Das Springen im Wingsuit von Bergen herab oder mit dem Fallschirm von Klippen, Türmen, Häusern ist extrem gefährlich. Gezählt werden bis heute 310 Tote. Anfang Oktober starb der Russe Ratmir Nigimyanov, 32, in Chamonix in den französischen Alpen. Im August erwischte es die Basejump-Legende Uli Emanuele, 30, aus Südtirol. Beide waren Profis. Professor Karl-Heinrich Bette, 64, beschäftigt sich intensiv mit Extremsport. Er lehrt Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der TU Darmstadt.
Die Welt: Basejumping ist viel gefährlicher als andere Risikosportarten zu anderen Zeiten.
Bette: Das ist sicherlich der Fall. Es ist eine Praxis, die man nicht in der üblichen Weise trainieren kann. Man kann sie annäherungsweise erlernen, indem man andere Gleitsportarten wie Drachenfliegen im Vorfeld ausübt. Und selbst da macht es einen Riesenunterschied, ob man in einem Drachen durch die Luft gleitet oder in einem Wingsuit.
Die Welt: Man springt – nicht nur beim ersten Mal – ins vollkommen Ungewisse. Der Kick ist auch ein ganz anderer.
Bette: Das stimmt schon. Die Überwindung vor dem Kick kann ein Schutzfaktor sein für diejenigen, die sich vielleicht selbst ruinieren würden. Viele Risikosüchtige werden davon abgehalten. Sie wissen, dass sie mit dieser Praxis eine Grenze überschreiten würden, die sie vielleicht selbst nicht mehr im Griff haben.
Die Welt: Empfehlen Sie eine verstärkte Kontrolle oder ein Verbot wie jetzt in Chamonix?
Bette: Prinzipiell ja! Eine Kontrolle wird aber schwer durchsetzbar sein, da Verbote immer die unausgesprochene Aufforderung beinhalten, sie kreativ zu umgehen. In Lauterbrunnen …
Die Welt: … der Ort in der Schweiz ist von hohen Wänden und Absprungpunkten umgeben und gilt wahlweise als Mekka der Basejumper oder wegen bisher 47 tödlicher Unfälle als „Tal des Todes“ …
Bette: … kann sich jeder Laie, so weit ich weiß, prinzipiell in die Tiefe stürzen, ohne Lizenzen vorweisen zu müssen und ohne durch ein mehrjähriges Training in anderen Luftsportarten qualifiziert zu sein. Lediglich die Angst, final zu scheitern, hält viele Risikosüchtige davon ab, sich in die Tiefe zu stürzen.
Die Welt: Es gibt keine Handhabe?
Bette: Selbst wenn der Zugang zum Basejumpen kontingentiert und kontrolliert würde, wie es beispielsweise beim Drachenfliegen oder Fallschirmspringen der Fall ist, gibt es genügend Absprungstellen in den Alpen, um sich ohne Kontrolle selbst zu gefährden. Inzwischen gibt es in Lauterbrunnen einen touristisch genutzten Unfallvoyeurismus, der von der Selbstüberschätzung vieler Basejumper profitiert.
Die Welt: Extremsportarten wie Marathon, Triathlon oder Klettern sind im Mainstream des Sports gelandet. Eignet sich Basejumping als Breitensportart?
Bette: Nein! Basejumping lässt sich generell auch durch langjährige Erfahrungen nicht völlig in seinem hohen Risikogehalt entschärfen. Im Gegensatz zum Klettern, wo der Einzelne sich langsam ein Könnensniveau aneignen kann, um anschließend in unterschiedlich schwere Wände zu steigen, gibt es beim Basejumping nur ein Alles oder Nichts.
Die Welt: Als was sehen Sie das?
Bette: Es ist eine Stuntpraxis für Leute, die sich notorisch selbst überschätzen und bereit sind, ihren Drang nach einzigartigen Erlebnissen mit dem eigenen Leben oder der eigenen Gesundheit zu bezahlen.
Die Welt: Gehört nicht das Hasardeurhafte zum Extremsport dazu?
Bette: Das würde ich schon sagen. Es gibt keine allgemein verpflichtende Definition, was überhaupt Extremsport ist. Für einen Laien wäre der Stabhochsprung bei Wind und Regen bereits eine extremsportliche Praxis. Für einen Profi ist das kein großes Problem. Es kommt also auf die Eigenkompetenz des Sportlers an. Ich definiere Extremsport als eine Praxis, die mit hohen gesundheitlichen Schädigungen einhergehen kann – bis hin zum eigenen Tod.
Die Welt: Ist der Einsatz von Technik für den Extremsport konstituierend?
Bette: Gerade in den Luftsportarten ist Technik enorm wichtig. Es gibt aber auch extremsportliche Praktiken, wo Technik bewusst abgelehnt wird im Sinne von gegenkulturellen Bewegungen. Freeclimber verzichten etwa mit Absicht auf alle Sicherungssysteme.
Die Welt: Wie kommt es zur Selbstüberschätzung der Basejumper?
Bette: Das ipsative Denken ist in der Extremsportszene weit verbreitet. Damit ist die subjektive Einschätzung gemeint, dass die unfallverursachenden Fehler immer nur von den anderen gemacht werden, man selbst hingegen aber ungeschoren durch gute Vorbereitung und viel Erfahrung davonkommen könne. Befeuert wird diese Selbstüberschätzung durch die soziale Aufmerksamkeit, die dem Basejumping gegenüber aufgebracht wird.
Die Welt: Gibt es noch andere Gründe für die Unfallhäufigkeit?
Bette: Als besonders problematisch hat sich die Entwicklung miniaturisierter Kameras und die Heraufkunft von Internetforen wie YouTube erwiesen. Der Drang, das bislang Bekannte zu überschreiten und durch das noch Extremere zu toppen, um sich dabei zu filmen und vor den Augen einer anonymen Öffentlichkeit als Risikoheld zu inszenieren, hat in nicht wenigen Fällen dazu geführt, dass Sportler ihren eigenen Tod in Bild und Ton festgehalten haben.
Die Welt: Das wird nicht aufhören?
Bette: Es ist erwartbar, dass das Geschehen auch zukünftig weiter eskalieren wird, weil das extrem Riskante soziale Sichtbarkeit, Einzigartigkeit und mediale Aufmerksamkeit verspricht. Es wird zudem durch die fortschreitende McDonaldisierung und Redbullisierung des Abenteuer- und Risikosports angetrieben und befeuert.
Die Welt: Was meinen Sie damit?
Bette: Die Marke Red Bull erzielt mit ihren professionell gedrehten Filmen eine weltweite Aufmerksamkeit. Die Filme suggerieren, dass ein Leben ohne Abenteuer, Risiko und Herausforderung ein verfehltes wäre. Annahmen dieser Art sind verständlich vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der das Alltagshandeln in engen Bahnen und in wiederkehrenden Routinen abläuft. Dennoch sind Freiheits- und Erlebnisversprechen dieser Art nicht unproblematisch, weil sie unbeabsichtigte Folgen hervorrufen können. Sie verleiten auch diejenigen zum Nachvollzug, die weder körperlich noch mental und logistisch in der Lage sind, die professionellen Stunts auch nur annäherungsweise nachvollziehen zu können.
Die Welt: Damit wird Abenteuer zu einem standardisierten Angebot der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie?
Bette: Das kann man so sagen. Abenteuer werden oft nicht mehr autonom geplant und durchgeführt. Man greift als Erlebnissucher und -sammler inzwischen immer mehr auf das Angebot von Spezialorganisationen zurück, die das Riskante planen, durchführen und bildlich zum häuslichen Nachvollzug festhalten. Eine Banalisierung von Abenteuer und Risiko ist infolgedessen nicht von der Hand zu weisen. Besonders trendig ist gegenwärtig das verschenkte Abenteuer, das aber in nicht wenigen Fällen – sehr zum finanziellen Vorteil des Erlebnis- und Abenteueranbieters – von den Beschenkten klammheimlich uneingelöst bleibt, um eine Selbstschädigung durch zu viel Angst und Risikoerfahrung zu vermeiden.
Die Welt: Die Psychologie unterscheidet zwischen Low Attention Seeker und High Attention Seeker, die hoch risikobereit sind und sich stark für Extremsport interessieren. Nimmt die Zahl der High Attention Seeker zu?
Bette: Auch hier liegen mir keine Daten vor. Ich gehe davon aus, dass beide Gruppierungen eine Nachfragesteigerung in den letzten Jahren erfahren haben. Die Low Attention Seeker nutzen die Menüwelt des reduzierten Abenteuers, die auch deswegen komplexer und variantenreicher geworden ist, weil Institutionen und Organisationen genau diese Angebote unterbreiten. High Attention Seeking ist oft voraussetzungsvoll, auch finanzieller Art. Auch hier ist davon auszugehen, dass mehr Menschen das Extreme suchen, wie man an der Besteigung des Mount Everest sehen kann. Es ist ein Massenphänomen geworden, das nicht nur Stauprobleme am Berg erzeugt, sondern die Extremsucher in eine paradoxe Situation hineinbringt: Viele wollen durch riskante und gefährliche Taten Einzigartigkeit beweisen, können diese letztlich aber nicht erreichen, weil viele andere das Gleiche versuchen.
Die Welt: Warum nimmt die Sensationssuche überhaupt zu?
Bette: Im Alltag werden Risiken immer mehr entschärft. Man denke nur an die expandierende Versicherungswirtschaft und die Biopolitik des Gesundheitssystems. Vor diesem Hintergrund erscheint der Extremsport vielen Zeitgenossen als der letzte und einzig legitime Ort, in dem das wilde, rauschhafte und extreme Dasein noch seinen Platz hat.
Die Welt: Jenseits moralischer Erwägungen – finden Sie das als Sportsoziologe gut?
Bette: Als Soziologe beobachte ich die Welt des Abenteuer- und Risikosports mit neutralen Blicken und enthalte mich eines Werturteils. In meiner Jedermannsrolle bin ich eher für dosierte Abenteuer, die weder mich noch andere ruinieren. Kopfabenteuer, die man aufs Papier bringt, können auch sehr spannend sein.
Die Welt: Gibt es einen Fall, wo eine Extremsportart wieder verschwunden ist, weil sie von der Gesellschaft als zu gefährlich erkannt und geächtet wurde?
Bette: Ist mir nicht bekannt. Wenn extreme Praktiken so versportlicht werden, dass Wettkämpfe vor Zuschauern stattfinden, um zwischen Siegern und Verlierern zu diskriminieren, erfolgt eher eine Zivilisierung und Zähmung des Riskanten. Man denke nur an neuere olympische Sportarten.
Die Welt: Basejumping wird also weiter bestehen, egal, wie viel Tote es gibt?
Bette: Davon ist auszugehen. Gerade weil viele Menschen den eigenen Tod verdrängen und vergessen machen wollen, kann derjenige, der freiwillig gefährliche und potenziell todbringende Situationen aufsucht, sich in einer besonders markanten Weise profilieren und individualisieren.
Die Welt: Welchen Extremsport finden Sie selbst interessant?
Bette: Gerade war das große Ironman-Rennen auf Hawaii. Triathlon ist eine extremsportliche Praxis, die im Regelfall nicht zum Tode führt. Natürlich gibt es auch dort Herzinfarkte und Zusammenbrüche, aber in der Regel kann man dort nicht final scheitern, weil der Körper die Grenze setzt. Diese Sportarten sind mir sehr viel sympathischer als jene, bei denen das Geschehen in extremer Weise durch die Eigendynamik der Natur beherrscht wird. Also etwa Big Wave Surfing und Wingsuit-Gleiten, um sich selbst, Sponsoren oder anonyme Zuschauer auf YouTube zu beeindrucken. Aber genau deswegen wird es ja vollzogen. Man setzt sich mit diesen Praktiken von anderen Extremsportarten ab, die nicht mit der finalen Drohung des eigenen Todes auch Aufmerksamkeit erregen können.