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Aufdrucke

21.10.16

Warum tragen Männer so gern Mode mit Zahlen drauf?

Männer mögen Pullover und T-Shirts mit Zahlenaufdruck. Aber warum? Ist es sportliche Attitüde, Freude am Kalkulierbaren oder Gedankenlosigkeit? Eine Spurensuche zwischen Low und High Fashion.

Selbst Kate Moss und Aaron Taylor-Johnson haben einen der Bella Freud-Pullover mit dem ”1970"-Aufdruck in ihrem Kleiderschrank
Foto: Bella Freud Selbst Kate Moss und Aaron Taylor-Johnson haben einen der Bella Freud-Pullover mit dem "1970"-Aufdruck in ihrem Kleiderschrank

Die 70er sind einfach nicht totzukriegen. Bei der Londoner Kunstmesse Frieze am vergangenen Wochenende gedachte die Geld-Avantgarde dem beliebtesten Jahrzehnt aller Zeiten auf ihre Weise. Man konnte dort Männer in einem Kleidungsstück beobachten, das sich gerade zum sogenannten "Must-have" entwickelt. Es handelt sich um einen schlichten Wollpulli der Londoner Designerin Bella Freud, auf der Brust ist in Schwarz-Weiß die Jahreszahl 1970 eingewebt.

Das wäre an sich noch nichts Besonderes, denn Zahlen sind neben Slogans essenzielle Zutaten zeitgenössischer Herrenmode. Man begegnet ihnen meistens im Zusammenhang mit klassisch männlichen Betätigungsfeldern wie Sport oder Militär, mit solider, kerniger Kerligkeit. Erfolgreiche Sportswear-Marken wie Ralph Lauren, La Martina, Superdry oder Gaastra suggerieren dem Durchschnittsmann mit Oberteilen im Look & Feel eines imaginären Polo-, Rugby- oder Segelteams die Zugehörigkeit zu einer Mannschaft, in der es keine Rolle spielt, wie unsportlich er in Wirklichkeit ist. Mittlerweile hat in der Mode allerdings eine große Auflösung eingesetzt, viele der alten Codes gelten nicht mehr, und Sportswear ist zum wichtigsten Ideengeber der Luxusmode geworden. Damit haben auch die Zahlen den Aufstieg in die High Fashion geschafft – eine Riesenchance, denn sie haben eine Imagekur dringend nötig. Und für Zahlenforscher ein Zeichen, dass sich die Mode, die sich lange zurückgehalten hat, jetzt wieder schmücken will.

Die meisten Zahlencodes auf sportlicher Herrenmode sind so simpel wie der ästhetische Anspruch der Kleidung. Die Zahl auf dem Shirt, detailgetreu einem Sporttrikot nachgebildet, entspricht der Position auf dem Spielfeld. Mehr gibt es hier nicht zu entschlüsseln. Nur wenig anspruchsvoller erscheint der Einsatz von Zahlen bei der megaerfolgreichen britischen Marke Superdry, die amerikanische Vintage-Ästhetik massentauglich gemacht hat. Man begegnet dort zwar häufiger der Illuminaten-Zahl 23, über die Verschwörungstheoretiker gerne sinnieren. Genauso gut könnte sie bei dem Label, zu dessen Fans Jamie Oliver zählt, aber von David Beckhams ehemaliger Rückennummer bei Real Madrid inspiriert sein – und auch insofern wieder auf den Fußballfan im Manne abzielen. Offenbar bewusst bedeutungslos ist der Salat aus Slogans und Zahlen, den die deutsche Marke Camp David auf ihre Oberbekleidung druckt. Das Testimonial Dieter Bohlen, menschliches Äquivalent zum T-Shirt mit Gaga-Print, ist insofern perfekt gewählt.

Da stellt die Jahreszahl 1970 schon höhere gedankliche Anforderungen. Mit 1970 verbinden Kenner die unschlagbare Kombination aus Sex, Drugs und Rock'n'Roll, das wilde, freie Leben, eine Welt voller Möglichkeiten. Die Designerin Bella Freud – sie ist die Urenkelin von Sigmund und Tochter des Malers Lucian Freud – sagt, sie sei beim Rumexperimentieren mit dem Fotokopierer in einem Buch auf die Jahreszahl "1970" gestoßen, die sie sofort an die frühe New Yorker Punkszene und an Patti Smith denken ließ. Eine unwiderstehliche Verbindung für einen gewissen Kundenkreis, der sich die Coolness eines ganzen Jahrzehnts, verwoben mit dem großen intellektuellen Erbe der Freud-Familie, als Pullover überstreifen kann. Kate Moss, vielleicht nicht ganz überraschend, hat einen. Genau wie der "Avengers"-Star Aaron Taylor-Johnson, der den Pulli mit Zahlenaufdruck noch zu einem anderen beliebten Zweck einsetzt, nämlich um am eigenen Alter zu schrauben. In diesem Fall aber ausnahmsweise in die Höhe: Der 1990 geborene Schauspieler ist mit der 23 Jahre älteren Regisseurin Sam Taylor-Johnson verheiratet.

Zur Beliebtheit des Pullovers trägt sicherlich auch die Tatsache bei, dass sie die mystische Zahl 7 enthält. Sie nimmt in allen Religionen und Hochkulturen eine Sonderstellung ein und wird von Menschen mit Abstand am häufigsten als Lieblingszahl genannt. Der vom Rapper zum Gesamtkünstler avancierte Kanye West ist in der glücklichen Situation, im Jahr 1977 geboren zu sein. Er musste sich die Win-win-Zahlenkombination 77 also gar nicht erst ausdenken, um aus dem T-Shirt mit dem Aufdruck "Yeezy 77" – eine Verbindung aus Wests Spitznamen und Geburtsjahr – einen Verkaufshit zu machen. Etwas fantasielos ist es trotzdem. Das finden auch Holm Friebe und Philipp Albers, die in ihrem Buch "Was Sie schon immer über 6 wissen wollten" die Wirkung von Zahlen im Alltag untersucht haben. "Die 7 ist nicht nur ein Evergreen, sondern ein echter Allrounder und die Allzweckwaffe unter den Zahlen", schreiben sie. "Aber merke: Originell geht anders."

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Inhaltlich wie optisch herausfordernder wirkt dagegen die Jahreszahl 1984. Sie steht für die diesjährige Sommerkollektion des extrem angesagten russischen Modedesigners Gosha Rubchinskiy, er druckte die Zahl in konstruktivistischer Typo auf Herrenhemden und T-Shirts. Mit 1984 verbindet man auf Anhieb George Orwells apokalyptische Zukunftsvisionen. Und die spaßigen, im Vergleich zur glatt gebürsteten Gegenwart noch etwas rumpelig wirkenden Achtzigerjahre, im Westen geprägt von Tennissocken und Capri-Eis, im Osten von Stonewashed-Jeans und unschuldig-unbeholfenen Sportblousons. Ob Rubchinskiys Shirts überall ausverkauft sind, weil der Mensch nun mal zu Sentimentalität neigt?

Zahlenforscher Holm Friebe sieht den Grund eher im Wiederaufleben der Lust am Ornamentalen, die das Jahrzehnt des reduzierten "No Logo"-Luxus, eine Folge der Finanzkrise von 2008, demnächst ablösen könnte. "Im Prinzip entspringt Mode, die viel mit Zahlen und Slogans arbeitet – also mit Ornamenten – dem Dekorationswahn in proletarischen oder subproletarischen Haushalten", sagt Friebe. "Sie sind im Grunde eine Verlängerung der Tattoos." Eine Luxusmarke, die sich die Codes einer solchen Gegenkultur zu eigen macht und innerhalb des Referenzzirkus der Mode so tut, als käme sie aus der Proll-Ecke (wahlweise aus dem Hip-Hop, Punk, Heavy Metal oder Skateboarding), macht sich demnach zwangsläufig interessant. Beispiele dafür sind neben dem Russen Rubchinskiy die aktuelle Gucci-Renaissance von Designer Alessandro Michele, der sich mit seinen extrem barocken Flohmarkt-Zitaten zum freundlichen Exorzisten des Understatement erklärt hat. Oder Philipp Plein, der seinen luxuriösen Asi-Chic derart überzeichnet, dass bei ihm natürlich auch die Zahlenaufdrucke larger than life sind.

Zur Wiederauferstehung von Trash-Labels wie Ed Hardy oder Von Dutch, die Anfang der Nullerjahre einen irren Wust von Zahlen, Slogans und Swarovski-Kristallen über die Zivilisation ausgossen, ist es da nicht mehr weit. Tatsächlich wird das Label Juicy Couture, in dessen samtenen Jogginganzügen Paris Hilton und Nicole Richie zu dieser Zeit quasi lebten, gerade wieder entdeckt. Unter anderem von Vetements, das deshalb das coolste Luxuslabel der Stunde ist, weil man dort den schärfsten Blick für die Straße hat.

Fragt man David Kurt Karl Roth, Mitgründer von Deutschlands erfolgreichstem Männermodeblog "Dandy Diary", dann steht die Mode kurz vor einem Revival der Nullerjahre. "Alles das, wo jetzt gerade noch die letzten Prolls drauf sitzen, wird schon bald im High-Fashion-Kontext zu sehen sein", sagt Roth. "Dazu gehört natürlich auch Mode wie die von La Martina oder Camp David." Angesichts der Tatsache, dass derzeit in der Mode ohnehin alles im Fluss ist und vom Besten der 70er, 80er, 90er, von Teva-Sandale bis Chinchillamantel irgendwie alles geht, muss einem dabei nicht bange werden. Ein bisschen Freiheit ist doch auch mal ganz schön.

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