Neue Rohheit. Die radikalen Rechten setzen auf enthemmte Bürger

Was bezwecken jene, die das Wort „völkisch“ enttabuisieren und in den Zustand der Unschuld versetzen wollen? Sicher stimmt es, was der Historiker Norbert Frei kürzlich schrieb (Süddeutsche Zeitung, 15. Oktober): „Die Grenzen des Sagbaren sollen verschoben werden.“ Das wird offensichtlich bewusst betrieben, jedem kleinen Terraingewinn folgt alsbald ein weiterer Vorstoß. Etwa soeben die Erklärung eines führenden AfD-Politikers, Mitglieder der „Identitären Bewegung“ seien in der Partei sehr wohl willkommen. Das geschieht sicher auch, aber gewiss nicht nur aus purem Spaß an der Provokation. Da ist mehr am Werk als die Lust von Kindern, die schwungvoll in die tiefsten und schlammigsten Pfützen springen. Solche Manöver sollen etwas bewirken. Und daher richten sie sich an zukünftige Akteure, an Abnehmer, an ein Publikum. Aber an welches?

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Einfacher Pfosten, kein „Vollpfosten“

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Die Nische wächst. Warum es in Sachsen so rabiat zugeht

Für nicht wenige gilt es als ausgemacht, dass Sachsen das dunkelste Bundesland im ohnehin dunklen Teil Deutschlands ist. Nirgendwo sonst hat die NPD so dauerhaft Wahlerfolge erzielen können, nirgendwo sonst ist die Dichte von neonazistischen Bünden und Banden so groß wie hier. Nirgendwo sonst in Deutschland war schon vor dem Aufkommen der AfD der Ton nationalen Beleidigtseins und das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, so verbreitet wie in Sachsen. Und es war die eigentlich prunkende Stadt Dresden, in der die radikalste Bewegung gegen „System“ und „Lügenpresse“ entstand, wuchs und sich ebenso ungehindert wie lautstark artikulieren konnte. Kaum anderswo stellen sich Staat, Behörden und Gesellschaft so ungeschickt an im Umgang mit Staatsfeinden und Terroristen.

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Dresden, wie Canaletto es sah

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Ist Europa am Ende? Über ein Buch, das den Osten zum Zentrum der Geschichte macht

Völker erzählen sich die eigene Geschichte gerne so, dass sie selbst strahlend im Mittelpunkt stehen. Dieses Verfahren ist zwar keine europäische Erfindung, in Europa aber hat es zur Entwicklung eines ganz besonders tief verwurzelten Weltbildes geführt, des eurozentristischen. In dessen vulgarisierter Form erscheint die europäische Zivilisation (ergänzt um die amerikanische) als der Höhe- und Endpunkt der Weltgeschichte. Jerusalem, Athen und Rom sind darin die frühen Leuchttürme. Christentum, Renaissance, Aufklärung, Industrialisierung und Demokratie: alles in Europa erdacht, erfochten, durchgesetzt und über den Globus verbreitet. Alle anderen Regionen der Welt fallen dieser Sichtweise zufolge ab, umso mehr, je weiter sie von Europa entfernt sind. Ihr Heil bestünde darin, Europa ähnlich zu werden: Der Westen als Weltmodell.

Seit Langem hat sich herumgesprochen, dass der Aufstieg Europas auch seine Schattenseiten hat, der Kolonialismus ist eine davon. Deswegen ist die eurozentristische Sichtweise eigentlich längst verpönt. Man meidet es peinlich, Europa zum Vorbild zu erklären, und bringt viel Verständnis für die Besonderheiten anderer Kulturen auf. Und dennoch: Wir nehmen sie weiter als ferne Kulturen wahr, als etwas, das nicht zu uns gehört. Das zeigte sich etwa, als vor zwei Jahren an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnert wurde. Obwohl in vielen Publikationen die weltweite Dimension dieses Krieges minutiös dargelegt wurde, hat das in Europa nur wenig an der nach innen gerichteten Sichtweise ändern können. Der Erste Weltkrieg – das waren nach wie vor die flandrischen Schlachtfelder und das britisch-deutsch-russisch-habsburgische Machtballett. Tatsächlich aber war dieser Krieg der erste, der das Gravitationszentrum der Geschichte wieder von Europa wegverlegte und die Ölfelder des Ostens in den Mittelpunkt rückte.

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Dschingis Khan in einem Bildnis aus dem 14. Jahrhundert

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Die drei Aufrechten. Zum Fall al-Bakr

Für das Drama im eigentlichen, nicht im daher geplapperten Sinne ist in entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften kaum noch Platz. Doch dann liefert auf einmal das Bundesland Sachsen – diesmal nicht Dresden, sondern das geschäftige Leipzig – ein Drama nahezu klassischer Art, fast Kleist’scher Dimension. Alles ist enthalten: Verstrickung, Größe, Bosheit, Verdacht, guter Wille, Mut, schlechter Wille, Bürgertugend, Torheit, eine das Absurde streifende Unbedarftheit und eine unheilvolle Verknotung von Ereignisketten. Man möchte darüber lachen, wäre es nicht so niederschmetternd.

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Leipzig, Hauptbahnhof

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Von den Polen lernen: Populisten können auch scheitern

Und wieder geht ein Gespenst um: das Gespenst der eigenen Wehrlosigkeit. Hört man in die Debatten hinein, die über die Wahlerfolge von Populisten in Europa und den USA geführt werden, dann ist oft ein eigentümlich fatalistischer Ton zu vernehmen. Der Front National, die AfD, die Fünf-Sterne-Bewegung, Geert Wilders Partei, die FPÖ und auch Donald Trump: Sie alle erscheinen wie Naturgewalten, die sich unwiderstehlich und unaufhaltsam ihre Bahn suchten. Es ist – zuletzt in Dresden – leicht zu erkennen, dass man jenen, die den Bewirtschaftern von Ängsten, Ressentiments und Hass mit Argumenten nicht kommen kann. Weil das so ist, erscheinen diese Bewegungen vielen als eine Kraft, die nicht eingehegt und nicht zur Ordnung gerufen werden kann. Da solche Milieus zudem bewusst die Brücken hochgezogen und sich offensiv in ihrem Freund-Feind-Denken eingeschlossen haben, verstärkt das den Eindruck, dass die bürgerliche Gesellschaft ohnmächtig ist, dass sie nicht mehr agieren kann und eigentlich – da denkt mancher an die Jahre 1930 bis 1933 – ein schnelles Verbot das Beste wäre. Diese mutlose Haltung offenbart einen tiefen Zweifel der Gesellschaft und ihrer intellektuellen Eliten an sich selbst. In einem sind sich Rechtspopulisten, Salafisten und Wladimir Putin einig.

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Mensch oder Schwein. Die niedere Lust an Tabubrüchen

Schwein: Das ist ein Tier, eines, das als sehr sensibel gilt. Und ein Schimpfwort, eine Beleidigung – in der deutschen Sprache eine der kräftigsten. Auch das war gemeint, als in der Nacht zum vergangenen Sonntag bisher Unbekannte einen abgetrennten Schweinekopf vor der Moschee der Potsdamer Al-Farouk-Gemeinde deponierten, der einzigen Moschee in ganz Brandenburg. Es war nicht die erste Tat dieser Art in den vergangenen Jahrzehnten. In der Nacht zum 20. April 1992 – also dem Tag, an dem Hitler 1889 geboren wurde – warfen Neonazis eine Schweinekopfhälfte in den Vorgarten der Erfurter Synagoge. Genau einen Monat später – nach dem Tod von Heinz Galinski, dem langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland – wiederholten Skinheads die Tat, diesmal mit zwei Schweinekopfhälften. Auf dem beigefügten Zettel war zu lesen: „Dieses Schwein Galinski ist endlich tot. Noch mehr Juden müssen es sein.“ Immer wieder wurden mit Schweineköpfen trübe Zeichen gesetzt, zuletzt in diesem Jahr vor dem Wahlkreisbüro von Angela Merkel in Stralsund und, Mitte August, in Johanngeorgenstadt im sächsischen Erzgebirgskreis. Dort hatten Unbekannte einen Schweinekopf auf einen Pfahl gespießt und ein erklärendes Schild angebracht. Auf dem stand: „Refugees not welcome“. Warum immer das Schwein? Weiterlesen

Völkische Probebühne. Dresden und der Tag der deutschen Einheit

Schon wieder Dresden, immer wieder Dresden. Kaum eine andere Großstadt Deutschlands besitzt eine derart starke, strahlende und geschichtsgetränkte Aura wie Dresden. Es gilt aber auch: Keine andere Großstadt Deutschlands ist so sehr zum Tummelplatz von Demokratieverächtern und -feinden geworden wie eben Dresden. Zahlenmäßig werden es so viele gar nicht sein. Beunruhigend ist aber, dass die Stadt, ihre Bürger und ihre Autoritäten seit Jahr’ und Tag nicht fähig, vielleicht auch nicht recht willens sind, diesen Mummenschanz zu bannen. Dresden ist die größte deutsche Stadtlandschaft und Arena, in der das Einreißen von Grenzen des Anstands und des demokratisch Erlaubten derart hartnäckig, lustvoll und furcht- wie folgenlos geprobt werden kann. Der aus Dresden stammende Erich Kästner schrieb 1957 rückblickend: „Dresden war eine wunderbare Stadt. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang. Eigentlich müsste es heißen: im Zweiklang.“ Allem Bemühen zum Trotz, das alte „Elbflorenz“ als Bürger- und Kunststadt wiederherzustellen – diese Zeiten sind vorerst zumindest vorbei. Dresden ist zur Probebühne und zum Exerzierplatz sprachlicher Entgleisungen und völkischer Tabubrüche geworden. Weiterlesen

Solitär des Barock. Zum 400. Geburtstag von Andreas Gryphius

Er hat poetische Zeilen geschrieben, die noch heute mehr als beeindrucken. Durch ihre Kraft, ihre Wucht, durch ihre wetterleuchtende Eindringlichkeit und ihr Stakkato. Die Zeilen scheuchen auf, sie sind – eine Seltenheit in der Poesie – laut. Und von einer seltsamen Eindringlichkeit oft auch dort, wo sie still daherkommen. Andreas Gryphius war der vielleicht bedeutendste Dichter des deutschen Barock.

Eines seiner bekanntesten Gedichte heißt „Tränen des Vaterlandes“ und stammt aus dem Jahr 1636. Der Dichter ist 20 Jahre alt, seit seinem zweiten Lebensjahr tobte der am Ende 30 Jahre währende Krieg, in dem es um Glauben und weltliche Macht ging. Das Sonett beginnt mit düsterer Wucht: „Wir sint doch nuhmer gantz / ja mehr den gantz verheret!“ Das Gedicht ist eine einzige Trauerklage über die nicht enden wollende Kette von Gewalt und Grausamkeiten, die der Krieg über Deutschland gebracht hat. Und doch ist auch hier – neben dem Pathos der Verzweiflung – eine eigentümliche Faszination angesichts der Unordnung, angesichts der umgestürzten Verhältnisse zu spüren. „Die türme stehn in glutt / die Kirch ist vmbgekehret. / Das Rathaus ligt im graus / die starken sind zerhawn“: man meint, einem Vorfahren des expressionistischen Lyrikers Jakob van Hoddis zuzuhören. Der schrieb 1911 in seinem Gedicht „Weltende“: „Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. / Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.“

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Andreas Gryphius (1616-1664)

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Europa in Vorurteilen. Warum Klischees so zählebig sind

Die Menschen zählen, nicht die Völker. Mühsam und nur ganz allmählich haben wir es gelernt, von Völkerstereotypen abzusehen. Wir nehmen nicht mehr die Italiener oder die Polen wahr. Wir nehmen die einzelne Italienerin und den einzelnen Polen wahr. Menschen, hoffen und glauben wir, haben über Staatsgrenzen hinweg mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Wir lehnen es aus guten Gründen ab, Völkern Kollektiveigenschaften zuzuschreiben. Denn die Völkerpsychologie hat eine trübe Geschichte. Sie hat geholfen, dem Rassismus den Boden zu bereiten. Sie hat Klischees geschaffen und verfestigt. Diese liefen immer darauf hinaus, das eigene Volk zu Ungunsten anderer Völker mit besseren Eigenschaften auszustatten. Die Anderen waren stets von minderem Wert, minderem Charakter, geringerer Intelligenz und schlechteren Fähigkeiten.

Ein vergleichsweise frühes Beispiel für dieses verquere Herabsetzen der Anderen ist die sogenannte Steirische Völkertafel. Sie entstand im frühen 18. Jahrhundert, vermutlich zwischen 1718 und 1726. Es gibt heute noch sechs Exemplare dieser Völkertafel, eine davon befindet sich im Kammerhofmuseum im österreichischen Bad Aussee. Das Gemälde (104 x 126 cm) enthält eine Zusammenstellung europäischer Völker mit tabellarisch geordneten Zuschreibungen verschiedener Eigenschaften – wie etwa Sitten, Kleidung, Krankheiten, religiöse Praxis oder Kriegstugenden. Über der Tabelle sind die verschiedenen Nationalcharaktere in ihrer jeweiligen Landestracht abgebildet. Der österreichische Germanist Franz K. Stanzel hat nach seiner Emeritierung der Steirischen Völkertafeln und verwandten Tafeln zwei außerordentlich materialreiche Bücher gewidmet, die die Vor- und Nachgeschichte der dort festgehaltenen Stereotypen gründlich aufdeckt. Die folgende Darstellung schöpft aus diesen Büchern, deren genaue Angaben am Ende dieses Textes stehen.

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Die Steirische Völkertafel

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Über Grenzen

Eigentlich ist in Deutschland die Erregungstemperatur merklich gesunken. Man konnte das vor knapp zwei Jahren daran erkennen, dass die AfD, die damals nur das in der Tat strittige Thema Europa hatte, kurz vor dem politischen Exitus stand. Wären ihr nicht, einem Himmelsgeschenk gleich, die Flüchtlinge zu Hilfe gekommen. Denn diesem Thema wohnt offensichtlich noch immer eine vulkanische Kraft inne. Warum besteht die Gefahr, dass Deutschland in der Flüchtlingsfrage die Façon verliert?

Ein Weg, auf diffuse Ängste angesichts der Flüchtlingsfrage zu antworten, besteht in restriktiver Politik. Das Zauberwort lautet: Obergrenze. Wer sie zu bestimmen und durchzusetzen weiß, ist – so die Suggestion – Herr des Verfahrens. Aus Politik wird so Mechanik – nicht zufällig stammt der Begriff ursprünglich aus der Mathematik. Die Gesellschaft erscheint hier als Gefäß, als Eimer, als Becher. Bis zum Eichstrich hin darf Einwanderung sein, danach ist kategorisch Schluss. Das suggeriert Sicherheit: Wir schaffen das. Man könnte dieses Verfahren Reduktion von Komplexität nennen.

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