Jetzt weiß ich also, wie ich einem Delfin Erste Hilfe leisten muss: unbedingt das Tier feucht halten und, ganz wichtig, das Atemloch nicht mit einem Handtuch zudecken! Zwar wohne ich in Berlin und in der Spree gibt es keine Flussdelfine, aber vielleicht kann ich mit diesem Wissen ja trotzdem eines Tages einen Tümmmler retten. Im Vergleich zu einem Delfin-Unfall in der Spree (und wirklich nur im Vergleich dazu!), ist es hingegen recht wahrscheinlich, dass plötzlich mehrere Gorillamännchen an der Türe klingeln und übernachten wollen. Auch da wüsste ich jetzt, was zu tun ist: jedem ein Einzelzimmer anbieten und klassische Musik auflegen. Männliche Gorillas sind nämlich Einzelgänger, die durch klassische Musik beruhigt werden. Und wenn ich mit einem Königspinguin in der Nacht an der Bar sitzen würde, könnten wir darüber reden, dass er ja einen Gutteil des Jahres auf dem offenen Meer verbringt. Und wir würden auf ewige Freundschaft anstoßen, bevor wir uns über das Thema Delfine auf ewig zerstreiten würden, die für ihn nichts weiter sind als erbarmungslose Killer.
Dass ich das alles weiß, liegt am Loro Park in Teneriffa. Der hat mich im Rahmen einer Journalistenreise eingeladen, „hinter die Kulissen“ zu schauen und mich somit für mehrere Tage aus dem erkältungsfördernden Sommer in Deutschland auf die Kanarischen Inseln gelotst. Vier Stunden im Touristenflieger und schon war ich am Ziel meines ersten Einsatzes als embedded journalist. Nur dass es nicht in ein echtes Kriegsgebiet ging, sondern zu Käfigen mit Papageien, zu Gehegen mit Alligatoren und zu Glasscheiben, hinter denen Haie lauern und vor denen Schilder warnen „Nicht mit Blitz fotografieren!“.
Der Loro Park ist nicht irgendeine Attraktion auf der Insel, der Loro Park ist der größte Arbeitgeber, der hier so allgegenwärtig ist wie in München der FC Bayern. Plakate machen schon am Flughafen auf den Zoo aufmerksam und Werbung auf Bussen und auf Taxis und auf Hauswänden. Wenn man ihn zum ersten Mal betritt, liegt eine jurassicparkhafte Spannung in der Luft. Der Eingangsbereich ist fernöstlich gehalten, alles ist gepflegt und ordentlich und folgt offenbar dem Motto: lieber etwas zu sauber, als ein bisschen dreckig. Genau deswegen würde jetzt das Brüllen eines T-Rex weniger überraschen, als es das eigentlich tun sollte. Der Loro Park ist vergleichsweise klein, wenn man die Zoos in Deutschland gewohnt ist. Fast alles ist innerhalb weniger Minuten zu erreichen, wobei sich die Anlage aber auch an einen Hügel anschmiegt und so auf mehrere „Stufen“ seine Tiere zeigen kann. Obwohl es hier auch Vieles anderes zu sehen gibt, hat mein Aufenthalt doch vor allem mit den Delfinen und Orcas zu tun, denn die stehen im Mittelpunkt einer nun schon seit Jahren laufenden Kampagne von Peta und anderen radikalen Tierschützern bzw -rechtlern.
Darum sitzen wir bald schon im Halbrund des Delfinariums, das an ein antikes Theater erinnert, nur dass hier die Bühne ein Wasserbecken ist. Künstliche Felsen und eine ebenso künstliche Landzunge vervollständigen das Bild, zu dem auch der chronisch blaue Himmel über Teneriffa gehört. Es ist voll hier, die Besucher standen schon lange vor Beginn der Show an, um einen der Plätze zu bekommen. Und dann geht es los. Mehrere Delfine tauchen durch das Becken und unter dem Jubel der Zuschauer zeigen sie direkt einen Salto, bevor sie wieder ins Wasser eintauchen. Die Show ist kurzweilig und mit Musik unterlegt. Ein Trainer lässt sich von zwei Tieren durch das Becken ziehen, andere Delfine winken dem Publikum mit der Flosse zu und wieder ein anderer schiebt ein kleines Kind im Schlauchboot umher. Das Publikum klatscht und applaudiert, doch kaum ist das letzte Delfinkunststück getan, leert sich das Rund erstaunlich schnell.
„Das ist wegen der Orcas!“, wird mir gesagt. Die Orca-Show findet relativ bald nach der Delfin-Show statt und weil die noch beliebter ist, versuchen die Leute, auch dort noch einen Platz zu ergattern. Auch unsere nächste Station sind die Wale, aber erst einmal gibt es einen Besuch im Backstagebereich der Delfine. Sie schwimmen nach dem Auftritt durch einen Tunnel hinter das Delfinarium, wo es weitere Becken gibt. Wir stehen neben diesen Becken, in denen die Delfine gerade von einem Trainer gefüttert werden und mehr passiert hier hinten jetzt auch nicht. Also ziehen wir weiter, während die Delfine uns mit ihrem unverbindlichen Hochzeitsschwindlerlächeln verabschieden.
Auch die Orca-Arena OrcaOcean ist voll besetzt. Die Zuschauer in den ersten Reihen tragen Regenjacken, weil die Tiere gerne Wasser über den Beckenrand spritzen. Ich sitze nun neben dem Chef des Zoos, Wolfgang Kiessling, einem bald Achtzigjährigen, der den Park 1972 gründete. Er deutete auf das Wasser und erklärt dann, „wir pumpen das direkt aus dem Atlantik hier herein! Das ist frisches Meerwasser.“
Und dann geht es auch schon los. Die Orcas sind auch Delfine, aber eben in einer XXL-Ausführung. In den USA sind sie übrigens unter einem weniger harmlosen Namen bekannt. Dort heißen sie Killerwale. Während bei der Delfinshow die Stimmung vor allem ausgelassen und fröhlich war, ist sie hier doch deutlich anders. Die Orcas sind gewaltige Tiere, die zwar auch Kunststücke vorführen, aber trotzdem in jeder Situation gewaltige Tiere bleiben. Der Respekt vor der Kraft, die da durchs Becken rauscht, ist spürbar. Während im Delfinarium alle Eltern ihrem Nachwuchs gerne die Fahrt im Schlauchboot ermöglich hätten, würden in der Orca-Arena nur solche ihre Kinder hineinsetzen, die ohnehin schon vom Jugendamt angezählt sind. Aber das ist alles graue Theorie, denn kein Mensch geht zu den Orcas ins Wasser. Das ist verboten, seitdem im Jahre 2010 in Sea World in Orlando eine Trainerin von einem Orca getötet wurde. Ob es sich um einen gezielten Angriff handelte oder das Tier seine Trainerin unabsichtlich tötete, ist umstritten und längst Teil einer Propagandaschlacht, die sich radikale Zoogegner und Orca-Halter wie der Loro Park und Sea World miteinander liefern.
Die Wale drehen ihre Runden, die Trainer stehen am Beckenrand, kommunizieren über Pfeifen mit den Tieren und animieren zugleich das Publikum. Und da taucht auch schon eine Flosse auf und mit einem kräftigen Stoß spritzt sie eine Fontäne frischem Atlantikwassers auf die regenjackenfesten Zuschauer. Nebenbei werden auch Informationen über das Leben der Orcas in freier Wildbahn mitgeteilt und generell gemahnt, dass wir Menschen besser auf diese Welt und ihre Artenvielfalt aufpassen müssen. Aber bevor man lange über die menschgemachten Verwüstungen der Erde nachdenken kann, wuchtet sich schon wieder eines der Tiere in die Luft, dreht sich und platscht ins Wasser zurück. Ein Orca taucht jetzt auf und rutscht auf das künstliche Ufer, wo er liegenbleibt und darauf wartet, mit seinem Trainer ein paar Kunststücke zu zeigen. Orcas sind zwar schwere Tiere, aber trotzdem noch nicht so schwer, als dass sie sich selbst unter ihrem Gewicht erdrücken würden. Nun reagiert der Orca auf jede Bewegung des Trainers, nickt mit dem Kopf, winkt mit den Flossen, öffnet das Maul und streckt die Zunge raus. Das Publikum lacht, doch Kiessling meint dazu, „dieses Kunststück mag ich nicht, das ist albern.“
Nach dem Ende der Show verlassen die Zuschauer langsam das Rund. Es besteht kein Anlass zur Eile, die Vorführungen sind beendet, niemand muss zur nächsten Show hetzen. „Können die alle falsch liegen?“, fragt Kiessling rhetorisch und mit Blick auf die begeisterten Zuschauer. Begeisterte Zuschauer gibt es aber auch beim Stierkampf und gab es im Kolosseum, wenn Menschen sich gegenseitig töteten. Begeisterung ist moralisch neutral.
Weil die Orca-Haltung im Mittelpunkt der Kritik steht, steht sie auch im Mittelpunkt der Reise in den Loro Park. Darum geht es am zweiten Tag direkt zurück nach OrcaOcean, wo die Trainer und Ärzte zeigten, wie sie mit den Tieren arbeiten. Auch die verschiedenen Bereiche des Areals werden erläutert. Im Grunde handelt es sich um ein Beckensystem, wobei die verschiedenen Bereiche durch Tore voneinander getrennt werden können. Etwa wenn die Weibchen von den Männchen separiert werden müssen. Für umfangreichere Untersuchungen oder die Behandlung von Verletzungen, kommen die Tiere in ein „Trockendock“, also ein Becken, dessen Boden bis hinauf zur Wasseroberfläche fahren kann. Dort können sich die Ärzte dann intensiv um das Tier kümmern.
Bei diesem Rundgang wird mir auch gezeigt, welcher der Wale der umstrittene Orcar Morgan ist. Umstritten deswegen, weil ihn die Gegner der Shows zu ihrer Galionsfigur gemacht haben. Morgan stammt aus dem Ozean (die meisten heutigen Orcas in Zoos sind schon dort geboren) und soll auch dorthin zurück, fordern sie. Das Problem ist nur, dass Morgan schwerhörig ist und darum in freier Wildbahn nicht überlebensfähig. Als er 2010 im niederländischen Wattenmeer gefunden wurde, war er fast verhungert. Er wurde vor Ort versorgt und untersucht, wobei unabhängige Experten ihm aufgrund seiner Behinderung keine Überlebenschance im Meer gaben. Die niederländische Regierung entschied daraufhin, dass er in die Obhut des Loro Parks überstellt werden soll, weil dort die Infrastruktur und die Erfahrung im Umgang mit solchen Tieren vorhanden sei. Es ist erstaunlich, dass diese Fakten über die schwere Behinderung des Tieres seine „Unterstützer“ nicht irritieren. Sie fordern immer noch, dass Morgan zurück ins Meer soll. Auch für so manches Mensch-Tier-Verhältnis gilt offenbar: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.“
Ob Orcars sich in einem Zoo wie dem Loro Park nun wohl oder unwohl fühlen, weiß ich nicht. Im Grunde ist das ja auch der eine große Graben, der uns von der Tierwelt trennt, dass uns niemand „von der anderen Seite“ aus verbindlich bestätigen kann, ob er zufrieden ist oder nicht. Von daher können wir nicht mehr machen, als möglichst vielen Daten und Fakten zu sammeln, um auf diesen aufbauend die Tiere immer besser zu verstehen und ihnen dadurch eine möglichst artgerechte Umgebung anzubieten.
So, und was nehme ich sonst noch aus meinem embedded Wochenende mit? Dass moderne Zoos, wie der in Teneriffa, längst auch eine wichtige Rolle beim Schutz für die Tierwelt spielen. Der Loro Park verfügt zum Beispiel über die größte Aufzuchtstation für Papageien weltweit und hat für die Stabilisierung mehrere stark gefährdeter Arten gesorgt (für die Papageien-Nerds: u.a. Blaue Aras, Gelbohrsittiche, Rotsteißkakadu und Blaulatzara) und gibt insgesamt jährlich knapp eine Millionen Dollar für Projekte zur Rettung bedrohter Tiere aus. Vor allem aber sind Zoos ja so etwas wie die Arche Noah der Neuzeit. Man bekommt hier eine kleine Ahnung davon, was die Tierwelt unseres Planeten so alles zu bieten hat. Und vor allem: was wir zu verlieren drohen, wenn wir nicht aufpassen.
Der Besuch im Loro Park zeigte aber auch, dass die Orcas längst nicht die größte Attraktion des Zoos sind, die ist eindeutig Kiessling selbst. Mehrmals schoben sich während unseres Rundgangs resolute Damen in unsere Gruppe, um Fotos vom Gründer zu machen. Eigentlich sollte nicht nur vor den Aquarien, sondern auch auf seinem T-Shirt stehen: „Nicht mit Blitz fotografieren!“.
Von Gideon Böss erschien zuletzt das Sachbuch: „Deutschland, deine Götter – Eine Reise zu Tempeln, Kirchen, Hexenhäusern“