. Carter selbst spricht von der „Unverdorbenheit“ seiner Gemeinde, schon „als die Rassentrennung noch zu unserem Lebenswandel gehörte“.
In seinen Kindheitstagen gab es hier nur zwei weiße Familien, auf deren Feldern 25 schwarze schufteten. Der kleine Jimmy spielte mit den schwarzen Kindern, wurde erwachsen und gewann die Gouverneurswahl auch damit, dass er seinen Gegenkandidaten als Freund der Afroamerikaner diskreditierte. Kaum war er selbst im Amt, erklärte er die Rassentrennung für überholt.
„Jeder hier kennt die Carters, selbst der Müllmann“
Solche Geschichten werden in Plains nicht thematisiert. Wer anmerkt, dass hier heute noch die Schwarzen auf der einen und die Weißen auf der anderen Seite der Bahngleise wohnen, will lieber nicht namentlich genannt werden. Stattdessen erzählen alle freimütig die Anekdoten von ihrem „Mr. Jimmy“, wegen denen die Touristen herkommen.
Zum Beispiel die von den Baseball-Spielen zwischen dem Secret Service und den Einwohnern von Plains. Oder die von dem kleinen Jungen, der Angst hatte, die Sicherheitsleute würden seine Hunde erschießen, weil sie den Carters beim Radfahren hinterher jagten. „Jeder hier kennt die Carters, selbst der Müllmann“, sagt Jill Stuckey, eine Freundin des Paars. Sie muss los und dem einstigen „First Couple“ die Spaghetti-Reste vom Vortag vorbeibringen. Am Abend hatte sie ein Gedicht vorgetragen: „Ich habe einen adoptierten Vater“ – dem alten Carter stiegen die Tränen in die Augen.
Wer nach dem Kirchgang, dem Besuch der High School und der Farm einmal die Hauptstraße hinunter geht, hat genug gehört, um die Daheimgebliebenen glauben zu lassen, auch er kenne Jimmy Carter persönlich. Doch der Weg ist zu kurz, um viel Geld in der Stadt zu lassen: Acht Ladenlokale gibt es hier, zwei davon stehen leer.
So voll der Kirchparkplatz am Morgen war, so verwaist liegen die Innenstadt-Parklücken nachmittags in der prallen Südstaaten-Sonne. Im alten „Peanut Warehouse“ von Carters Vater Earl hat es das Erdnuss-Eis zu einiger Berühmtheit gebracht, ein paar Schritte weiter kann sich jeder ein paar alte Wahlkampf-Buttons oder handsignierte Carter-Biografien zulegen. Dann sind es 80 Meilen bis zur nächsten Interstate.
Carter und Trump könnten unterschiedlicher kaum sein
In Ramona Kurlands Polit-Nostalgie-Laden gibt es auch Trump-Buttons, an der Kasse gleich neben denen mit dem Konterfei von Hillary Clinton. Für jeden Clinton-Anstecker verkaufe sie zehn Trumps, sagt Kurland. Trump, der Radikale, der Mann, der auch in Georgia die Vorwahlen für sich entscheiden konnte.
Dabei könnten die beiden Politiker, Erdnuss-Farmer Carter und Milliardär Trump, unterschiedlicher kaum sein: Der eine ist stolz darauf, dass während seiner Amtszeit „nicht eine Kugel abgefeuert wurde“, der andere will nicht nur die Mitglieder des IS, sondern auch gleich deren Familien ermorden lassen. Der eine steht für Menschenrechte, der andere fordert ein Einreiseverbot für Muslime. „Plains ist lila – weder rot, noch blau“, sagt Kurland zum politischen Farbenspiel in ihrer Heimatstadt.
Die Kurlands geben ihren Laden bald auf. So richtig stören tut das die Entscheider in Plains nicht. Klar wäre es schön, wenn einige Dollar mehr in der museumsgleichen Ladenzeile hängenbleiben würden. Doch das Streben nach Profit opfern sie bewusst dem Wunsch nach Authentizität – und dank dem Sponsoren-Magneten Jimmy Carter können sie sich das auch leisten. Hier soll sich nichts verändern, im Gegenteil. Die Touristen kommen, „um die Stadt so zu sehen wie sie in meiner Kindheit war“, meint Carter selbst. Und deshalb bewahren sie hier genau „die Gemeinde, die alles war, was ich im Leben wollte“.
Carter will im Garten seines Hauses beerdigt werden
Doch die „Hometown“-Organisation ist nicht nur angetreten, um die Geschichte zu konservieren, sondern auch um die Stadt für kommende Generationen zukunftsfähig zu machen. Die lehmroten Felder sind noch immer die wichtigste Einkommensquelle. Gleich danach kommt zwar der Tourismus, doch ohne große Hotels und Fast-Food-Ketten sind die Jobmöglichkeiten begrenzt. „Die Zukunft ist der National Park Service“, ist Barbara Judy überzeugt.
Auch sie bekommt Spenden in Millionenhöhe. Mit dem Geld will die Leiterin der historischen Carter-Stätte bald Billy Carters Tankstelle integrieren und ein Rosalynn Carter Museum eröffnen. Und irgendwann wird es dann noch zwei Gräber geben – die von Jimmy und Rosalynn Carter. Der 39. Präsident der USA hat bereits verkündet, dass er im Garten seines Hauses beerdigt werden will, das Anwesen soll dann öffentlich zugänglich sein.
Bei einer Wahlkampfveranstaltung im Frühling hatte Donald Trump verkündet: „Der amerikanische Traum ist tot.“ Noch nicht – er ist 91 und lebt in Plains.
Tipps und Informationen
Anreise: Etwa mit Air France oder KLM nach Atlanta. Von dort per Mietauto ca. 240 Kilometer nach Plains.
Unterkunft: Einziges Hotel im Ort ist das „Plains Historic Inn“ (plainsinn.net, DZ ab 86 Euro). Die sieben Zimmer sind von Rosalynn Carter im Stil vergangener Dekaden designt. Mehr Unterkünfte gibt es in Americus (visitamericusga.com), 17 Kilometer von Plains.
Sehenswert: Jimmy Carter persönlich erleben kann man in seiner Sonntagsschulklasse in der Maranatha Baptist Church (Termine: mbcplains.org). Die „Jimmy Carter Historic Site“ (nps.gov, Eintritt frei) besteht aus dem Railway Depot (täglich 9-16.30 Uhr), der Schule (9-17 Uhr) und der Farm (10-17 Uhr).
Auskunft: Georgia Tourism: georgia-usa.de, Plains: plainsgeogia.com
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Georgia Tourism. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit