Edward Snowden hat den Nobelpreis bekommen, zwar nur den alternativen, aber immerhin. In der Begründung heißt es, dass er „den Bewohnern dieses Planeten einen riesigen Dienst erwiesen hat“. Nun gehen die Meinungen ja weit auseinander, wie Snowden einzuschätzen ist. Für die einen ist er ein Held, weil er auf das Ausmaß der Überwachung neuer Medien aufmerksam machte, für andere ist er schlicht ein Verräter, dem beispielsweise islamistische Terrororganisationen verdanken, mittlerweile schwerer überwachbar zu sein.
Was allerdings an der Realität völlig vorbei geht, ist die Superlative, dass Snowdens Enthüllungen für die „Bewohner dieses Planeten“ eine solche Bedeutung hätten. Dem ist leider nicht so. Deswegen leider, weil die meisten „Bewohner dieses Planeten“ andere Probleme haben, als US-Geheimdienste, die ihre privaten E-Mails mitlesen könnten. Hunger ist nach wie vor eine Geißel der Menschheit, Analphabetismus und damit zusammenhängend fehlende Bildung ebenfalls. Einer Mehrheit der „Bewohner dieser Erde“ werden wesentliche Menschenrechte vorenthalten. Sei es das Wahlrecht, die Meinungsfreiheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Religionsfreiheit oder sexuelle Selbstbestimmung. Die Wahrscheinlichkeit, als Mensch an einer freien Wahl teilzunehmen, ist dramatisch geringer als die, Statist in einer Wahlfarce zu werden.
Wir haben KZs wie Nordkorea, die sich als Staat verkleiden und mit dem Islamischen Staat ein Gebilde, das ein einziger Amoklauf gegen Zivilisation und Humanität ist. Eine der häufigsten Todesursachen ist Durchfall, was man im Westen deswegen schnell vergisst, weil 100 Prozent der Opfer (von denen wiederum bis zu 80 Prozent Kinder sind) in Entwicklungsländern leben. Es ist für die meisten Menschen auf der Welt tatsächlich kein vorrangiges Problem, was die NSA treibt.
Dass bedeutet nicht, dass die Enthüllungen von Snowden keine Brisanz haben. Sie haben zu Recht eine Debatte über die Aktivitäten von Geheimdiensten (es ist sicher ein amerikafreundlicher Zufall, dass sich die Empörung ausschließlich auf die NSA reduziert, obwohl es noch andere Geheimdienste mit ähnlichen Spähprogrammen gibt. Um die wurde es aber schnell wieder ruhig) angestoßen. Aber wer Snowden mit so einer Begründung einen Preis verleiht, zeigt damit einen erstaunlich ignoranten Blick auf die Welt. Die meisten Menschen wären froh, wenn jemand für eine funktionierende Kanalisation sorgt, für eine zuverlässige Mülllabfuhr und regelmäßige Stromversorgung. Dann erst hätten sie Zeit, sich für Snowdens Enthüllungen zu interessieren.
Sich durch die NSA überwacht und dadurch auch bedroht zu fühlen, beschäftigt aktuell vor allem die Bürger in Industrienationen. Die anderen Menschen würden einfach nur gerne mal wieder satt werden, nicht an einer Erkältung sterben oder haben es mit Überwachung ganz anderer Art zu tun. Es ist schließlich nicht so, als ob Regenten, Diktatoren und Autokraten auf die NSA hätten warten müssen. Sie haben es in der Geschichte hinbekommen, mit den primitivsten Mitteln die effektivsten Systeme zu entwickeln, um Menschen auszuspionieren, auszusortieren und wenn nötig, zu vernichten. Bedrohungen, die kein Nutzer von Gmail, WhatsApp oder Facebook fürchten muss, solange er in einer liberalen Demokratie lebt. NSA hin oder her.
Snwodens Enthüllungen zeigen, wie weit entwickelt die Möglichkeiten sind, im Netz zu spionieren (und nebenbei auch, dass die Geheimdienste mit der schieren Masse an Daten noch völlig überfordert sind). Man kann sie aber auch zum Anlass nehmen, um auf den Graben hinzuweisen, der die iPhone-Nutzerwelt der Industrienationen von der iPhone-Bauerwelt der Entwicklungsländer trennt. Zum Beispiel im Rahmen einer solchen Preisverleihung. Stattdessen aber davon zu sprechen, wie dankbar die Menschheit Snowden sein sollte, zeigt eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber der Lebenswirklichkeit der meisten „Bewohner dieses Planeten“. Wer sich vor der NSA fürchtet, führt ein gutes Leben.
Gideon Böss ist Autor von Die Nachhaltigen