Die Ukraine haucht dem zweifelnden Europa neues Leben ein
7. Oktober 2016
In der EU schwindet der Glaube an die gemeinsame europäische Zukunft. Umso erstaunlicher, dass die Begeisterung für Europas Freiheitswerte in der Ukraine ungebrochen ist. Sie stößt aber auf alte und neue Beharrungskräfte. Von besonderer Bedeutung für die demokratische Erneuerung der Ukraine ist ihr veränderter Umgang mit der eigenen Vergangenheit.
Petro Poroschenko klang geradezu beschwörend. „Wir sprechen nicht von der Verteidigung der Ukraine, wir sprechen von der Verteidigung unseres gemeinsamen Europa“, rief er aus.
Der ukrainische Präsident sprach kürzlich in Kiew zu über 300 Teilnehmern der 13. Jahrestagung von „Yalta European Strategy“ (YES). Zum Kern dieser von dem ukrainischen Geschäftsmann (mancher nennt ihn einen Oligarchen) und Kulturmäzen Wiktor Pintschuk gegründeten internationalen Expertenrunde zur Unterstützung der Demokratie in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern zählen Elder Statesmen wie der frühere polnische Präsident Aleksander Kwaszniewski und der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Doch auch aktive ukrainische und internationale Spitzenpolitiker zeigen sich gerne auf diesem Forum. Hillary Clinton etwa war schon zweimal dabei.
Die Furcht, vom Westen im Stich gelassen zu werden
Das diesjährige YES-Treffen stand im Zeichen der Befürchtung, angesichts der Vielzahl schwerer, die internationale Ordnung erschütternden Krisen könnte die Beistand des Westens für die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression und für ihre Integration in das demokratische Europa nachlassen. Glauben doch immer mehr westliche Politiker, Russland sei als globaler „Stabilitätspartner“ unverzichtbar und müsse hofiert werden.
So wächst in der Ukraine die Furcht, in der EU könnten jene Kräfte die Oberhand gewinnen, die der Lockerung oder gar Aufhebúng der Sanktionen gegen Moskau das Wort reden. Zudem zeigt die EU im Ganzen bedrohliche Auflösungserscheinungen. Und Donald Trumps putinfreundliche Bekenntnisse lassen die Nervosität im Blick auf die US-Präsidentenwahl steigen.
Poroschenko übertönte die Angst, vom Westen im Stich gelassen zu werden, mit einem flammenden Appell an die Standfestigkeit der Europäer: „Was wir von Ihnen am meisten brauchen, ist nicht Geld, sind keine Waffen und keine Berater- Es ist Ihre Einheit, Ihre Solidarität.“ Schließlich bedrohe Putins imperialer Autoritarismus nicht nur die Ukraine, sondern die Freiheit aller Europäer.
Das Misstrauen gegen die politische Elite sitzt tief
Zwar ist die Zustimmung für Poroschenko im Sommer auf 11 Prozent abgestürzt, seine euphorische Identifikation mit der EU und ihren Grundwerten aber wird in der ukrainischen Gesellschaft weitgehend geteilt. Das drückt sich in großem bürgerschaftlichen Engagement aus, das außerparlamentarisch von unzähligen NGOs, Bürgerinitiativen und Think Tanks getragen und im ukrainischen Parlament vor allem von der interfraktionellen Strömung der „Euro-Optimisten“ repräsentiert wird. Während in den EU-Staaten der Verdruss an dem europäischen Projekt wächst, glaubt man in der Ukraine mit umso größerer Hingabe daran – und hofft, ihm mit dem eigenen demokratischen Aufbruchsgeist neues Leben einhauchen zu können.
Tief sitzt jedoch das Misstrauen der vom Maidan-Aufstand initiierten zivilgesellschaftlichen Bewegung gegenüber der chronisch mit Oligarcheninteressen verquickten politischen Klasse. Zwar hat die ukrainische Regierung in Sachen Bekämpfung der Korruption zuletzt wichtige Weichen gestellt. So gibt es neuerdings ein elektronisches System, das alle Einkünfte und Ausgaben von Staatsbediensteten erfasst, und dessen Daten der Ende 2015 eingerichteten Anti-Korruptionsbehörde uneingeschränkt zugänglich ist.
Im Bereich der Polizei hat die Anti-Korruptionsoffensive bereits sichtbare Erfolge erzielt. Doch speziell im Justizwesen liegt noch so ziemlich alles im Argen. Die Auswechslung korrupter Richter und Staatsanwälte kommt nicht voran. Bisher ist kein einziger Verantwortlicher für die exzessive Korruption unter dem Anfang 2014 gestürzten Präsidenten Janukowitsch zur Rechenschaft gezogen worden. Die Ermordung von über 100 Demonstranten auf dem Maidan wurde ebenso wenig aufgeklärt wie fast alle der über 50 Morde an Journalisten seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991.
Fortschritte und Hemmnisse im Kampf gegen Korruption
Der von Poroschenko eingesetzte Generalstaatsanwalt Juriy Lutsenko steht deshalb heftig in der Kritik. Bei der YES-Konferenz geriet er unter Beschuss der „euro-optimistischen“ Rada-Abgeordneten Serhij Leschtschenko und Mustafa Najem, der ihm vorwarf sich in Hinterzimmern mit mächtigen Oligarchen abzusprechen. Beide Kritiker sitzen für den „Block Poroschenko“ im Parlament. Dass sie gleichwohl enge Vertrauensleute des Präsidenten, ja sogar Poroschenko selbst, öffentlich finanzieller Unregelmäßigkeiten und nepotistischer Schiebereien bezichtigen können, gehört zu den Außergewöhnlichkeiten der ukrainischen Situation. Tasächlich konzedierte Leschtschenko bei aller ätzenden Kritik an den Zuständen in der Ukraine, dass „nirgendwo sonst täglich Enthüllungsberichte erscheinen, in denen Verantwortliche so offen beim Namen genannt werden.“
Staatsanwalt Lutsenko, der unter Janukowitsch inhaftiert war und zu den Maidan-Aktivisten gehörte, weist alle Vorwürfe zurück. Die Justizreform gehe durchaus voran, doch könne das nicht so schnell geschehen, wie es sich von revolutionärer Ungeduld getriebene Idealisten erträumten. Ministerpräsident Wolodymyr Groysman kommentierte das zögerliche Agieren der Justiz indes lakonisch: „Einen großen Fisch kann man nicht mit einer kleinen Rute fangen.“ Überhaupt kann der Kampf gegen Korruption kaum gewonnen werden, solange Rada-Abgeordnete gerade einmal umgerechnet 230 Dollar monatlich verdienen. Bei vielen Staatsbediensteten liegen die Gehälter noch niedriger.
Babi Jar und der neue Umgang der Ukraine mit der eigenen Geschichte
Doch nicht nur auf dem Gebiet politisch-gesellschaftlicher Reformen stößt die vom Maidan ausgelöste Veränderungsenergie auf alte und neue Beharrungskräfte. Von großer Bedeutung für die Zukunft der Ukraine ist auch der Umgang mit der eigenen Geschichte. Jüngst stand die ukrainische Hauptstadt ganz im Zeichen der Erinnerung an das Massaker von Babi Jar vor 75 Jahren. Der Ort, eine Schlucht bei Kiew, steht für eine der grauenvollsten Mordaktionen im Zuge der NS-Judenvernichtung. Hier wurden Ende September 1941 in nur zwei Tagen 33.771 Kiewer Juden von der SS, Einheiten der Wehrmacht sowie ukrainischen Kollaborateuren umgebracht.
Eine Woche lang wurde in zahlreichen Veranstaltungen – Podiumsdiskussionen, Konzerten, Ausstellungen – dieses entsetzlichen Ereignisses gedacht. Höhepunkt war die offizielle staatliche Gedenkzeremonie am Ort des Grauens, auf der neben dem ukrainischen Präsidenten auch Bundespräsident Joachim Gauck sprach (siehe meinen Bericht hier). In dem Park, der auf der inzwischen zugeschütteten Schlucht liegt, erinnern neuerdings Gedenktafeln an die ermordeten Juden, aber auch an alle anderen Opfer, die hier in den Jahren unter deutscher Besatzung hingerichtet wurden: sowjetische Partisanen wie ukrainische Nationalisten, Roma wie geistig Behinderte.
In der Sowjetunion war das Gedenken an die NS- Judenvernichtung tabu. Es verschwand unter einem heroisch generalisierenden „Antifaschismus“, während der Antisemitismus in der Sowjetideologie weiter wucherte. Sie zielte zwar nicht auf die physische Vernichtung der Juden, wohl aber auf die Auslöschung jüdischer Identität.
Annäherung an das jüdische Erbe
Sich dem Erbe des ukrainischen Judentums zuzuwenden und die Erinnerung daran zum Bestandteil des nationalen Gedächtnisses zu machen, ist somit ein wichtiges Element im Bestreben der neuen Ukraine, endgültig mit der sowjetischen Vergangenheit zu brechen. In diesem Sinne ist ein neues Mahnmal für Babi Jar und ein Holocaust-Museum in Kiew geplant. Die ukrainische Regierung wie die zivilgesellschaftliche Initiativen suchen dazu die Zusammenarbeit nicht nur mit Israel und den wieder auflühenden jüdischen Gemeinden im Land, sondern auch mit internationalen jüdischen Organisationen. Mit Groysman hat die Ukraine derzeit übrigens einen jüdischen Ministerpräsidenten – als Chef einer Regierung, die von der russischen Propaganda als „faschistische Junta“ diffamiert wird.
Neben dem World Jewish Congress und dem American Jewish Committee ist in der Ukraine besonders das im kanadischen Toronto beheimatete Ukrainian Jewish Encounter (UJE) mit Aktivitäten auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet aktiv. Zum diesjährigen Babi-Jar-Gedenken organisierte das UJE unter anderem Vorträge internationaler Holocaust-Forscher, aber auch ein eindrucksvolles Gedenkkonzert der Hamburger Symphoniker in der Kiewer Oper.
Kanada hat die größte ukrainische Diaspora der westlichen Welt. Entsprechend intensiv wird der demokratischen Neuaufbau in der Ukraine von dort unterstützt. Das UJE will bei allem schmerzhaften Gedenken an die historischen Schrecken auch positives Erinnern an „über 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte von Juden und Ukrainern auf dem Gebiet der heutigen Ukraine“ fördern, wie UJE-Koordinator Peter Zalmayev sagt. So pflegt das UJE zum Beispiel das Andenken an Andrej Sheptytzkyj, der als Metropolit der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche 150 Juden das Leben rettete.
Streit um das Ausmaß ukrainischer Kollaboration
Der jüdisch-ukrainische Annäherungsprozess verläuft jedoch nicht ohne Reibung. An der Frage nach dem Ausmaß ukrainischer Kollaboration unter deutscher Besatzung scheiden sich oft die Geister. Als Israels Staatspräsident Reuven Rivlin vergangene Woche im ukrainische Parlament sprach, löste er bei manchen Politikern und Historikern des Landes Verärgerung aus. Unter den ukrainischen NS-Kollaborateuren, sagte Rivlin, hätten sich „besonders die Kämpfer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) hervorgetan, die sich an Juden vergingen, sie umbrachten und in vielen Fällen an die Deutschen auslieferten.“
Israels Präsident habe „den sowjetischen Mythos der Beteiligung der OUN am Holocaust wiederholt“, kritisierte daraufhin Wolodimir Wjatrowitsch, Direktor des Instituts für Nationales Gedächtnis. Andere ukrainische Historiker gehen dagegen sehr wohl davon aus, dass zumindest punktuell OUN-Angehörige am deutschen Judenmord mitwirkten. Weil aber die OUN andererseits von der NS-Besatzung verfolgt wurde – wie selbstredend von den Sowjets -, wird sie in der Ukraine vielfach glorifiziert. Ihr Status als Unabhängigkeitskämpfer ist gar gesetzlich festgeschrieben.
Die Ukraine steht nicht nur unter Dauerbeschuss russischer Artillerie, sondern auch der Kreml-Propaganda, die ukrainisches Unabhängigkeitsstreben und dessen Geschichte in toto als „faschistisch“ diffamiert. Als Überreaktion darauf werden in der Ukraine zuweilen auch dunkle Wahrheiten der eigenen Historie bestritten, die tatsächlich belegt sind. Doch nur eine Gesellschaft, die sich allen Aspekten ihrer Vergangenheit stellt, ist wirklich frei – und beweist, dass sie autoritären, die Historie manipulierenden Regimen überlegen ist.
Die Reise des Autors wurde unterstützt durch „Yalta European Strategy“ und „Ukrainian Jewish Encounter“