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Fetozid „Beim Spätabbruch zählt nur die Gesundheit der Frau“

Von Julia Maria Grass | Stand: 26.09.2016 | Lesedauer: 7 Minuten
24 Wochen
Quelle: Neue Visionen
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24 Wochen ist Julia Jentsch schwanger, als sie erfährt, dass das Kind in ihrem Leib vermutlich behindert geboren werden wird. Nun muss sie über dessen Zukunft entscheiden.

Quelle: Neue Visionen

Etwa 600 Spätabtreibungen gibt es in Deutschland jährlich. Der Gynäkologe Holger Stepan wird regelmäßig mit dem Thema Fetozid konfrontiert. Er fordert mehr Respekt und Hilfe für betroffene Frauen.
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Im Film „24 Wochen“, der seit Donnerstag in den Kinos läuft, spielen Julia Jentsch und Bjarne Mädel ein Paar, bei dessen ungeborenem Kind eine schwere Behinderung diagnostiziert wird. Sie müssen sich entscheiden, ob sie das Ungeborene in der 24. Schwangerschaftswoche noch abtreiben lassen wollen. Weil ungeborene Kinder etwa nach der 22. bis 24. Woche bereits als lebensfähig gelten, wird dem Fötus vor der Spätabtreibung durch die Bauchdecke der Mutter eine Kaliumchlorid-Spritze verabreicht, sodass er noch im Mutterleib stirbt.

Holger Stepan wirkte in dem Kinofilm mit und ist als Leiter der Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Leipzig auch im realen Leben immer wieder mit der Thematik um den sogenannten Fetozid konfrontiert.

Die Welt: Alle Ärzte, die im Film „24 Wochen“ mitspielen, sind auch im realen Leben Ärzte. Stellt der Film das Thema realistisch dar?

Holger Stepan: Ich war anfangs sehr skeptisch, dachte mir – ein Film zu diesem Thema kann ja nur am Thema vorbei und melodramatisch werden. Aber die Schauspieler haben mich begeistert. Bjarne Mädel und Julia Jentsch bilden genau das ab, was wir in der Klinik erleben. Man muss diesen Film nicht mögen, aber ja, er ist schonungslos realistisch.

Die Welt: Wie viele Spätabbrüche gibt es in Deutschland?

Stepan: Das Statistische Jahrbuch spricht von etwa 3800 Abbrüchen aus medizinischer Indikation pro Jahr, davon sind über 600 nach der 22. Woche. Aber die Frage danach wird deutlich häufiger gestellt, als der Abbruch dann tatsächlich durchgeführt wird. Die Pränatalmedizin ist viel häufiger in der Situation, nach entsprechender Beratung Abbrüche zu vermeiden.

Die Welt: Aus welchen Gründen entscheiden sich Paare für einen Spätabbruch?

Stepan: Da gibt es zum einen sogenannte infauste Diagnosen. Da ist das Kind so schwer krank, dass es unmittelbar nach der Geburt oder nach kurzer Zeit sterben würde. Das ist von diesen schweren Fällen noch der einfachere, denn die Aussichtslosigkeit ist klar.

Es gibt aber auch Fälle, bei denen das Kind beispielsweise eine schwere Behinderung hat, welche die Lebensqualität enorm einschränkt. Hier wird es schwierig – denn wer darf die angenommene Lebensqualität des Kindes überhaupt einschätzen?

Prof. Dr. med. Holger Stepan Leiter der Abteilung für Geburtsmedizin Universitätsklinikum Leipzig

Holger Stepan ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Seit 2007 leitet er die Abteilung Geburtsmedizin am Uniklinikum Leipzig

Holger Stepan ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Seit 2007 leitet er die Abteilung Geburtsmedizin am Uniklinikum Leipzig

Quelle: Universitätsklinikum Leipzig

Die Welt: Wie läuft der Entscheidungsprozess ab?

Stepan: Die Entscheidung darf – das ist ganz wichtig – nicht an der Schwere der Erkrankung des Kindes festgemacht werden. Der Arzt darf nicht sagen: „Diese Fehlbildung ist so schwer, da ist ein Abbruch gerechtfertigt, bei einer anderen aber nicht.“

Gerade diese Graduierung ist in Deutschland aus gutem Grund verboten. Ein Spätabbruch wird dann gemacht, wenn die Frau sagt, dass sie aufgrund der ihr vermittelten Diagnose in einer solchen psychosozialen Notsituation ist, dass sie auf keinen Fall die Schwangerschaft fortsetzen kann.

Die Welt: Betreut der Arzt, der den Abbruch durchführt, die Patientin vorher und nachher?

Stepan: Es gibt nicht den einen Arzt, der den Abbruch durchführt, das klingt immer, als suche man nach dem einen „vollstreckenden“ Mediziner. Ein solcher Schwangerschaftsabbruch ist komplex, die Frau hat dabei mit einem ganzen Team an medizinischem Fachpersonal zu tun. Dazu gehören der Geburtsmediziner, aber auch ein Narkosearzt, eine Hebamme, ein Psychologe, Krankenschwestern. Die Last und der Prozess, die Schwangerschaft zu beenden, liegen auf alle Schultern verteilt.

Die Welt: Es gibt viele Ärzte, die Spätabbrüche verweigern. Warum führen Sie diese Eingriffe durch?

Stepan: Was wäre die Konsequenz, wenn alle Kollegen in Deutschland sich dem verweigern würden? Dann müssten diese Paare ins Ausland ausweichen, oder Abbrüche würden unter medizinisch inakzeptablen Bedingungen durchgeführt. Ein Paar, das sich entschlossen hat, einen Spätabbruch vorzunehmen, zieht das durch. Die Frage ist nur – wo und unter welchen Bedingungen?

Die Welt: Was wären denn die besten Bedingungen?

Stepan: Es sollte in Deutschland große Zentren geben mit gut ausgebildeten Teams, die diesen Frauen helfen. Medizinische und menschliche Kompetenz sind gefragt, eben Leute, die dafür geschult und geeignet sind, den Prozess regelmäßig erleben. Das kann auch kein kleines Krankenhaus leisten, das vielleicht ein Mal im Jahr damit konfrontiert wird.

Die Welt: Ab der 24. Woche gelten ungeborene Kinder als überlebensfähig, werden deshalb vor der Abtreibung durch eine Spritze ins Herz getötet. Einige Ärzte führen den sogenannten Fetozid aber auch schon vor der 24. Woche durch.

Stepan: Die 24. Woche ist als Grenze nicht gesetzlich festgelegt. Es kann geschehen, dass Kinder schon in der 22. oder 23. Woche abgetrieben werden, aber dann doch mit Lebenszeichen zur Welt kommen. Sobald das geschieht, ist man medizinisch verpflichtet, dieses Kind zu versorgen. Um dieses Dilemma zu vermeiden, führen Ärzte den Fetozid manchmal schon ab der 22. Woche durch. Das ist auch von der Erkrankung des Kindes abhängig.

Die Welt: Danach muss die Schwangere das tote Kind gebären. Wieso macht man keinen Kaiserschnitt?

Stepan: Weil der Kaiserschnitt eine potenzielle Gefährdung beziehungsweise Verletzung für die Frau bedeutet. Das ist eine Operation mit allen Risiken. Bei einem Spätabbruch wird das Kind aufgegeben. Dann zählt es nur noch, die Gesundheit der Frau um jeden Preis zu schützen.

Die Welt: Ein totes Kind zu gebären ist ein furchtbarer Gedanke.

Stepan: Viele Frauen sind zunächst schockiert davon, ja, auf den ersten Blick ist es psychologisch einfacher, das Problem schnell mit einem Kaiserschnitt zu lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Es kann helfen, wenn die Frau das Ende ihrer Schwangerschaft miterlebt, das Kind im Arm halten, sich verabschieden kann.

Die Welt: Gibt es Fälle, in denen die Diagnose sich im Nachhinein als falsch herausstellt?

Stepan: ... und man nach der Abtreibung sieht, das Kind war doch gesund? Nein! Das wäre ja furchtbar! Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem das passiert ist. Solche Diagnosen werden mehrmals gegengecheckt. Ein Spätabbruch wird nur durchgeführt, wenn die Diagnose absolut sicher ist.

Die Welt: Ein Spätabbruch ist für das Paar enorm belastend. Wie geht es dem medizinischen Team?

Stepan: Auch das medizinische Personal bräuchte mehr psychologische Begleitung und Support. Da ist in Deutschland echt Luft nach oben. Mein Plädoyer ist: Vorsicht mit moralischen Wertungen den Frauen und Paaren gegenüber, aber auch dem medizinischen Team gegenüber, das sich in dieser Situation nicht wegdrückt, sondern den Frauen in einer absoluten Not- und Ausnahmesituation hilft.

Die Welt: Niemand redet gern über Spätabtreibungen.

Stepan: Nein, aber über Pränataldiagnostik wiederum schon. Dabei ist ein Spätabbruch eine mögliche, wenn auch seltene Konsequenz der zunehmenden Untersuchungen des Embryos. Und einen großen Teil der Spätabtreibungen könnte man sogar verhindern, wenn die frühe Pränataldiagnostik verbessert würde.

Die Welt: Was halten Sie für sinnvoll?

Stepan: Medizinisch ist es schon sehr früh, in der zwölften Woche beispielsweise, möglich, ganz viel zu erkennen, wenn man eine hochprofessionelle Diagnostik macht. Vorausgesetzt natürlich, dies ist von der Schwangeren auch erwünscht. Wenn die Diagnostik nicht auf diesem Niveau ist, werden möglicherweise schwere Fehlbildungen übersehen und erst später erkannt. Auch das spricht in meinen Augen für die Einrichtung spezialisierter Zentren.

Die Welt: Müsste das Thema stärker in der Öffentlichkeit diskutiert werden?

Stepan: Ja! Das ist auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit. In Deutschland werden knapp 100.000 gesunde Kinder abgetrieben, weil die Frau sagt, sie möchte das Kind nicht. Wenn man über Abtreibungen diskutieren will, dann vielleicht zunächst darüber.

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Denn daneben stehen weniger als 4000 späte Abbrüche, die durchgeführt werden, weil das Kind schwer krank ist und die Schwangere sich in einer verzweifelten Situation befindet. In Deutschland wird Pränataldiagnostik gemacht. Dadurch finden wir nun mal auch Kinder, die nicht lebensfähig sind.

Wenn man den Spätabbruch pauschal moralisch ächtet, unterstellt man den betroffenen Frauen auch, sie hätten es sich zu einfach gemacht. Aber es gibt Situationen, die man nicht lösen kann. Frauen, die diesen schweren Weg gehen, verdienen Respekt und Hilfe.

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